63 | Zerbrechliche Zukunft - Part I
Heute ist ein perfekter Tag. Die Sonne strahlt auf das Meer hinab und bricht sich glitzernd auf den Wellenkronen. Erste Vogelschwärme ziehen über den wolkenlosen Himmel, kleine Einsiedlerkrebse huschen zu meinen Füßen durch den Sand und der Wind trägt das Versprechen von Frühling mit sich. Vor lauter Glück könnte ich die ganze Welt umarmen.
Warum eigentlich nicht? Ich bin schließlich alleine! Lachend reiße ich die Arme empor, als die eiskalte Brandung meine Zehen streift. Ein Schauer jagt mir den Rücken hinab und ich drehe das Gesicht zur Sonne, um es zum Ausgleich von ihren Strahlen kitzeln zu lassen.
So lebendig habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. In diesem Augenblick scheint der ganze Winter nur ein weit entfernter, böser Traum zu sein. Dabei hat er kaum geendet. Doch von der Bucht auf Emerald Isle aus kann man die Schäden am Hafen nicht erkennen, genauso wenig wie die Galgen, die Toten oder die neuen Patrouillen der Friedenswächter. Alles, was sich vor mir erstreckt, ist das endlose Meer – und ganz in der Ferne die Grenztürme.
Ich muss mich schon anstrengen und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, welcher von ihnen es ist, auf dem vor drei Tagen ein Sprengsatz explodiert ist. Das Kapitol hat in Rekordzeit aufgeräumt, sodass nur noch die geschwärzte Außenwand von dem Anschlag zeugt. Dieses Mal konnten sie niemanden hängen, denn das explosive Gemisch hat auch den Täter das Leben gekostet. Heißt es zumindest.
Mit mir redet Finnick nur zögerlich über diese Dinge, als habe er Angst vor der Wirkung der Worte. Aber ich habe öfter mitbekommen, wie er und Amber sich ausgetauscht haben. Überhaupt reden sie ziemlich häufig miteinander, wenn sie denken, dass ich schlafe oder beschäftigt bin. Erst neulich habe ich die Beete für das Frühjahr vorbereitet, während die beiden in gedrückter Stimme über irgendeinen Rob und dessen Zorn geredet haben.
Ich weiß, dass es an der Zeit wäre, mir Sorgen zu machen. Seit Anfang des Jahres hat Finnick mich so oft wie nie zuvor mit nach Emerald Isle genommen. Eigentlich haben wir immer den April abgewartet, bevor er sich an die Überquerung der Meerenge getraut hat. Doch all diese Grenzen und Regeln existieren nicht länger. Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass ich die Zehen in den weichen Sand bohre, bis ich meine Füße in dem eiskalten Meerwasser nicht mehr spüre.
Nichts ist in Ordnung, aber wenn ich hier stehe, kommt es mir so vor. Mit dem Wind im Haar fliegen die Sorgen einfach davon. Lieber sammle ich Muscheln, anstatt über das nachzudenken, was ich – noch dazu alleine – nicht ändern kann. Immerhin verfolge ich ein ehrgeiziges Großprojekt: Aus mehreren alten Netzen, Ästen, Schnüren und unzähligen Muschelschalen knüpfe ich ein großes Mobile, von dessen Verästelungen später Nachbildungen lokaler Fabelwesen wie Meerjungfrauen und echten Meereslebewesen hängen sollen.
Jeden Abend, wenn ich mit Finnick zusammensitze, arbeite ich daran. Er liest mir aus den alten Büchern vor, im Kamin knistert ein Feuer und ich bastle kleine Figuren. Egal was draußen passiert, das sind die Momente, die ich für immer in meiner Seele bewahren möchte. Manchmal kann ich sogar fast glauben, dass wir eine ganz normale Familie sind.
Hin und wieder ertappe ich mich gar bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir ein Kind hätten. Meist sind es nur wenige Sekunden, in denen ich einen Knoten zurechtziehe – und plötzlich taucht das Bild auf, wie eines Tages ein winziges Baby unter dem Mobile liegt und lachend die Fäustchen danach ausstreckt. Die Vorstellung durchzuckt mich wie eine statische Entladung – zu schnell fort, um sie zu begreifen, und was bleibt, ist ein eigenartiges Kribbeln im ganzen Körper.
Früher, vor den Hungerspielen, habe ich auch das ein oder andere Mal über Kinder – meine Kinder – nachgedacht. Natürlich, denn es schien so klar wie das Wasser in den Lagunen hier auf Emerald Isle, dass ich eines Tages David, meinen besten Freund, heiraten würde. Und wenn Mann und Frau in Distrikt Vier sich trauen lassen, bekommen sie Nachwuchs. Dafür sorgt das Kapitol schon.
Nur wer mindestens zwei eheliche Kinder hat, erhält beispielsweise die Genehmigung für Hochseefischerei oder darf ein eigenes Boot mit Angestellten unterhalten. Erbt man den Betrieb der Eltern, verfallen diese Rechte nach vier Jahren, sofern man die Auflagen des Kapitols nicht erfüllt. Wer keine Kinder bekommt, dem bleibt nur die Arbeit in schlechtbezahlten Fabriken oder bei den Tuchmachern.
Also habe ich selbstverständlich an die Zukunft gedacht und mir Namen für die zwei Kinder überlegt, an denen kein Weg vorbeigehen würde. Und manchmal, bei der Wiederholung von alten Hungerspielen im Fernsehen, habe ich mir vorgestellt, dass die Tribute ihre Namen tragen. Ich habe mich so oft an Gräbern mit diesen Namen stehen sehen, dass es nach meinem eigenen Sieg geradezu eine Erleichterung war, zu wissen, dass diese Kinder nie leben müssen.
Doch nie habe ich die beiden als Babys vor mir gesehen. Manchmal gab es verschwommene Schemen von Zwölfjährigen in meinen Träumen von der Zukunft, aber nicht mehr. Und jetzt, wo ich durch das Siegerinnendasein wenigstens von dieser Last befreit bin, sind da plötzlich diese Visionen von strahlenden blau-grünen Augen in einem runden Gesicht und fröhliches Glucksen.
Selbst jetzt, alleine am Strand, kann ich die Lider schließen und das Kind vor mir sehen. Es hat Finnicks wellige Haarstruktur und eine Mischung aus unseren Haarfarben, ein Ton wie ein Glas schwarzen Tees mit Honig, das von den ersten Sonnenstrahlen des Tages erwärmt wird. Um seine Nase verteilen sich unzählige Sommersprossen und wenn es lacht, klingt es ein wenig wie mein kleiner Bruder Cyle einst.
Seufzend hebe ich eine weitere Muschelschale auf und spüle sie im Salzwasser ab. So schön Emerald Isle auch ist, hier verfolgen mich die Gedanken stärker als daheim im Siegerdorf. Einfach alles auf der Insel schafft es, das zu erwecken, was im Distrikt selber nicht mal einen Traum wert ist. Dabei weiß ich, dass es sich um Irrsinn handelt. Deshalb habe ich auch noch nie mit Finnick darüber geredet.
Kinder gehören, ganz rational betrachtet, nicht in diese grausame Welt. Jetzt, wo es eine Wahl gibt, ist es nur vernünftig, sich dagegen zu entscheiden. Ich will es nicht wollen. Ohnehin ist das Risiko viel zu groß. Das Kapitol würde Finnick sicher hart bestrafen, wenn seine Vaterschaft herauskäme – und unserem Kind wäre ein Platz in den Hungerspielen garantiert.
Ich stecke die Muschel in meine Umhängetasche und spritze mir kaltes, brennendes Meerwasser ins Gesicht, um die Gedanken zu klären. Hoffentlich lassen diese wilden Hirngespinste mich bald in Ruhe, wenn sie merken, dass ich nicht nachgebe.
Und davon mal abgesehen ... haben Finnick und ich natürlich noch nie miteinander geschlafen. Wer bin ich also, solche Gedanken zu haben? Klar würde es auch anders funktionieren, ein Kind zu zeugen, aber das käme mir erst recht falsch vor. Dieses Künstliche erinnert einfach zu sehr an das Kapitol und seine Mutationen.
Eine Weile bleibe ich noch in der Brandung hocken und lasse mich doch von den Gedanken überwältigen, die ich gerade vertreiben wollte. Kleine Wassertropfen laufen mir den Rücken hinab und ich erschaudere bei der Vorstellung, dass es Finnicks Fingerspitzen sein könnten.
Das ist falsch. So sollte ich nicht von ihm denken. Ich weiß schließlich, was er durchmacht, jedes Mal im Kapitol. Jede Nacht, die er nicht bei mir ist. Es bricht ihn, ein Spielzeug für Fremde zu sein. Wenigstens bei mir soll er sicher sein vor all diesen Begehren, die ihn auf seinen Körper reduzieren.
Warum nur sehne ich mich dann auf einmal danach?
Frustriert schlage ich die Fäuste in den weichen Sand zu meinen Füßen und werfe ganze Hände voll davon in den Ozean. Ich schreie dem Wind allen Frust entgegen wie eine wütende Seemöwe; verfluche Snow und jeden einzelnen Menschen, der Finnick wehgetan hat, bis mein Hals trocken ist und der Saum meines Kleides dreckig. Auf den Wangen klebt mir getrocknetes Salz, aber ich weiß nicht, ob es Meerwasser oder Tränen sind. Und trotzdem entringt sich mir bei dem Blick auf das offene Meer wieder ein Lächeln.
Manchmal ist die Freiheit auf Emerald Isle erstaunlich traurig, aber es bleibt Freiheit, hier lautstark schreien zu dürfen. Jetzt geht es mir wenigstens besser. Bevor das Wellengluckern in meinen Ohren wieder zu dem Gelächter eines Babys werden kann, wende ich mich ab.
Es geht mir gut. Ich bin in Sicherheit. Mir fehlt es an nichts. Finnick und ich haben einander, das reicht. Diese Worte wiederhole ich den ganzen Weg zurück zur Villa in meinem Kopf.
Dort angekommen quetsche ich mich durch das rostige Gartentor und atme mehrmals tief durch, bevor ich die Haustür aufstemme. Finnick soll meine Aufregung nicht bemerken, sonst macht er sich nur unnötig Sorgen. Doch die Vorsicht ist umsonst, denn auf mein gerufenes »Bin wieder da!« antwortet mir nur Stille.
Weder in der Küche noch im Wohnzimmer treffe ich Finnick an. Wollte er vielleicht rausgehen und fischen? Ich stelle die Tasche voller Muscheln neben dem Kamin ab, ehe ich das Haus durch die Hintertür wieder verlasse. Nur die größte und schönste Jakobsmuschel nehme ich mit, um sie Finnick gleich zu zeigen.
Auf den Holzdielen unserer Veranda liegen tatsächlich ein paar Netze zur Reparatur, Finnick ist allerdings nicht zu sehen. Auch im Garten ist kein bronzener Haarschopf in Sicht, also laufe ich den sandigen Weg bis zur kleinen Lagune hinter dem Haus hinab.
»Finnick?«
Nur eine Möwe kreischt. So alleine ist mir zwar nicht wohl dabei, doch ich betrete den wackligen kleinen Holzsteg, den Finnick in den letzten Wochen repariert hat und lasse meinen Blick über das Wasser schweifen. Nichts. Wenn Finnick tauchen gegangen wäre, dann würden zumindest seine Kleider hier liegen, rede ich mir ein, mindestens ein Paar Schuhe ... und er würde doch nicht in diesem seichten Gewässer in Schwierigkeiten geraten, noch dazu bei so gutem Wetter.
In meinem Bauch bildet sich ein Knoten. Ich weiß genau, dass wir beim Frühstück darüber gesprochen haben, dass er im Haus bleiben und sich um ein paar dringende Reparaturen kümmern will. Warum ist er dann nicht da? Habe ich ihn womöglich nur verpasst? Oder ... ist unser Versteck etwa aufgeflogen? Sind die Friedenswächter hier?
Schon klopft mein Herz wieder schneller. Nein, das ist Quatsch, schelte ich mich selber. Die Jakobsmuschel an die Brust gedrückt, gehe ich zurück zum Haus. Aber auf halber Strecke fange ich doch an zu laufen und schließlich stürme ich förmlich durch das Wohnzimmer in den Eingangsbereich der alten Villa.
»Fin?«, rufe ich und meine Stimme hallt in dem leeren, doppelstöckigen Raum wieder. »Finnick!«
Ich schaue hinauf in den zweiten Stock und lausche in die Stille hinein. Ob er oben ist? Zumindest die Bücher, aus denen er mir vorliest, hat er früher in einem der oberen Zimmer gefunden. Aber er sagt auch, dass es dort nicht länger sicher ist, da der Boden langsam verrottet und bei Belastung jederzeit durchbrechen könnte.
Nun, was sein muss, muss sein. Behutsam lege ich meine Jakobsmuschel auf ein Fensterbrett, bevor ich den ersten Fuß auf die Treppe ins Obergeschoss setze. Immerhin sind die Stufen massiver Marmor und der mottenzerfressene Samt darauf höchstens staubig, aber sonst ungefährlich.
Mit angehaltenem Atem wage ich mich empor. Ich lausche auf jedes kleine Geräusch. Ist das ein Klackern? Und ... Flüstern? Zwei Männer?
Gerade überlege ich, ob ich erneut nach Finnick rufen sollte, da versiegen die Laute und ich höre stattdessen Schritte. Keine Sekunde später öffnet sich knarzend eine Tür. Ein kleiner Schrei verlässt meine Kehle –
»Annie!«
Im Flur vor mir steht Finnick, einfach nur Finnick. Alleine, einen Stoffbeutel mit Werkzeug in der Hand. Niemand sonst, erst recht kein Friedenswächter. Finnicks helle Augen schimmern im Zwielicht des dunklen Obergeschosses verdächtig, doch ich habe nicht die Chance, darüber nachzudenken, denn schon ist er bei mir.
Die Werkzeugtasche fällt mit einem ‚Klong' zu Boden und dafür legt Finnick ganz vorsichtig die Hände auf meine Schultern. »Annie?« Seine Stimme klingt irgendwie ... verschnupft. Als hätte er zu viel von der staubigen Luft in diesem Haus eingeatmet. »Hey ... tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken – ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Hast du ... sie wieder gesehen?«
Ich spüre, wie der sanfte Druck seiner Hände auf meinen Oberarmen zunimmt und mit einem Mal weiß ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Natürlich denkt er an das Schlimmste, an Visionen von Shine; einen nervlichen Zusammenbruch meinerseits. Was habe ich mir nur gedacht? Woher kamen bloß diese Sorgen auf einmal? Wenn jemand auf sich aufpassen kann, dann doch Finnick!
Halb lachend, halb schluchzend wische ich mir die Augen. »Alles gut. Es ist nur – d-du warst nicht unten, als ich zurückgekommen bin ... Ich dachte –« Schnaubend schüttle ich über mich selber den Kopf. »Ich hatte plötzlich solche Angst um dich. Ich dachte schon, dass die Friedenswächter hier wären ... Ich weiß nicht mal warum, es ist so lächerlich!«
Mit einem Seufzen schließt Finnick die Augenlider und tritt die letzte Treppenstufe zu mir herab, bevor er mich fest in die Arme nimmt. Eine Hand streicht mir über den Rücken, die andere vergräbt er in meinen Haaren.
»Oh Annie ...« Jetzt ist es eindeutig, dass er schnieft. Seine Fingerspitzen zittern sogar leicht, während sie in Kreisen meine Wirbelsäule entlangfahren. »Ich bin hier«, sagt er leise und sein Atem streift mein Ohr, dass es mir kalte Schauer den Rücken hinab jagt. »Ich bin immer noch hier und glaub mir, ich werde lieber kämpfen, als dich alleine zu lassen.«
Sein Herzschlag so nah an meinem ist mir schmerzlich bewusst, genauso wie jede Faser seines Körpers, die sich unter meinen Händen spannt, als ich ebenfalls die Arme um ihn schlinge. Schon hundert Mal habe ich Finnick auf diese Art umarmt, doch ausgerechnet jetzt drängen sich andere Empfindungen dazwischen. Ich schiebe den Gedanken mit aller Macht von mir und vergrabe das Gesicht an seiner Schulter.
»Tut mir leid«, hauche ich gegen seinen Hals und zur Antwort drückt er mich noch fester.
»Schon gut, das ist doch nichts Schlimmes, Annie. Ich dachte nur, ich schaue mal, was man hier oben retten kann, solange du weg bist, aber ich habe wohl die Zeit vergessen ... Ich wollte doch nicht, dass du dir Sorgen machst.« Finnick lehnt sich ein kleines Stück zurück, damit er mir einen Kuss auf die Stirn drücken kann. »Das hier soll doch unser sicherer Hafen sein«, setzt er flüsternd hinzu und da ist wieder der traurige Glanz in seinen Augen. »Es tut mir leid, dass du dir wegen mir Sorgen machen musstest.«
Rasch schüttle ich den Kopf. »Ist schon vergessen. Ich bin nur ein bisschen ... durch den Wind gerade.« Ein Seufzen auf den Lippen, verschränke ich die Hände in Finnicks Nacken. »Wir sollten den letzten Abend hier lieber genießen. Noch einmal am Strand entlanggehen, den Sonnenuntergang ansehen ...«
Finnick lächelt und ich schlucke schwer, in dem Versuch, mich nicht in seinen Augen zu verlieren. Er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht – eine simple Geste, doch selbst diese Berührung sorgt für einen wohligen Schauer auf meiner Haut. Am liebsten würde ich gar nichts anderes tun, als hier mit ihm zu stehen, in seiner Umarmung. Aber da er meine Hand ergreift und sich anschickt, die Treppe hinunterzugehen, folge ich ihm natürlich.
Wir verbringen den Abend auf der Veranda, anstatt drinnen, da das Wetter bereits erstaunlich milde ist. Wie so oft knüpfe ich weitere Muschelstücke an das Mobile, doch Finnick liest heute ausnahmsweise nichts vor. Stattdessen repariert er im Laternenschein die Netze, die er rausgelegt hat.
Seine Finger sind flink – flinker als meine. Er kann manche Knoten so schnell wickeln, dass mir schon vom Zusehen schwindelig wird. Dabei war ich nie schlecht in dieser Disziplin. Finnick hat nur viel mehr Übung. Selbst im Kapitol hat er immer etwas gefunden, das man verknoten kann, und wenn es nur zwei Servietten waren.
Ich weiß, dass ihn das Handwerk beruhigt, so wie es mir hilft, zuhause den Garten zu pflegen. Und genau das macht mir jetzt doch Sorgen. Sobald er seine Hände beschäftigen muss, bedeutet das, dass ihn etwas aufgeregt. Sehr.
Diese Beobachtung verdrängt sogar meine Gedanken an Babyglucksen und die Zukunft, die wir vielleicht gar nicht haben. Und sie erinnern mich an die verdächtigen Tränen in Finnicks Augen heute Nachmittag.
Zaghaft linse ich zu ihm hinüber. Seine Augenbrauen bilden einen geraden Strich, während er altes und neues Garn miteinander verknüpft. Er scheint meinen Blick nicht einmal zu fühlen, so versunken ist er in die Tätigkeit. Nur hin und wieder schnalzt er leise mit der Zunge, wenn ihm ein Faden entgleitet oder die Knoten nicht ganz gleichmäßig sind.
»... Fin?«
Er zuckt kaum merklich zusammen. »Ja?«
»Sei ehrlich – es ... wird nicht alles wieder in Ordnung kommen, oder?« Ich setze den kleinen Handbohrer ab, mit dem ich Löcher in die Muschelschalen mache und beobachte aufmerksam seine Reaktion. »Ich meine – im Distrikt. Oder ... in ganz Panem? Mit den Hungerspielen und allem ...«
Die Garnfäden, die Finnick gerade verknoten wollte, entgleiten ihm und mit einem Seufzen lässt er das Netz sinken. »Annie ...«
Plötzlich ist da eine Entschlossenheit in mir, die mich selber überrascht. Meine Hände sind ganz ruhig, als ich die Arbeit niederlege und zu Finnick an das Verandageländer rücke. »Du kannst es mir sagen. Heute kann ich das ab. Morgen vielleicht nicht mehr, aber jetzt ... jetzt schon. Irgendwann muss ich es ja hören und dann am liebsten von dir.«
»Das kann ich dir doch nicht ... Oh Annie.«
»Hey«, erwidere ich sanft, »du sagst doch immer, dass ich stärker bin, als alle denken.«
»Und aufmerksamer. Danke für die Erinnerung.«
Ein kleines Lächeln streift meine Lippen, als ich sehe, wie er mich ansieht, den Kopf leicht schiefgelegt. So voller Sorge, aber auch Bewunderung. Früher einmal wäre ich unter so einem Blick ganz sicher errötet. Heute wärmt er mein Herz.
»Es wäre schwer, es nicht zu sehen«, sage ich leise. »Die Aufstände, die Maßnahmen, die veränderte Siegertour, die ... Letzte Welle. Es ist leicht, das alles an diesem Ort zu vergessen. Aber vergessen kann auch gefährlich sein.«
Gedankenverloren dreht Finnick das Reparaturgarn durch die Finger, bevor er antwortet. »Das stimmt.« Seine Mundwinkel zucken traurig. »Ich vergesse nur viel zu gerne, so lange du mit mir hier bist.«
Hätte er die Aussage mit einem Zwinkern oder seinem üblichen breiten Grinsen unterlegt, wäre es sicherlich der perfekte Spruch, um unzähligen Personen im Kapitol schwache Knie zu bereiten. Doch so wie er stattdessen neben mich rutscht, meine Hand ergreift und den Kopf an meine Schulter lehnt, weiß ich, dass es mehr sind als nur schöne Worte.
Ich lasse mich ebenso gegen ihn fallen, sodass wir einander nur durch den gegenseitigen Druck aufrechterhalten, und gemeinsam sehen wir hinauf zu den ersten Sternen. Sie funkeln wie nichts im Kapitol, obwohl es dort genug Glas, Glitzer und Diamanten gibt.
»Unser Leben wird sich wohl bald verändern«, murmle ich in die Nacht hinaus. »Fragt sich nur, in welche Richtung.«
Finnick drückt meine Hand fester. »Vielleicht können wir die Richtung ja bestimmen, wenigstens dieses Mal.«
»Glaubst du daran?«
»Ich muss.« Mit seinem vom vielen Knotenknüpfen aufgerauten Daumen streicht Finnick über meinen Handrücken. »Es tut mir so leid, Annie –«
»Shhh. Ist schon okay. Ich werde nicht fragen, also musst du auch nichts sagen. Es reicht mir, wenn du davon überzeugt bist.«
»Bist du dir sicher? Ich – ich will dich nicht belügen ...« Er atmet tief ein, macht eine Pause, doch es folgt nichts weiter.
Ich kann nicht erahnen, welcher Sturm gerade in Finnicks Innerem tobt – aber das spielt ohnehin keine Rolle für meine Entscheidung. Ich vertraue ihm. Mehr als irgendwem sonst. Wir lieben einander, daran gibt es nichts zu zweifeln. Und das ist alles, was zählt. Also schlinge ich beide Arme um ihn, ehe ich einen Kuss auf sein Haar hauche.
»Ganz sicher sogar«, antworte ich ihm. »Schließlich weiß ich selber nie, was der nächste Tag für mich bedeutet. Ob es mir nicht wieder schlechter geht. Lass uns einfach noch ein wenig länger das Vergessen genießen, ja?«
Finnicks tiefes Seufzen vibriert bis in meinen Körper hinein. »Ich werde alles dafür tun, dass es wieder besser wird. Besser als es je war. Damit der Morgen keine Angst mehr bedeutet. Das verspreche ich dir, Annie.«
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