09 | Schwelende Glut - Part II
Am nächsten Tag verlassen sie mit den ersten Sonnenstrahlen die Insel. Länger als eine Nacht können sie nicht auf Emerald Isle verweilen, schließlich besteht doch immer die Chance, dass ihr Verschwinden bemerkt wird. Sie fahren mit dem Boot über das glatte Meer. Vom Hafen her dringen die Geräusche der Fischer hinüber, die sich für einen Tag auf See vorbereiten. Zurück am Festland verstecken sie das Boot wieder in einem alten Bootsschuppen am Rande des Armenviertels. Er steht schon lange leer und erweckt keinen Verdacht. Annie schweigt auf dem Rückweg und scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Finnick weiß es besser, als sie zu stören und überlässt sie ihrer Gedankenwelt.
So ist es gewesen, seit sie aus der Arena wieder gekommen ist. Hin und wieder hat sie diese Momente, in denen die Realität in den Hintergrund zu gleiten scheint. Es ist völlig willkürlich, wann das geschieht. Sicher wäre es einmal nützlich, wie bei den Veranstaltungen rund um die Hungerspiele, doch so bequem ist die Psyche freilich nicht. Solange es nur gelegentlich geschieht, sieht er keinen Anlass zur Sorge. Wenn sie nur ihren Gedanken nachhängt oder gar in fernen Traumwelten versinkt, hat sie zumindest keine Angst. Oft lächelt sie sogar. Daher begnügt er sich auch jetzt damit, auf sie zu warten. Und in den Momenten in denen der Schrecken wieder Überhand nehmen würde, wäre er da, um ihre Hand zu halten.
Während sie Hand in Hand zurück durch die Salzwiesen in die Stadt gehen, erinnert Finnick sich an die erste Zeit nach Annies Spielen, als sich das wahre Ausmaß ihrer psychischen Beeinträchtigungen wirklich zeigte. Als sie den Halt an der Realität in schwindelerregender Geschwindigkeit verlor. Er hatte viele Frauen – und Männer – vor Annie gekannt. Sie hatten ihn bei Snow gekauft, in dem Glauben die Körperlichkeiten würden über alles, das ihrem Leben fehlte, hinweg trösten.
In seinen ersten Jahren, nachdem der Verkauf seines Körpers angefangen hatte, war er beinahe selbst diesem Drang erlegen. Hatte versucht Gefühle für manche der Damen zu finden, die ihm im Rausch der Ekstase süße Versprechungen zuflüsterten – die sie nie halten würden, wie er so schmerzhaft erfahren musste. Irgendwann hatte er nur noch angenommen, dass diese Scheinwelt sein Schicksal sei. Nicht einmal Mags, die gute Seele unter den Siegern und eine Stimme der Vernunft, hatte ihm viel mehr Hoffnung geben können. In dieser lieblosen Welt der falschen Versprechungen drohte er ein Schatten seiner Selbst zu werden, doch dann war Annie in sein Leben getreten.
Eigentlich nur ein einfaches Mädchen aus Distrikt vier. Doch ihre meergrünen Augen waren von einer anderen Tiefe gewesen. In ihnen verbarg sich ein ganzes Universum, so schien es ihm schon damals. Er hatte sie schon einmal gesehen, in der Nacht, in der er als Sieger zurück nach Distrikt vier gekommen war. Wie er war sie alleine am Strand gewesen und wenn auch nur für kurze Zeit, waren sie zusammen alleine gewesen. Sie hatte ihn schon damals nicht wie die anderen behandelt, ihn nicht begeistert hofiert, weil er ein Sieger war. Und als er dann Mentor in ihren Hungerspielen war, hatte sie nicht als Ablehnung für ihn übrig. Natürlich, sie hatte schließlich nur seine Bettgeschichten gesehen. Sie hatte ihn als Liebling des Kapitols kennengelernt, nicht als den Jungen aus dem Armenviertel, der keine Familie mehr hatte und sich auf nichts außer sein Talent mit Speer und Dreizack verlassen konnte.
Er dagegen hatte in ihr gesehen, was all seinen Bettgeschichten fehlte: ihre wahre innere Überzeugung, die in seinem Innersten Wiederklang fand. Sie war alles, was er gerne gewesen wäre. Mutig, aber sanft.
Sie trat für ihren Mittribut Pon ein, anstatt, wie er, freiwillig in die Spiele zu gehen. Trotz ihres unfreiwilligen Schicksals hatte sie den Kopf hocherhoben. Sie ließ nie zu, dass die Spiele einen Teil ihrer Menschlichkeit zerstörten. Selbst jetzt noch zahlte sie für ihren einzigen Mord aus Notwehr mit einem Teil ihrer geistigen Gesundheit. Manche mochten sagen sie sei verrückt geworden, doch Finnick fühlte sich als sei er der Verrückte.
Schließlich war er freiwillig in die Arena gegangen und trotz seiner Gräueltaten konnte er irgendwie mit seinem Leben weiter machen. Annie dagegen konnte es nicht einmal ertragen, eine Person getötet zu haben. Er bewunderte sie zutiefst für diese Reinheit. Doch das war nicht alles. Sie war witzig und charmant wie sonst keine seiner Bekanntschaften. Es war nur knapp mehr als eine Woche gewesen, die sie sich vor den Spielen kennengelernt hatten, doch das hatte gereicht um Annie nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen. Er war bereit gewesen alles für ihr Überleben zu tun – und hatte ihr deswegen schwören müssen, dass Pon überleben sollte. Ein Plan, den das Schicksal vereitelt hatte. Zu sehen, wie zerbrochen sie deswegen aus den Spielen zurückkehrte, hätte auch ihn fast gebrochen.
Nur wenige Tage nach der Rückkehr in Distrikt vier war Annie eines Morgens verschwunden. In Panik, sie könne sich etwas angetan haben, war er durch die Stadt gelaufen, überall nach ihr rufend. Gefunden hatte er sie schließlich in den Ruinen der Fabrik, in der ihr kleiner Bruder und einstiger Verlobter beide umgekommen waren. Sie hatte noch im Nachthemd auf den Resten eines verkohlten Dachbalkens gesessen und sich angeregt unterhalten. Nur, dass da niemand außer ihr war.
Aber sie hatte geredet, als wenn ihr Bruder und Verlobter noch da wären, hatte von dem schön großen Haus im Dorf der Sieger, in dem auch sie bald leben würden, erzählt. Finnick hatte nicht gewusst was er tun sollte.
Langsam hatte er sich durch das Geröll der ausgebrannten Fabrikhalle genähert. Das Feuer war erst wenige Tage her gewesen und es war noch nichts aufgeräumt. Mit einem Stich ins Herzen war ihm klar geworden, dass Annie mit David, ihrem toten Verlobten, redete als wenn die Spiele nicht geschehen wären. Als hätten sie nie eine Auseinandersetzung darüber gehabt, ob Annie zur Mörderin werden solle, um ihre eigene Haut zu retten.
Den Keil, den dieser Streit zwischen sie getrieben hatte, ignorierte sie völlig. Dabei hatte dieses letzte Gespräch vor der Arena damals ihr Verhältnis völlig geändert.
Stattdessen hatte sie über eine anstehende Hochzeit gesprochen, die organisiert werden sollte. In diesem Moment war Finnicks Hoffnung gesunken. Mit hängenden Schultern hatte er wenige Schritte hinter ihr gestanden, umgeben von verkohlten Ruinen, und hatte sich so verloren gefühlt wie nie zuvor. Es war nicht einmal einen Monat her, dass Annies ganzes Leben sich für immer verändert hatte und alle Menschen, die sie liebte, ihr entrissen worden waren. Was hatte er erwartet?
Was auch immer in der Woche vor der Arena gewesen war – es war, als sei es in einem Vakuum geschehen. Nicht gänzlich real.
Stumm hatte er sie angesehen wie sie so dasaß, ein weißes Nachthemd im Aschenstaub, und lachend einer Geschichte lauschte, die nur sie hören konnte. Ihm war in diesem Moment klar gewesen, dass er sie liebte, gleich ob sie die Gefühle erwiderte oder nicht. Er war bereit alles für sie zu tun und er schwor sich, dass das Kapitol dafür büßen würde. Dafür, dass sie das Leben so vieler Tribute wie Annies ruiniert hatten, dafür, dass sie ihr alles Lebenswerte entrissen hatten und dafür, dass sie ihn mit Prostitution folterten während ihm echte Liebe verwehrt blieb.
Schließlich hatte er sich aufgerafft und war an Annies Seite getreten. Sanft hatte er ihre Hand ergriffen und fest gedrückt. Für einen Moment hatte sie ihn völlig entrückt angeschaut, ehe sie urplötzlich gelächelt hatte. Es war, als wäre sie nicht eben noch in ihrer Traumwelt gewesen. Irritiert hatte sie geblinzelt und gefragt wo sie seien.
Finnick war ehrlich, denn er brachte es nicht über sich zu lügen. Der Schock hatte ihr die Farbe aus dem Gesicht getrieben und mit einem Mal schien sie die Asche auf ihrem Nachthemd wahrzunehmen.
„Das hier ist die Wahrheit, nicht wahr?", hatte sie geflüstert.
„Ja, das hier ist die Wahrheit." Der Schmerz über die hässliche Wirklichkeit tränkte seine Stimme.
„Dann ist es gut, wenn du ein Teil von ihr bist", erwiderte sie mit einem eigenartig melancholischen, aber glücklichen Lächeln. Ihr Blick war wieder auf die Stelle gefallen, mit der sie zuvor gesprochen hatte. „Versprichst du mir, dass du mich immer daran erinnerst was wahr ist?"
„Natürlich, wenn du das möchtest." Seine Stimme hatte kratzig geklungen. Da hatte sie ihn wieder angeschaut, aus diesem meergrünen Augen, die ihm die ganze Welt versprachen. Sie überraschte ihn immer wieder.
„Ich möchte dich nicht vergessen", ein leichtes Lachen war erklungen „auch wenn du schwer zu vergessen bist, habe ich doch Angst, dass mein Kopf mir einen Streich spielt, Finnick Odair."
Tränen hatten sich in ihr Lachen gemischt.
„Auch wenn ich am liebsten vergessen würde, was geschehen ist", schniefte sie. „Aber dich möchte ich in Erinnerung halten. Das bedeutet wohl, dass die Schmerzen bleiben müssen."
Dies war das erste Mal seit langem, dass ihm wieder ungehindert Tränen über das Gesicht liefen. Er schämte sich ihrer nicht.
„Ich werde dich immer erinnern."
Es hat viele Nächte gebraucht, in denen er sie einfach in den Armen hielt und ihre Albträume vertrieb. Viele Tage an denen er ihr helfen musste zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Aber gemeinsam sind sie in den letzten Jahren zu einem festen Team zusammengewachsen.
Er hat lernen müssen wie er am Besten auf ihre jeweilige Verfassung reagieren kann. Es ist nicht immer einfach gewesen, an die Zeit vor der Arena anzuknüpfen, doch in jeder heimlichen Nacht auf Emerald Isle wurde das Gefühl der Liebe in seiner Brust nur stärker. Mit der Zeit hat er ein Gefühl dafür bekommen, wie weit sie in ihre Gedankenwelt abdriften darf, bevor er sie zärtlich zurückholen muss.
In diesem Moment wird er sich ihrer warmen Hand in seiner schlagartig wieder sehr bewusst.
„Erde an Finnick!", reißt ihn ein Ruf aus seinen Gedanken an die Vergangenheit.
Annies grüne Augen blicken ihm entgegen, noch lebendiger und tiefgründiger als in seinen Gedanken eben. „Hey du Träumer, das ist doch eigentlich meine Sache die Welt um mich herum zu vergessen", lacht sie.
Er erwidert ihr Lachen und zieht sie in seine Arme um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken.
„Von Zeit zu Zeit halten mich meine Gedanken auch mal beschäftigt", murmelt er in ihre nach Sonne und Meer riechenden Haare.
Sie haben mittlerweile fast den Saum der Stadt erreicht. Noch sind sie durch einige trockene Büsche einigermaßen vor den Blicken geschützt, doch gleich werden sie wieder zurück in ihre Rollen fallen müssen. Wehmütig atmet Finnick noch einmal Annies Duft ein. Wird ihr Leben jemals nur ihnen gehören? Das Gespräch mit Beetee drängt sich wieder in seine Gedanken. Vielleicht gäbe es bald einen Weg ...
„Sind es dunkle Erinnerungen?", fragt Annie ihn jetzt prüfend. Seine Miene muss ihn verraten haben.
„Nein. Sie sind wie Regen an einem Sommertag. Warm und glücklich, mit einem Hauch von Wehmut."
„Manchmal denke ich, du solltest Gedichte schreiben", schmunzelt Annie. „Du findest schönere Worte für Gefühle als jeder, den ich sonst kenne."
„Wenn ich eines schreiben würde, dann würde ich es nur für dich schreiben können. Niemand außer dir lässt mich diese Worte finden."
Für einen Moment blicken sie sich fest in die Augen, doch dann ist dieser Moment vorbei und Finnick grinst wieder frech.
„Abgesehen davon würde sie eh niemand außer dir lesen wollen, so kitschig wären sie."
„Oh, ich wette deine Verehrerinnen würden sich darauf stürzen so eine Liebeserklärung zu lesen", antwortet Annie leichthin. „Für sie wäre es wahrscheinlich noch nicht genug Kitsch."
Prüfend zieht Finnick eine Augenbraue hoch. Ihn verwundert diese Nonchalance mit der Annie seinem zweiten Leben gegenüber steht immer wieder. Er wartet darauf, dass sich Eifersucht in ihrer Stimme zeigt, doch Annie geht einfach ein paar Schritte weiter. Als sie merkt, dass er ihr nicht folgt, dreht sie sich um.
„Vermutlich müsste ich das. Aber jedes einzelne Wort wäre mir für sie zu schade."
Seine Stimme ist fest und er grinst dieses Mal nicht. Annie blickt ihn kurz an, dann kommt sie die wenigen Schritte zu ihm zurück. Ihre Hände auf seiner Brust fühlen sich federleicht an.
„Tut mir leid, das war nicht passend." Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Ich weiß, dass sie dir nichts bedeuten. Und ich hoffe, dass du weißt ...", sie hält kurz inne, die Stirn nachdenklich in Falten, als wenn sie ihre Worte erst prüfen muss, „ich hoffe du weißt, dass es mir auch nichts bedeutet", schließt sie schließlich.
„Ich weiß, dass du das immer wieder sagst, aber manchmal ist es schwer zu glauben", seufzt er ehrlich. „Wenn du es noch ein paar mal öfter sagst, vertreibt es vielleicht die Zweifel."
Annies Gesicht leuchtet auf. „Ich sage es dir gerne jeden Tag wieder, so wie du mich an die Wirklichkeit erinnerst!"
„Abgemacht."
Vielleicht, so denkt Finnick bei sich, hilft sie ihm so tatsächlich, weiter die Geheimnisse des Kapitols zu stehlen. In stummer Übereinkunft gehen sie – jetzt mit einigem Abstand zwischen einander - zurück zum Hafen. Die Stadt rückt näher und mit ihr auch seine Rolle die er ausfüllen muss. Wie schön es wäre, wenn sie ihre Beziehung nicht verstecken müssten.
Doch so laufen sie stumm nebeneinander her, bis sie das Hafengebiet erreichen. Die Fischer die ihre Boote fertig machen beachten sie nicht weiter. Es herrscht einiges Treiben und die ersten Schiffe verlassen bereits den Hafen. Zwischen all den Arbeitern, die nur ihre heutigen Aufgaben vor Augen haben, fallen sie nicht weiter auf. Hier denkt jeder nur an den bevorstehenden Tag und dass die Fangquoten erzielt werden müssen. So oder so hat die allgemeine Bevölkerung nicht so viel für ihre Sieger übrig wie man denken könnte. Manche scheinen vergessen zu haben, dass sie einst ein Teil von ihnen waren.
Einzig der Blick eines Friedenswächters, der an einem Aussichtsturm stationiert ist, scheint förmlich an Finnick und Annie zu kleben. Er verfolgt sie mit seinem Blick, doch es ist nichts Verbotenes daran, am frühen Morgen durch den Hafen zu gehen. Er kann nicht gesehen haben wo genau sie herkamen. Trotzdem macht die Beobachtung Finnick unruhig.
Plötzlich lässt ein Schrei Finnick zusammen zucken. Noch einmal ertönt der Schrei und er hört eine Stimme seinen Namen rufen.
„Finnick!"
Suchend blickt er in die Menge an grau uniformierten Arbeitern und erkennt Amber, die sich durch die Masse schiebt.
„Finnick", ruft sie wieder, eine Hand erhoben, um ihm zu winken. Ihr Gesicht ist rot vor Anstrengung. Es sieht aus, als wäre sie den ganzen Weg vom Dorf der Sieger hinunter zum Hafen gelaufen. Keuchend schubst sie zwei Fischer beiseite, die sich nicht trauen etwas zu sagen, als sie sehen, wer sie Beiseite geschoben hat.
Beunruhigt sieht Finnick sich nach Annie um, die sich mit großen Augen hinter ihn drängt. Am liebsten würde er ihre Hand ergreifen, doch er fühlt immer noch den Blick des Friedenswächters auf ihm. Warum auch immer Amber im frühen Morgengrauen hier auftaucht, es kann nichts Gutes verheißen. Vor allem nicht, wenn sie offensichtlich gerannt ist. Ein kaltes Gefühl steigt in ihm auf. Könnte es sein, dass ihr Verschwinden bemerkt wurde?
„Finnick, gut, dass ich dich finde." Nach Luft schnappend hält Amber vor ihm an, die Hände in die Seite gestemmt. Besorgt greift er nach ihrem Arm, doch sie schlägt seine Hand unwirsch weg, etwas Unverständliches keuchend.
„Ihr müsst sofort mit kommen", sagt sie, nachdem sie tief Luft geholt hat, „Mags hatte einen Schlaganfall."
Jedes Kapitel mit Finnick und Annie wärmt mein Herz, da die beiden einander einfach so sehr lieben. Leider gibt es ein unsanftes Erwachen für die beiden. Wie es Mags wohl gehen wird?
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