32 | Machtlos - Part II
Da ist Licht. Wie durch eine angelehnte Tür hindurch scheint es in mein dämmerndes Bewusstsein. Von wo kommt es? Ich habe das Gefühl, unter schweren Decken begraben zu sein. Etwas hält mich zurück, aber die Neugier ist stärker. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Nebel, der mein Inneres vom Licht trennt. Stimmen flüstern mir zu, dass ich umdrehen soll. Sie locken mit dem Versprechen auf traumlosen Schlaf, in dem jegliche Sorgen verschwinden. Ich erinnere nicht, welche Ängste mich erfüllen. Dennoch wird das Gefühl deutlicher, etwas vergessen zu haben.
Ist es wichtig? Keine Ahnung. Der Schlaf erscheint wieder so verführerisch und nur mit Mühe ringe ich den Drang nieder. Meine Augenlider wiegen tonnenschwer, als ich sie langsam öffne. Mit voller Wucht blendet das gleißend helle Licht mich. Für einen Moment sehe ich nichts außer weißer Endlosigkeit. Dann wird der Gedankennebel von den Lichtstrahlen zerrissen. Erinnerungen fluten in einem reißenden Strom in den Kopf zurück. Auf meiner Brust scheint ein Gewicht zu liegen, das mir den Atem nimmt. Jegliche Leichtigkeit ist verschwunden und im schonungslosen Licht aus der Neonröhre über mir erkenne ich die Welt wieder in voller Grässlichkeit.
Überwältigt liege ich da, an die weiß verputzte Decke starrend. Gedanken an einen Ort wie diesen tauchen auf. Damals, nach den Hungerspielen, war ich das erste Mal hier. Ein Krankenzimmer. Oder ist es dieselbe Situation? Vielleicht belügt mein Gedächtnis mich?
Ich suche die Wahrheit, kann aber nicht sagen, was passiert ist. Wie ich hierhergekommen bin. Doch dann dringt eine einzelne Erinnerung aus der Flut an Bildern und Wortfetzen hervor. Ein kleiner Junge mit blonden Locken, den ich schon wieder nicht gerettet habe. Das Erste, was ich richtig erinnere, ist der tote Edy. Unser Tribut. Die Ernüchterung sinkt langsam ein.
Er ist tot, obwohl ich ihm versprochen habe, ihn zu beschützen. Ich habe meine Hungerspiele vor Jahren gewonnen, aber es hat sich nichts geändert. Das Kapitol hat mich fest im Griff und mir wieder einen geliebten Menschen genommen.
Ich will die Hand heben, um die aufkommenden Tränen fortzuwischen, doch da ist ein Widerstand. Verwundert wende ich den Blick von der Zimmerdecke ab. Ein karger Raum, in Weiß und Grau gehalten, gelangt in mein Blickfeld. Neben dem Bett, in dem ich liege, stehen ein einzelner Stuhl und irgendein Gerät mit blinkenden Lichtern sowie unheilvoll aussehenden Schläuchen. Keine Anzeichen, dass außer mir noch jemand hier ist. Irgendwer hat mich zumindest umgezogen, denn statt Roans Designerkleidern trage ich ein knielanges weißes Hemd.
Meine Hand ruht auf dem Bett und ich versuche erneut, sie zu bewegen. Ein breiter Riemen am Handgelenk hält sie zurück. Ungläubig starre ich darauf, rüttle wieder. Ohne Erfolg. Mehr als wenige Zentimeter Spielraum bleiben mir nicht. Rasch hebe ich die linke Hand, doch hier genau das Gleiche. Man hat mich gefesselt! Die Erkenntnis vertreibt die Trauer um Edy aus meinen Gedanken.
Zuerst überlege ich, laut zu schreien. Aber die Chance, dass es jemand hört, ist wohl gering, der schweren Tür nach zu schließen. Und selbst wenn, wen würde das Geschrei anlocken? Friedenswächter? Die werden mir sicherlich nicht helfen. Ich prüfe, ob ich mich aufsetzen kann, erkenne jedoch, dass auch über der Brust ein breiter Riemen gespannt ist, genauso wie bei den Beinen. Offenbar bin ich dazu verdammt wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen und darauf zu warten, dass mich jemand erlöst.
So weit es mir möglich ist, hebe ich den Kopf. Mein Gefängnis hat nicht ein Fenster, nur eine Tür gegenüber vom Bett. Sie hat keine Klinke oder Knauf. Ansonsten entdecke ich nur eine Kamera in der Zimmerecke, an der ein rotes Licht leuchtet. Gut, dann wissen sie, dass ich wach bin. Ich sinke zurück ins Kissen und schließe die Augen, alleine mit meiner Angst. Vermutlich ist es nur der Nachwirkung des Mittels, das sie mir gespritzt haben, zu verdanken, dass ich nicht davon überwältigt werde.
In der Stille erinnere ich mich an die letzten Ereignisse des Tages zurück. Morgens haben wir das Frühstück in gedrückter Atmosphäre zu uns genommen. Kaum einer brachte etwas herunter. Selbst Ceces ewig frohes Geplapper war leiser als sonst. Finnick sah müde aus. Wenn er merkte, dass ich ihn ansah, wandte er den Blick ab. Niemand verlor ein Wort darüber, dass er gestern nicht mit den Anderen von der Party wieder kam. Ich schwieg ebenfalls, obwohl ich mich am liebsten in seinen Armen verkrochen hätte, damit er mir die Angst vor der Eröffnungsfeier nimmt.
Anschließend begleiteten wir die Tribute zum Hovercraft, mit dem sie zur Arena flogen. Ein letztes Mal schloss ich Edy und Cordelia in die Arme. Die Angst in ihren Gesichtern erinnere ich deutlich und wie Cordelia versprach die Karrieros für Edy zu verlassen, sobald möglich. Das kleine Flämmchen der Hoffnung, das ihre Worte in mir entzündeten, ist von dem Wissen ausgelöscht, dass er nicht einmal das Blutbad überlebt hat.
„Schon komisch, nicht wahr?" Ich öffne die Augen. Auf dem freien Stuhl neben dem Bett sitzt Shine, in die weißen Kleider einer Ärztin gehüllt. Sie hält ein Klemmbrett, wie es die Doktoren in Distrikt vier bei sich tragen. Anstatt mich anzusehen, kritzelt sie darauf herum, aber ich kann nicht erkennen, was sie schreibt. Sie erinnert sehr an ihre ältere Schwester Glista, nur fehlen ihr jegliches Mitgefühl oder Sanftheit, die diese hat.
„Immer wieder überrascht einen der Tod, obwohl man doch meinen sollte, dass man sich nach all den Jahren daran gewöhnt hat." Ihre Hand hält kurz inne und sie lächelt mich an, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Mein eigener Tod hat mich schließlich auch überrascht." Ich wende den Blick ab und schließe wieder die Augen.
„Warum nur habe ich das Gefühl, dass du dich nicht freust, mich zu sehen?" Kurzes Kichern. „Wäre Victoria dir lieber? Ich kann gerne mit ihr den Platz tauschen."
„Lass mich in Ruhe", sage ich. „Ihr beide." Trotzdem erwacht die Furcht davor, dass eine rachsüchtige Victoria hier auftauchen könnte, an einem Ort, wo ich mich nicht wehren kann, nicht fliehen kann. Shine war schon immer die Umgänglichere der beiden. Wenn man das überhaupt so sagen kann.
„Ich dachte mir, ich leiste dir Gesellschaft, wo du so ganz alleine bist. Bevor dich die Einsamkeit in den Wahnsinn treibt." Sie lacht laut über ihren eigenen Witz.
„Danke, aber ich bin schon verrückt."
„Oh, daran zweifle ich nicht, aber es gibt noch ganz andere Arten, den Verstand zu verlieren. Bis man alles vergisst, was einem wichtig ist, wer man ist oder... wen man liebt."
Verstohlen sehe ich wieder hinüber zu Shine, die mich wissend betrachtet. „Das werde ich nicht."
„Glaubst du wirklich, dass du das bestimmen kannst? Dich überwältigen doch so schon jedes Mal die Erinnerungen und zwingen dich zu schreien." Auch jetzt droht ein Schrei in meiner Kehle emporzusteigen, aber ich schlucke ihn herunter.
„Finnick sagt mir jedes Mal, was real ist, oder nicht. Er ist mein Anker", halte ich mit zittriger Stimme dagegen.
„Und was, wenn er verschwindet? Dich nicht mehr beschützen will?"
Ich schüttle den Kopf. „Das wird nicht passieren."
„Und doch ist er jetzt nicht hier."
Angestrengt hole ich tief Luft, in dem Versuch, mich zu beruhigen. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder wie Finnick Titania Creed umarmt. Aber dann erinnere ich genauso, wie er die Friedenswächter angeschrien hat, voller Wut und Sorge. „Weil er nicht kann", gebe ich zu. Das Kapitol würde nie zulassen, dass er an meine Seite eilt, wo er doch der begehrteste Junggeselle sein muss.
Siedend heiß fällt mir ein, dass jedes Wort, was ich sage, mitgehört wird. Ich starre zu der Kamera, an der noch immer das rote Licht blinkt. Habe ich gerade all unsere Vorsicht zu Nichte gemacht? Angsterfüllt verkrampfen alle Muskeln. Was wird das Kapitol aus diesen Worten schließen? Werden sie es als das Stammeln einer Verrückten abtun? Ich hoffe es.
Shine folgt meinem Blick. „Du solltest auf deine Geheimnisse besser acht geben. Nicht nur er beschützt dich, du musst auch ihn beschützen. Und gib bloß nicht mir die Schuld!" Stumm schüttle ich den Kopf, fest entschlossen, dass mir kein weiteres Wort über die Lippen kommt.
Die Vision meiner einstigen Erzfeindin lächelt, als könne sie die Gedanken lesen. Was nur Sinn macht, denn sie lebt ja in mir drinnen. „Vielleicht sollten wir lieber von etwas anderem reden? Zum Beispiel den Spielen?"
Natürlich, die Hungerspiele. Für eine Weile habe ich sie beinahe vergessen. Was ist in der Zwischenzeit alles passiert? Wie viel Zeit ist überhaupt vergangen, seit man mich weggesperrt hat? Lebt Cordelia noch? Sie ist jetzt schließlich unsere einzige Hoffnung. Und, hinter all diesen Sorgen verborgen, überlege ich kurzzeitig, ob die Tribute aus Distrikt zwölf leben. Ich weiß nur, dass Katniss vom Füllhorn fliehen konnte, mit dem Rucksack als Beute, den sie dem toten Jungen aus Neun entrissen hat.
Shine sitzt ruhig da und beobachtet mich. „Ich weiß auch nicht mehr als du", sagt sie mit einem Schulterzucken.
„Vielleicht sind die Spiele ja schon vorbei", überlege ich hoffnungsvoll. Was immer ihr Ausgang wäre, wenigstens würde es bedeuten, dass ich nach Hause darf. Sie können mich ja nicht auf ewig hier festhalten. Je länger ich daran denke, desto stärker wird die Hoffnung, dass es wahr ist. Nachhause fahren und vergessen klingt traumhaft.
„Vergessen? Ich glaube nicht, dass sie das zulassen. Die Spiele gehen weiter, Jahr für Jahr, für Jahr ... so wie du mich nicht loswirst, wirst du den Tod nicht loswerden. Und jedes Jahr musst du deinen Liebsten gehen lassen, in dem Wissen, was hier passieren wird. Kannst du das vergessen?" Shines Lippen verziehen sich zu dem grausamen Grinsen, das sie schon bei der Jagd in der Arena trug. „Irgendwann wird es euch zerreißen, so wie die Piranhas mich zerrissen haben, ein Stückchen nach dem anderen, bis nichts mehr übrig blieb, das meine Familie hätte beerdigen können. Und alles ist wieder deine Schuld." Ihre Worte hängen in der Luft wie ein giftiges Gas.
„Nein", flüstere ich hilflos. Meine Hände sind zu Fäusten geballt und ich reiße an den Fesseln, doch sie geben kein Stück nach. Ich drücke den Kopf zurück in das Kissen und verschließe die Augen fest in dem Wunsch, dass Shine verschwinden wird.
„Habe ich dir je erzählt wie schmerzhaft mein Tod war?"
Reglos liege ich da und zwinge mich keine Reaktion zu zeigen. Auf dem Gang draußen werden Schritte laut. Jemand kommt, aber ist es die Rettung oder sind es wieder die Friedenswächter mit den eisernen Händen? Ich reiße die Augen auf und starre in Richtung der verschlossenen Tür. Kurzzeitig bin ich versucht zu schreien.
„Sieht so aus, als wenn du Besuch bekommst." Shine lächelt mich noch einmal an. Binnen eines Wimpernschlags ist jede Spur von ihr verschwunden – bis auf die Angst in meinem Herzen.
Anscheinend duldet das Kapitol Annies mentale Zusammenbrüche nicht länger. Doch was passiert jetzt mit Annie? Wer wird durch die Tür kommen?
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