36 | Wieder und wieder - Part II
Die Nacht über – oder zumindest glaube ich, dass es Nacht ist – werde ich in Ruhe gelassen. In meinem Zimmer ist es stockdunkel, bis auf das rote Licht an der Kamera. Erst nach Stunden bekomme ich wieder Besuch, dieses Mal von der Ärztin mit den rosa Haaren. Bei ihrem Anblick atme ich erleichtert auf. Sie trägt ein Tablett in den Händen, auf dem eine dampfende Schüssel und ein Glas Wasser stehen. Ein himmlischer Geruch steigt davon auf und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühle ich etwas anderes außer Schmerzen und Müdigkeit.
„Du bist bestimmt hungrig", sagt sie mit dem gleichen sanften Lächeln wie bei unserer ersten Begegnung. „Ich dachte, ich bringe dir was aus der Kantine. Es gibt Besseres, aber es macht satt."
Dankbar nicke ich. Die Furcht ihr gegenüber ist für den Moment besänftigt. Was könnte sie mir schon Schlimmeres antun als Tia?
Sie platziert das Tablett recht wacklig auf meinen Beinen und ich erkenne geradeso, dass Eintopf mit Gemüse in der Schüssel ist. Speichel sammelt sich an dem Gummistück im Mund, das ich bereits vergessen habe.
„Lass mich dir helfen." Die Frau nimmt mir das Stück ab und dann – mein Herz macht einen Hüpfer – löst sie die Fesseln an den Händen.
Am liebsten will ich gierig das Essen herunterschlingen, aber ich halte inne, aus Angst, dafür bestraft zu werden. Ich warte ab, was die Besucherin tut, doch sie setzt sich nur an mein Bett und sieht mich erwartungsvoll an.
„Magst du keine Suppe?"
Ich schüttle schnell den Kopf und greife mit zittriger Hand nach dem Löffel. Der erste Bissen schmeckt himmlisch. Fast so gut wie das Essen am Ende eines anstrengenden Tags auf hoher See.
„Oh wie unhöflich von mir", sagt die Frau plötzlich, „ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Gaia Gaul, aber du kannst mich gerne Gaia nennen."
Aus dem Augenwinkel betrachte ich sie und frage mich, ob sie ebenfalls Menschen foltert. Ihr herzförmiges Gesicht mit den strahlenden Augen wirkt zu freundlich dafür. Andererseits geben sich Leute wie Tia oder Cece auch immer fröhlich. Und sie arbeitet für das Kapitol.
„Ich arbeite erst seit kurzem hier, bin frisch von der Akademie", plaudert sie vergnügt weiter, als würde mir das irgendwas sagen.
Stumm löffle ich die Suppe, bis nicht einmal die kleinste Pfütze übrig bleibt.
„Danke", flüstere ich heiser. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit höre ich meine Stimme und erschrecke darüber, wie rau sie klingt.
„Kein Problem", entgegnet Dr. Gaul, „du schlägst dich tapfer, habe ich gehört. Da hast du es dir verdient."
Draußen auf dem Gang höre ich Schritte. Ob das Tia ist?
„Wann darf ich zurück?", frage ich schnell.
Dr. Gauls Blick wandert an mir vorbei in Richtung Tür.
„Bald, wenn du dich weiter so gut schlägst." Ihre Stimme erscheint mir eine Spur höher als eben. „Entschuldige, aber ich muss dich jetzt wieder festmachen ... bevor deine Therapie weitergeht."
Nur widerwillig lasse ich mich am Bett festketten. Nach der frischen Brühe schmeckt das Gummistück umso widerlicher.
Enttäuscht sehe ich Dr. Gaul hinterher, die eilig aus dem Zimmer schlüpft. Erst jetzt, wo sie weg ist, fällt mir auf, dass das rote Licht an der Kamera nicht mehr leuchtet.
Es dauert eine Weile, bis Tia auftaucht. Mit meiner Vermutung, dass eine Nacht vergangen ist, liege ich wohl richtig, denn sie trägt jetzt ein hellgelbes Kleid. Sonst hat sich nichts geändert. Sie nimmt am Bett platz, zückt ihre Fernbedienung und die Leinwand erwacht.
Ich fürchte schon, erneut Edys Tod zu sehen, aber stattdessen zeigt sie mir eine andere Szene.
Die Karrieros und Cordelia stehen vor den letzten Überlebenden des Blutbads am Füllhorn, die sie in ihrer Mitte zusammengetrieben haben – darunter auch Peeta, der übel zugerichtet aussieht. Aber er hält immer noch das Messer von dem Mädchen aus Sieben in der Faust, im Gegensatz zu den beiden Jungen neben ihm. Die sind vollkommen unbewaffnet. Ich ahne, dass die Karrieros sie nicht gehen lassen werden.
Mein Blick gleitet weiter zu Cordelia. Getroffen starre ich in ihr Gesicht. Ihre Augen sind gerötet und ich erinnere mich an ihr Versprechen gegenüber Edy. Die Freude, sie lebend zu sehen, verlischt angesichts ihres Schmerzes. Teilnahmslos sieht sie zu den Gefangenen, als würde nichts davon sie interessieren.
Cato allerdings hat den Ausdruck eines hungrigen Raubtiers, mit dem er die Tribute begutachtet, wie sie im Gras vor ihm knien. Nur Peeta nicht, der darf zumindest stehen. Macht er etwa gemeinsame Sache mit den Karrieros? Er scheint kein Gefangener zu sein, sonst hätte er nicht das Messer in der Hand. Aber warum? Was ist mit Katniss?
Cato mustert die Jungen der Reihe nach und dreht abwägend das Schwert in der Hand. Die Furcht vor dem Unbekannten erwacht in mir. Was wird gleich schreckliches geschehen? Es muss furchtbar sein, denn sonst würde Tia es mir nicht zeigen. In meinem Magen rumort es und ich bereue es, die Suppe gegessen zu haben.
„Ich kann mich nicht entscheiden, wen ich zuerst umbringen soll", sagt er höhnisch. „Was meint ihr?", wendet er sich an seine Truppe, „wem gebührt die Ehre?"
Auf den Lippen seiner Partnerin Clove zeichnet sich schon ein Lächeln ab, da schreit der Junge aus Distrikt drei auf.
„Bitte, ich kann euch helfen!"
„Du willst uns helfen?" Die Blonde aus Distrikt eins bricht in Gelächter aus. „Womit? Du hast doch schon bei den Interviews fast geflennt."
„Nein wirklich, ich kann – die Bomben! Ich kann die Bomben ausgraben, ich weiß, wie man das macht, ohne, dass sie explodieren!"
„Ja klar, als ob das geht." Abwertend kichern die Karrieros.
„Nein wirklich!", beteuert der Junge. „Ich hab daheim in einer Fabrik gearbeitet, wo wir sowas hergestellt haben."
„Und was gibt uns die Sicherheit, dass du sie nicht einfach gegen uns verwendest? Wir haben Waffen, da brauchen wir keine Bomben." Clove schüttelt den Kopf.
Da geht Peeta dazwischen. „Denkt doch mal nach!", fordert er aufgebracht. „Die Bomben sind in der Erde vergraben. Was, wenn sie an einer anderen Stelle wieder vergraben werden? Rund ums Füllhorn? Wenn jemand ins Lager einbrechen will dann –", er deutet mit seinen Händen eine Explosion an, „eine Sorge weniger."
Also macht er wirklich gemeinsame Sache mit den Karrieros. Die Erkenntnis liegt schwer in meinem Magen, wie ein Stein. Wozu die ganze Liebesgeschichte in den Interviews? Ist alles nur gelogen?
Cato hält inne und mustert den Jungen aus Drei mit neugewonnenem Interesse. „Geht das? Du gräbst sie aus und dann können wir sie wieder vergraben?"
Der schmächtige Tribut nickt heftig.
„Hm, nicht schlecht." Cato wendet sich an den zweiten Jungen. „Und du?"
Hilflos schaut der Angesprochene in die Runde. „I-ich ... kann ... kämpfen?" Seine Stimme verklingt leise. Die Karrieros aus Eins und Zwei brechen in Gelächter aus.
„Ich glaube eher nicht." Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sieht Cato sich in seiner Anhängerschaft um. Sein Blick kommt auf Peeta zur Ruhe.
„Mir fallen da zwei Leute ein, die sich noch ein bisschen mehr anstrengen könnten", verkündet er. „Du", er zeigt mit der Schwertspitze auf Peeta, „und du!" Er deutet auf Cordelia. „Nur los, ich schenk ihn euch. Verdient euch euren Platz."
Für einen Moment kreuzen sich Peetas und Cordelias Blicke. Keiner von beiden sieht willens aus, den Jungen zu töten. Im Hintergrund gucken sich die Tribute aus Eins kichernd an.
„Ich würd schon gern sehen, wie Loverboy jemandem den Garaus macht. Ich glaub, er hat's gar nicht in sich."
Cordelia wirft einen vernichtenden Blick in ihre Richtung und schnappt sich ihren Speer. Sie tritt vor den knienden Tribut, der am ganzen Leib zittert. Er ist so verängstigt, dass er nicht einmal versucht zu fliehen.
„Bitte", wimmert er, ignoriert von allen.
Peeta beugt sich überflüssigerweise zu ihm herab und hält ihn an der Schulter fest. Trotz der Blutergüsse in seinem Gesicht erkenne ich, wie sehr ihm diese Situation zuwider ist.
Mein Körper versteift sich und obwohl Tia noch keinen Knopf gedrückt hat, fühle ich den Schmerz näherkommen.
„Nur, dass du es weißt, Cato", sagt Cordelia kalt, „Zehn ging auf mein Konto."
Ihr Speer fährt in den Leib des Jungen, direkt ins Herz. Der Kanonendonner ertönt, bevor sie ihn herausgezogen hat.
„Gern geschehen."
Ein eisiger Schauder läuft meinen Rücken herab. Die Schreie aber halte ich diesmal mit fest zusammengebissenen Zähnen zurück. Nur ein paar einzelne Tränen laufen die Wangen hinab und der heiße Schmerz erinnert mich, dass ich stärker sein muss. Wenigstens lebt Cordelia, dieser Gedanke hilft.
Sie wirft ihre Haare über die Schulter und verschwindet zurück ins Füllhorn. Auf Catos Gesicht aber zeichnet sich dasselbe brutale Lächeln ab, dass er schon vor den Interviews hatte. Er wendet sich an Peeta.
„Tja Loverboy, deine Heldentat steht noch aus. Los, hilf Drei beim Ausbuddeln, dann machst du dich wenigstens nützlich. Aber pass auf deine Finger auf!"
Lachend ziehen sich die übrigen Karrieros zurück und beobachten aus sicherer Entfernung, wie Peeta und der Junge aus Distrikt drei sich an die Arbeit begeben, die Bomben rund um die 24 Podeste auszugraben.
Die Aufnahme kommt zu einem Stopp.
„Ich bin stolz auf dich, Annie. Es scheint, dass unsere erste Lektion schon gefruchtet hat." Die Psychologin klatscht aufgeregt in die Hände. „Oder ist der Tod des Jungen aus Distrikt fünf weniger schlimm?"
Hat sie mich das gerade wirklich gefragt? Ich schüttle den Kopf.
„Und doch bist du vermutlich erleichtert, dass Cordelia noch lebt?"
Ehrlich nicke ich. Tias Zähne blitzen bei ihrem Lächeln auf.
„Das ist die richtige Einstellung! Fokussiere dich darauf, nicht auf jene, die zu schwach zum Überleben sind! Nur dann kannst du zu einer besseren Mentorin werden."
Sie tätschelt meinen Handrücken und trotz der Fesseln zucke ich zurück, so weit möglich. Zwischen ihren Augenbrauen zeichnet sich eine Falte ab, mehr lässt sie sich nicht anmerken.
„Kommen wir zur nächsten Szene."
Anstelle des Füllhorns sehe ich die Karrieromeute, die durch den Wald streift. In der Arena ist es tiefe Nacht, doch Cato und der Junge aus Distrikt eins tragen jeder eine Fackel, die ihnen Licht spendet. Die anderen haben Taschenlampen dabei. Ihre gezückten Waffen zeigen – sie sind auf der Jagd.
In der Ferne scheint das Mädchen aus Eins etwas entdeckt zu haben, denn sie deutet aufgeregt zu einer Stelle zwischen den Bäumen. Dank eines geschickten Schnitts sehen wir Zuschauer, dass es sich um die Tributin aus Distrikt acht handelt, welche neben einem kleinen Lagerfeuer schläft.
Die Karrieros formen einen Halbkreis und nähern sich dem Lager, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein. Immerhin sind sie in der Überzahl. Als das Feuer in Sicht kommt, rennen sie los.
Ihr Opfer erwacht viel zu spät, da ist sie längst umstellt. In Panik fleht sie darum, verschont zu werden, aber ihre Worte stoßen auf taube Ohren. Innerlich stähle ich mich dafür, ihren Tod mit anzusehen. Hoffentlich machen sie kurzen Prozess. Hoffentlich ist es nicht wieder Cordelia. Ich will nicht, dass sie zu einer gewissenlosen Mörderin wird.
Der Erste, der sie erreicht, ist der braunhaarige Junge aus Distrikt eins. Ich erinnere mich urplötzlich daran, ihn auf der Siegestour gesehen zu haben. Er hat es also wirklich geschafft. Wie erwartet packt er das Mädchen und rammt ihr sein Schwert in den Oberkörper. Mit einem Knacken bricht irgendein Knochen.
Mir ist speiübel. Ich konzentriere mich ganz auf dieses Gefühl, versuche, es im Zaum zu halten. Bloß nicht übergeben. Beim Anblick der klaffenden Wunde, unterlegt von dem Jubelschrei des Jungen, kann ich es nicht länger zurückhalten. Heftig würgend krümme ich mich. Tia entreißt mir das Mundstück, bevor ich ersticke, und ich erbreche geräuschvoll auf den Fußboden.
„Es ist noch nicht vorbei", höre ich meine ärztliche Foltermeisterin sagen.
Verwirrt sehe ich zurück auf die Leinwand. Ist in der Nähe ein weiterer Tribut? Erst, als die Karrieros es aussprechen, fällt es auch mir auf. Die Kanone hat nicht gedonnert. Das Mädchen aus Acht lebt noch. Zu meiner größten Überraschung ist es Peeta, der auf einmal sagt „Ich gehe zurück und erledige sie und dann nichts wie weiter!"
Falls ich dachte, es würde nicht schlimmer kommen, lag ich falsch. Ein neuerlicher Perspektivwechsel offenbart Katniss, hoch oben in einem Baumwipfel in einen Schlafsack gerollt, die alles mitangehört hat. Selbst im Dunkel der Nacht erkenne ich die Wut in ihrem Gesicht. Auch sie hat nichts von Peetas Seitenwechsel geahnt.
Der unterdessen, kehrt zu dem Lager der Tributin aus Acht zurück, die röchelnd in einer Blutlache auf dem Waldboden liegt. Er kniet sich neben sie. Ich keuche überrascht auf, denn er greift nach ihrer Hand.
„Es tut mir so leid", wispert er kaum vernehmbar. „Du hast es gleich geschafft."
Blut quillt aus ihrem Mund und sie sieht ihn an. Anstatt sie zu töten, hält er ihre Hand, bis das Licht in ihren Augen erlischt.
Der Schmerz macht mich darauf aufmerksam, dass ich heftig schluchze. Dieses Mal allerdings nicht wegen des toten Mädchens, sondern wegen Peeta, der, genau wie Edy, zu sanft für diese Spiele ist.
Tia betrachtet mich scharf. „Was ist an diesem Tod anders?", fragt sie und klingt unverhohlen verwundert.
Ich schaffe es nicht, ehrlich zu sein. Sie würde es eh nicht verstehen. „Mehr Blut", antworte ich schlicht.
Sie nickt und lässt mich das Ganze ein weiteres Mal ansehen. Jetzt bin ich vorbereitet und behalte meine Trauer wie durch ein Wunder in mir.
„Ausgezeichnet, dann können wir ja bald zum nächsten Thema übergehen", verkündet sie vergnügt. „Fürs erste war das alles, was in der Arena passiert ist."
„Kann ich nicht einfach ... gehen?"
„Nun, wir wollen nichts übereilen. Etwas Festigung scheint mir angebracht. Aber keine Sorge, ich weiß schon, wie wir das hinkriegen."
Die Spiele laufen natürlich trotz Annies Gefangennahme weiter. Immerhin weiß sie durch Tia jetzt, wie es den Karrieros und vor allem Cordelia ergeht. Aber ob ihre Beherrschung bei diesen Szenen reicht, um bald wieder freizukommen?
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