53 | Gift oder Gewissen - Part I
„Nun, meine Damen und Herren, was für eine aufregende und doch bedauerliche Unterbrechung unsers Programms! Leider, leider, scheiden Marvel aus Distrikt eins und Rue aus Distrikt elf damit aus!" Caesar Flickermans laute Worte durchschneiden die fast schon andächtige Stille wie der Speer Rue vor wenigen Minuten. Die Kapitolbürger haben erstaunlich gelassene Methoden gefunden, sich von dem Grauen, welches sich vor ihren Augen ereignet, binnen Sekunden zu erholen und weiterzumachen, als wären nicht zwei Leben brutal beendet worden. „Einen großen Applaus bitte für unsere tapferen Tribute!"
Halbherzig schlägt Finnick die Hände zusammen, auch wenn er lieber den Kopf in ihnen vergraben würde. Es ist egal, welche Sieger auf der Tribüne er ansieht, in jedem Gesicht stehen Trauer, Zorn und Verbitterung geschrieben. Katniss Abschiedslied an die kleine Rue brennt sich Wort für Wort in sein Herz und obwohl er es nie zuvor gehört hat, ist er sich gewiss, dass er diese Zeilen nicht mehr vergessen wird. Den meisten Tributen bleibt keine Zeit, sich von gefallenen Verbündeten zu verabschieden und selten hat das Kapitol einem derart emotionalen Abschied beigewohnt. Noch dazu für den Tribut eines anderen Distrikts.
Selbst Annie hält den Kopf hoch erhoben, voller Trotz, und verfolgt das Geschehen in der Arena. Nur an dem leichten Zittern ihrer Unterlippe verrät sich, was dieser innere Kampf sie kostet. Überwältigender Stolz und der Wunsch, sie in seine Arme zu reißen, ringen in Finnicks Brust mit dem Zwang, der perfekte Sieger zu sein. Wenn Snow es geschafft hat, sogar Annies Tränen vor Zorn verdampfen zu lassen, dann will er sich nicht vorstellen, wie groß die Wut erst in Distrikt elf ist.
Während Caesar vorne auf der Bühne bereits wieder breit grinsend Witze reißt, ist auf der Leinwand im Hintergrund weiterhin Katniss zu sehen, deren Tränen in einem stummen Strom ihre Wangen herabfließen. Der leise Chor der Spotttölpel, die ihr Lied aufgreifen, treibt Finnick eine Gänsehaut über den Körper, obwohl er unter Flickermans lauter Moderation bloß ein schwaches Hintergrundgeräusch ist.
Sein Blick sucht Haymitch. Die Augen des Mentoren sind rot unterlaufen, aber diesmal ist Finnick sicher, dass es nicht am Alkoholpegel liegt. Neben Abernathy schluchzt Chaff leise an Seeders Schulter, doch die Miene seiner Distriktpartnerin lodert tödlicher als jeder Feuerball in der Arena. Der Hunger in ihren Augen verlangt nur eines – Rache.
Das Kapitol hingegen ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. Für sie scheint der Tod zweier Tribute kaum mehr nennenswert, höchstens eine kleine Unterbrechung eines heiteren Abends, wie ein unerwarteter Stromausfall, der am Ende nur ein paar Minuten dauert und an den man sich bald gar nicht länger erinnert. Titania Creed vorne bei der Bühne nippt bereits wieder breit lächelnd an ihrem Champagner und Finnick ist froh, dass sie in diesem Moment viele Meter trennen.
Caesar plaudert noch ein wenig mit Seneca Crane, aber es ist überdeutlich, dass sie endlich den vierten und letzten Vorschlag zur Regeländerung präsentieren wollen. Erst jetzt wird Finnick bewusst, dass die gemeinsamen Siegesaussichten für Distrikt elf, denen er gestern voller Hoffnung eine Chance zugestanden hat, nun erloschen sind. Es bleiben nur zwei Teams übrig. Zwölf oder Zwei. Außenseiter oder Karrieros; Rebellion oder Unterdrückung. Jetzt steht alles auf einer Karte.
Unbemerkt von den meisten Zuschauern, deren Aufmerksamkeit sich Caesar Flickerman widmet, kommt Katniss langsam wieder zu Sinnen. Interessiert verfolgt Finnick, wie sie ein paar Schritte von Rues Leichnam ins Unterholz geht und eine Handvoll wilder Blumen pflückt. Wenn er dachte, die wehmütigen Zeilen ihres Liedes allein würden sich in sein Herz prägen, so liegt er falsch.
Bedächtig kleidet Katniss den leblosen Körper ihrer kleinen Verbündeten in ein Meer aus Lila, Gelb und Weiß. Blüten bedecken jene grässliche Wunde, die ihr Leben beendet hat, und ein buntes Farbenspiel umrahmt ihr Gesicht, bis es erscheint, als wäre sie in einen friedlichen Schlummer versunken. Das Kapitol hat ihren Tod zu verantworten, doch in diesen letzten Momenten gibt Katniss Rue ihren Frieden zurück. Und nicht nur ihr, auch Distrikt elf erweist sie die höchste Ehre.
Es verwundert Finnick nicht, dass die Szenen plötzlich einem schwarzen Bild weichen, nur damit wenige Sekunden später wieder Caesar Flickerman in Übergröße gezeigt wird. Freundschaft unter den Distrikten ist nur gewünscht, wenn diese gewaltsam, zum Beispiel mit einem Messer im Rücken, endet.
Viel verräterischer ist ohnehin das Gesicht des Präsidenten, dessen stahlharte Augen sich fest auf seinen obersten Spielmacher geheftet haben. Sein Kopf ist leicht schiefgelegt, die Hände ordentlich in seinem Schoß gefaltet. Snow hat seine Erscheinung unter Kontrolle. Weitgehend. Die Anzeichen seiner Unzufriedenheit sind winzig; schnell übersehen. Hätte Finnick ihm nicht so oft gegenübergestanden und die Enttäuschung in den Tiefen Snows eisblauer Augen lauern sehen, es würde ihm in diesen Sekunden wohl kaum auffallen.
Die Show unterdessen läuft unbeirrt weiter. Der ältere Herr, der als Letztes ein Los ziehen soll, schreitet mit reichlich angesäuerter Miene auf die Bühne. Sein großer Auftritt ist zweifellos ruiniert, denn überall im Saal tuscheln leise Stimmen miteinander – über die ersten drei Vorschläge und, Finnick hält den Atem an, Katniss Lied, ihre Blumen für Rue. Sie haben es nicht übersehen.
„Meine Damen und Herren, bitte einen großen Applaus für den letzten Regelvorschlag", ruft Caesar Flickerman voll gekünsteltem Enthusiasmus und weist auf den Mann, der seine Hand bereits in der Glaskugel versenkt.
Im Gegensatz zu seinen Vorgängerinnen macht er kein großes Aufheben darum, sondern zieht den verbliebenen Zettel hervor, reißt das Siegel auseinander und liest ausdruckslos die Zeilen darauf. „Die letzte vorgeschlagene Regeländerung lautet wie folgt: Jeden Tag, der ohne den Tod eines Tributs durch die Hand eines anderen Tributs vergeht, wird per Zufall ein Tribut auserwählt, dem durch seinen Tracker ein tödliches Serum verabreicht wird."
Dieser Vorschlag ist zu viel des Guten, das merkt Finnick sofort. Die meisten applaudieren höflich, aber schon branden die ersten Diskussionen auf, wofür gestimmt wird und immer wieder hört er diese gewissen Worte. Zwei Sieger. Wenn stattdessen die letzte Regel in Kraft treten würde, wären die Spiele derart schnell vorbei, dass das Kapitol sich wahrscheinlich seines Spaßes beraubt sehen würde. Ganz davon ab, dass es jederzeit einen der Sponsorenlieblinge treffen könnte. Beim Geld hört für die meisten das Vergnügen auf. Aber zwei Sieger, das ist eine Verlockung, deren Wirkung Haymitch genau richtig eingeschätzt hat.
„Was für eine Auswahl!", versucht Flickerman die anschwellenden Gespräche zu übertönen und sein Mikrofon lässt einen undankbaren Kreischlaut hören. Zumindest bringt das die Aufmerksamkeit zurück zu ihm. „Ab sofort haben Sie 24 Stunden Zeit, meine Damen und Herren, um für einen der vier Vorschläge abzustimmen! Nach Ablauf dieser Zeit wird die Regeländerung den verbliebenen Tributen verkündet. Oh, ich kann es gar nicht erwarten, zu sehen, wofür Sie sich entscheiden!"
Mit diesen Worten endet der förmliche Teil der Veranstaltung. Was nicht etwa heißt, dass Finnick entlassen ist. Titania Creed drängt sich mit einem Haifischzahnlächeln durch die Menge auf ihn zu und unter Snows stechendem Blick bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als ihr auf die Tanzfläche zu folgen. Wenigstens hat er die Gewissheit, dass Amber Annie wie eine Löwenmutter mit sich zieht, sobald der Pflichtteil vorbei ist und sie weit, weit weg von Snow bringt.
Titanias schreckliche Selbstverliebtheit kommt ihm bei ihren Walzerrunden auf dem Parkett zugute, denn sie hört nicht auf, davon zu reden wie aufregend es war, das Los zu ziehen. Es reicht, dass er an den passenden Stellen nickt oder ihr ein feingezuckertes Lob ausspricht. Belanglosigkeiten allesamt, aber es vermeidet unangenehme Stille zwischen ihnen, in denen ihr sein mühsam unterdrückter Zorn vielleicht doch auffallen könnte.
Nach drei Tänzen, die sich schier endlos ziehen, naht Finnicks Rettung in Gestalt eines bleichen Typs mit dunkelvioletten Lippen, der offenbar frischgebackener Erbe irgendeines Firmenimperiums ist, mit dem Titania sich unbedingt gut stellen will. Finnick schenkt dem Kerl einen fast schon mitleidigen Blick, bevor er die Hand seiner Begleitung an den Typen überreicht. Im Scherz warnt er ihn, ihm Titania ja nicht abspenstig zu machen – nicht, dass er ernstlich Sorge hätte. Sein Gegenüber scheint das aber umso ernster zu nehmen und versichert eilig, dass er rein geschäftliches Interesse verfolgt. Schade eigentlich.
Nun alleine in der wogenden Welt aus Satinkleidern, schrillem Glitzer und bunten Farben, lässt Finnick sich in Richtung Cocktailbar treiben. Hauptsache fort von der Tanzfläche und den begehrlichen Augen jener Damen und Herren, denen das nötige Kleingeld für einen Abend mit ihm fehlt oder die sich erst noch in Snows Gunst hocharbeiten müssen, um ein Angebot zu bekommen. Für sie ist er bei Veranstaltungen wie dieser Freiwild, denn sie geben sich der Hoffnung hin, dass er trotzdem etwas mit ihnen anfangen könnte.
Er gibt sich beschäftigt mit einem Drink in der Hand und sucht nach bekannten Gesichtern in der Menge, mit denen eine Unterhaltung wenigstens erträglich wird. Vor dem bunt durchmischten Hintergrund fällt sie ihm erst auf den zweiten Blick auf. Der Mangel an auffälligen Tierohren, metallisch glänzenden Tattoos oder einer unnatürlichen Hautfarbe lässt Dr. Gaia Gaul vor dem Farbenspiel der Kulisse verschwinden – zumindest fast. Vielleicht ist es ihre ungewöhnlich helle Haut, vielleicht aber auch das weiße Kleid, das Finnick letztlich auf sie aufmerksam macht, er ist sich nicht sicher. Etwas an ihr lenkt unweigerlich seinen Blick auf sie.
Der fehlende Kontrast zwischen dem hellen Stoff und ihrem bleichen Gesicht lässt sie durchscheinend wirken, wie eine Ertrunkene, die Stunden im Wasser trieb. Es wäre Finnick lieber, er wüsste nicht, wie so etwas aussieht, aber früher oder später hat jeder in Distrikt vier seine erste Begegnung mit einer Wasserleiche.
Dr. Gaul steht alleine vor der reichlich gefüllten Tanzfläche, ein Sektglas in der Hand, aus dem sie allerdings keinen Schluck nimmt. Wachsam gleitet ihr Blick über die Anwesenden, bis er schließlich an Finnick hängen bleibt. Für einen Moment starren sie einander unbeweglich an, dann setzt sie sich zu seiner Überraschung in Bewegung, geradewegs auf ihn zu. Er hat erwartet, dass sie vor ihm flüchten würde, aber sie durchmisst den Raum mit großen Schritten und voller Entschlossenheit, wobei ein Avox ihr eilig ausweichen muss.
Ein Lächeln hat sie nicht für Finnick übrig und genauso wenig reicht sie ihm die Hand. Stattdessen bleibt sie in einer Armlänge Entfernung stehen, ein unergründliches Funkeln in den hellbraunen Augen. „Mr. Odair. So trifft man sich wieder", stellt sie höflich fest. „Ich hätte erwartet, Sie in der Nähe von Annie Cresta anzutreffen." Jetzt heben sich ihre Mundwinkel doch ein Stück, was der distanzierten Kühle in ihrem Blick keinen Abbruch tut.
Finnick legt den Kopf schief. „Dr. Gaul. Was für eine ... Überraschung. Ich bin froh, Sie weit fern von Annie anzutreffen." Auch wenn die Ärztin das Appartement nach ihrer Konfrontation in großer Hast verlassen hat und Annie ihm mehr als einmal versichert hat, dass sie ihr zu keiner Zeit wehgetan hat, kann er ihr nicht trauen. Vertrauensseligkeit wird seiner Erfahrung zur Folge oft mit einem Messer im Rücken bestraft, egal ob in den Hungerspielen oder im Kapitol.
Sie nickt langsam, offensichtlich hat sie diese Antwort erwartet. „Ja, vermutlich ist es besser so. Für uns beide." Ihren Zusammenstoß hat sie wohl ebenso wenig vergessen. „Auch wenn Sie sich keine Sorgen machen müssen. Immerhin ist mein Bericht zu einem positiven Schluss gekommen. Ich halte mein Wort."
Die Aussage lässt Finnick nur eine Augenbraue heben. „Mit Verlaub, aber Sie werden verstehen, dass ich Sie trotzdem im Auge behalte. Gerade wenn Sie die Angewohnheit haben einfach – aufzutauchen."
Dr. Gaul lässt ein amüsiertes Schnauben hören. „Mr. Odair, tun Sie mir den Gefallen, begleiten Sie mich ein paar Schritte." Auch wenn ihre Stimme sich nicht verändert hat, entgeht ihm nicht, dass sie ihn nicht gebeten hat.
Schon diese gut verborgene Drohung jagt einen Stoß Adrenalin durch ihn, der seine Muskeln verkrampfen lässt. Mit einem Blick in den Saal vergewissert er sich, dass Annie immer noch bei Amber ist. Er würde Snow zutrauen, dass er ihn bloß ablenkt, um sie ein weiteres Mal zu entführen. Seine Finger schließen sich fester um sein Cocktailglas, während er der Forscherin durch die wogenden Massen folgt.
„Es tut mir leid, dass wir einander auf dem falschen Fuß kennengelernt haben", sagt sie ernst. „Ich glaube, Sie missverstehen meine Intentionen."
Finnick spürt, wie sein Hals trocken wird. „Dann erklären Sie sich."
Die Frau an seiner Seite schüttelt nur den Kopf und stellt ihr Glas auf das Tablett eines vorbeilaufenden Avox. „Nein. Ich werde es Ihnen lieber zeigen."
Zielstrebig schlängelt sie sich zwischen den Gästen des Präsidenten hindurch, nur aufgehalten davon, dass Leute Finnick in einen kurzen Plausch verwickeln wollen oder ihm begeistert zuwinken. Die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepresst erträgt sie seine Bewunderer, bis sie sich endlich in die weitläufige Lobby vorgearbeitet haben.
„Nun, werden Sie mir noch erklären, wohin wir gehen?", fragt er, während sie mit klappernden High Heels vor ihm dreinschreitet, in einem Tempo, das angesichts der Höhe ihrer Absätze rekordverdächtig scheint.
„Geduld ist eine Tugend, Mr. Odair." Dr. Gaul dreht sich nicht einmal zu ihm um, sondern durchquert die Lobby, ohne die übrigen Gäste eines Blicks zu würdigen, die sich zum Plaudern hierher zurückgezogen haben.
Sie landen in einem langen und lichtlosen Gang, der zur Seite abgeht und Dr. Gaul schreitet zielstrebig voran, als wenn sie den Weg auch im Schlaf finden würde. Alles erweckt den Eindruck, dass kein normaler Bürger je diesen Ort betreten dürfte. In Finnick erwacht Beklemmung. Ausnahmsweise sollte er sich weniger Sorgen um Annie machen und mehr um sich.
Vor einem Fahrstuhl hält Dr. Gaul an und zieht einen Chip aus ihrem kleinen Handtäschchen, der ihr piepend Zutritt gestattet. Im Gegensatz zu den luxuriösen Glasfahrstühlen im Trainingscenter geben die automatischen Türen einen großen Metallkäfig preis, dessen Bedienfeld ausschließlich Kellergeschosse aufführt. Ganze fünfzehn Etagen unterhalb der Erde, verborgen unter dem Herzen des Kapitols.
Mit vor Nervosität feuchten Händen folgt Finnick der Forscherin. Geräuschlos schließen sich die Türen hinter ihm und sein Magen macht einen Satz, sobald der Fahrstuhl sich abwärts senkt. In ihm lauert eine dunkle Ahnung, was in der Tiefe wartet. Das Labor.
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