06 | Von Salz und Muscheln - Part I
Eine seichte Brise weht über die anwesende Trauergesellschaft. In der Ferne hört man das Meer rauschen und über uns kreischen die Möwen. Die Flagge Panems wellt sich im Wind, um jedem Anwesenden das herrschaftliche Siegel unseres Landes zu präsentieren.
Wir stehen auf einer weiten Salzwiese am Rande des Distrikts, an einer Klippe über dem Meer. Vor uns steht Bürgermeister Southshore auf einem hölzernen Podest, direkt über einem frisch ausgehobenen Grab. Mit weit ausgebreiteten Armen spricht er zu den Anwesenden – uns Siegern, der Eskorte aus dem Kapitol und allen übrigen Trauernden aus dem Distrikt.
Wir Sieger stehen eng beieinander, endlich wieder vereint – wenn auch eine mehr in diesem Jahr. Das hellrote Haar von Riven schimmert unter ihrer goldenen Krone.
Als Einzige von uns steht sie oben auf der Bühne neben dem Bürgermeister. Ihr Gesicht wirkt leer, auch wenn ihre Augen gerötet sind. Neben mir steht Mags, ihre runzlige Hand fest in meiner. Doch auch Finnicks Nähe spüre ich, ruhig wie ein Fels in der Brandung hinter mir.
„Eric hat mit seinem Mut bewiesen, dass wir aus Distrikt vier im wahrsten Sinne des Wortes mit allen Wassern gewaschen sind. Sein Einsatz für unseren Distrikt wird immer unvergessen bleiben. Seine Tapferkeit möge zukünftigen Tributen eine Lehre sein. Die Geschichte seines ehrenhaften Kampfes wird auch noch die, die nach ihm kommen inspirieren, in der Arena zu einem Helden zu werden, um Ruhm und Ehre für seinen Distrikt zu erringen. Heute wollen wir seinem Heldenmut gedenken und ihm größte Ehre zuteil werden lassen."
Leises Schluchzen füllt die Stille. Neben dem Grab steht Erics Familie an seinem Sarg, in ihre besten Klamotten gekleidet. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater sind schmächtige Fabrikarbeiter. Selbst ihre beste Kleidung ist mit geflickten Löchern versehen. Ein älteres Mädchen, seine Schwester, steht mit versteinertem Gesicht neben ihnen, während die Eltern einander weinend in den Armen halten.
Southshore blickt sie nicht einmal an, als er seine Rede beendet.
„Auf Eric Keenway, Tribut der 73. alljährlichen Hungerspiele! Möge die See seine Seele hüten!"
Murmelnd wiederholen wir Anwesenden die letzten Worte.
Vier Friedenswächter ergreifen den Sarg, dessen polierte Oberfläche in der Sonne glänzt. Die festliche Flagge Panems ist darüber gespannt und darauf wiederum ist eine einzige weiße Rose festgesteckt , wie eine letzte Erinnerung daran, wer seinen Tod zu verantworten hat. Sie lassen seinen Sarg hinab in das Erdloch, während im Hintergrund die Hymne gespielt wird.
In der Tat ist es so etwas wie eine Ehre, auf dem Friedhof beerdigt zu werden. Ein solches Begräbnis kann sich nicht jede Familie leisten, vermutlich auch Erics eigentlich nicht. Nur die Wohlhabendsten aus Distrikt vier können sich einen Sarg und Grabstein leisten. Die meisten werden verbrannt und anschließend auf dem Meer verstreut, ohne eine einzige Erinnerung an ihr Leben zu hinterlassen. Nur die gefallenen Tribute und verstorbene Sieger werden noch hier beerdigt – großzügig gesponsert von dem Kapitol. Nicht einmal im Tod lässt das Kapitol uns vergessen, wer die Macht hat.
Sobald der Sarg im Grab verschwunden ist, schreitet Erics Familie vorwärts. Jeder von ihnen streut eine Handvoll Salz herab in sein Grab.
„V-vielen Dank, Bürgermeister Southshore", sagt die Mutter unter Tränen zum Podest gewandt.
„Ich bin mir sicher unser Eric ... er hätte sich bestimmt geehrt gefühlt."
Immer mehr Tränen strömen über ihr Gesicht als sie sich an ihren Mann klammert.
„Er hat so große Träume gehabt", fährt sie fort, „e-er wollte ..."
Doch ihre Worte versiegen, als die Tränen erneut die Überhand gewinnen. Stattdessen tritt die Schwester vor, ihre Miene immer noch unbeweglich. Kaum merklich verändern die Friedenswächter ihre Haltung.
„Was meine Mutter sagen will", erklärt sie mit erstaunlich fester Stimme, „ist, dass Eric mehr war als nur ein mutiger Tribut. Er war ein herausragender Koch und-"
„Ah ja, meine Liebe, selbstverständlich war Eric ein wunderbarer Junge", unterbricht der Bürgermeister sie, „und ich bin mir sicher, dass ihr sein Andenken bewahren werdet. Seine Geschichte wird man sich noch in Jahren zur Inspiration erzählen. Leider neigt unsere Feier sich dem Ende zu und wir haben, fürchte ich, keine Familienrede vorgesehen. Aber wir werden uns an seine Geschichte erinnern."
Erics Mutter legt ihrer Tochter eine Hand auf den Arm und diese schluckt ihre Worte hinunter. Mit gesenktem Kopf sagt sie:
„Natürlich, Bürgermeister. Vielen Dank für ihre Worte."
Damit sind wir an der Reihe, unsere Ehre zu erweisen. Jeder nehmen wir eine Handvoll Salz aus dem Behälter neben dem Sarg, um es auf den Sarg herab rieseln zu lassen. Von fern ertönt Glockengeläut aus der Stadt, zu Ehren Erics.
Für einen Moment trifft mein Blick den von Erics Schwester. Beschämt wende ich mich ab. Ich erinnere mich kaum an ihn. Das einzige Bild, was ich von ihm vor Augen habe, ist das eines großen 18-jährigen, der sich selbstsicher bei der Ernte freiwillig meldet. Blonde Haare und kräftig gebaut, das Musterbild eines Karrieretributes aus der Akademie. Nichts weiß ich über ihn, habe ihn nie kennengelernt. Meine Trauer fühlt sich nicht echt, nicht berechtigt an.
Nach uns treten Riven und Bürgermeister Southshore an das Grab. Auch sie streuen ihre Handvoll Salz herab. Erst jetzt kommen Riven die Tränen. Stumm laufen sie ihre Wangen herab. Sie scheint die Zähne fest zusammen zu beißen, als sie vom Grab zurück tritt. Den Blick auf Erics Familie vermeidend, reiht sie sich bei uns ein, als wir aus dem Weg treten um dem Rest der Trauergesellschaft Platz zu machen.
Einige aus der Akademie sind erschienen, allesamt ehemalige Trainingspartner oder Ausbilder. Keiner von ihnen vergießt eine Träne. Nacheinander werfen sie das Salz hinab, bis der Sarg bedeckt ist. Erst dann schaufeln die Friedenswächter Erde hinein. Am Ende erinnern nur ein Hügel frischer Erde und ein silberner Grabstein an Eric Keenway, den Jungen aus den 73. Hungerspielen, der als Viertletzter starb, getötet von einem Jungen aus Distrikt fünf.
Die Glocken verklingen, während die Leute sich langsam verstreuen. Insbesondere der Bürgermeister scheint es eilig zu haben, den Friedhof zu verlassen. Auch Riven stürzt förmlich von dannen, begleitet von Mags und den übrigen Mentoren – bis auf Finnick.
Zum Abschied tätschelt Mags sacht meine Hand.
„Sie braucht uns jetzt."
Ehe ich mich versehe, sind Finnick und ich die Einzigen auf dem Friedhof, abgesehen von Erics Familie. Doch diese haben sich in einem engen Kreis zusammen gestellt, ohne uns weiter zu beachten.
Finnick lächelt mich sanft an. Mit einer Hand wischt er die Tränen von meinen Wangen. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich geweint habe.
„Hast du heute wieder Morfix genommen?", fragt er leise, seine Stimme warm und zeitgleich doch traurig. So viel ungesagtes schwingt in seinen Worten mit. Ich greife nach seiner Hand an meiner Wange, ehe ich nicke.
„Ohne hätte ich das nicht durchgestanden." Traurig blicke ich ihn an. Meine Stimme ist immer noch heiser von dem Tag des Finales.
Er seufzt, doch es ist kein Vorwurf an mich. Wir wissen beide, dass es an manchen Tagen nicht ohne das Medikament geht, das meine Gedanken vernebelt und mir für ein paar Stunden Sorglosigkeit verspricht. Eines Tages vielleicht, doch heute ist es nicht so weit.
„Ich bin so stolz auf dich. Isla hat mir erzählt wie gut du dich geschlagen hast, während ich weg war. Ganz ohne Morfix beim Finale, das ist schon ein Sieg für uns."
Zögerlich zieht er mich in eine Umarmung. Er drückt mich fest, aber dann löst er sich schnell wieder. Es darf uns keiner so sehen, das ist die erste Regel.
So schwer es auch ist, doch es darf niemand wissen was wir füreinander empfinden. Solange unsere Liebe geheim ist, kann sie auch keiner als Waffe gegen uns einsetzen. Dennoch sehne ich mich danach ihn festzuhalten, ihn nie wieder gehen zu lassen.
Anders als Mags sagt, wird es mit jedem Mal schwerer ihn wieder ins Kapitol gehen zu lassen, sobald sie nach ihm rufen. Ich weiß nie, wann ich ihn wiedersehen werde. Was mit ihm passiert. Ob es ihm gut geht, oder seine Ängste ihn quälen. Die Ungewissheit ist manchmal schlimmer zu ertragen als die Geister meiner Vergangenheit.
„Du willst bestimmt noch die anderen besuchen, nicht wahr?", ruft er mich leise zurück in die Gegenwart.
Ich nicke. Es ist nicht nur die heutige Beerdigung, des für mich unbekannten Tributs, wofür ich das Morfix brauche.
Eng beieinander, doch ohne Hände zu halten, wandern wir die Reihe an Gräbern entlang. Vier weitere Tribute aus den Jahren nach meinem Sieg liegen dort beerdigt. Auf den Gräbern wachsen kleine, knotige Pflänzchen mit weißen Blättern und auf einigen stehen Grablichter.
Nicht unweit von Erics frischem Grab liegt es auch schon, das Grab von Pon Amberson. Mein kleiner Mittribut liegt hier begraben. Er ist nicht der ruhmreiche Karrieretribut, welcher freiwillig in den Tod gegangen ist, sondern ein zwölfjähriger Junge, der starb, weil er der falschen Person vertraut hat. Und weil ich ihn nicht beschützen konnte. Ein weiterer silberner Grabstein mit der schlichten Inschrift Pon Amberson – Tribut der 70. Hungerspiele ist das Einzige, was an ihn erinnert.
Ich lasse mich auf die Knie sinken. Finnick bleibt neben mir stehen und beobachtet wie Erics Familie den Friedhof verlässt.
„Hallo Pon", flüstere ich. Ich hole tief Luft, den Blick gen Himmel gerichtet.
„Schon wieder ist ein Jahr um. Ich hoffe du verzeihst mir, dass ich nicht öfter da war."
Ich schlucke gegen den Kloß an, der sich in meinem Hals bildet.
„Dieses Jahr gibt es wieder eine Siegerin."
Unwillkürlich frage ich mich, wie oft ich wohl noch hierher kommen werde, um Pon dies zu erzählen. An wie vielen Gräbern werde ich in ein paar Jahren vorbei gehen müssen? Meine Hände fangen an zu zittern. Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter, ohne etwas zu sagen. Ich richte meinen Blick wieder auf das sprießende Grün vor mir. Fahrig rupfe ich ein wenig Unkraut weg von den Salzpflänzchen, ehe ich weiter sprechen kann.
„Zuhause im Garten wächst alles wunderbar. Erst vor ein paar Tagen haben wir Erdbeeren gepflanzt. Die würdest du bestimmt mögen..."
Eine Weile erzähle ich so weiter, von dem Garten und allem, was in letzter Zeit so in Distrikt vier vor sich ging. Zum Abschied streiche ich über den Grabstein, kalt unter meinen Fingern. Es sind erst drei Jahre, die Pon tot ist, doch es fühlt sich an wie eine kleine Ewigkeit.
„Ich vermisse dich."
„Ich auch", ergänzt Finnick, „wir alle."
Kurz drehe mich zu ihm um und drücke seine Hand. Ich weiß, dass es ihm nicht so leichtfällt mit einem Toten zu reden, wie mir. Sein Blick gleitet geistesabwesend über die Reihe an Gräbern. Es ist nicht nur Pon, den er vermisst, das wird mir wieder einmal schmerzlich bewusst.
„Pass gut auf Eric auf, ja?", füge ich noch hinzu. Vielleicht ist es kindisch, so mit ihm zu reden, doch es hilft. Jedes Wort laut auszusprechen, macht es ein Stück weit erträglicher. Als würde er mir immer noch zuhören. Erneut laufen die Tränen über mein Gesicht. Pon verdient jede einzelne von ihnen. Er war so jung und unschuldig, es hätte ihn einfach nicht treffen dürfen.
Nur schweren Herzens kann ich aufstehen.
„Auf wiedersehen, Pon."
Langsam gehen Finnick und ich weiter durch die Reihen der Gräber. Er sagt nichts, doch ich weiß, dass auch er in Gedanken bei den verstorbenen Tributen ist. Bevor ich in sein Leben trat, hat er nie den Friedhof besucht, das hat er mir erzählt. Die Angst vor den Erinnerungen an die Spiele war zu groß. Wenn er die Gräber nicht gesehen hat, so hat er es mir gesagt, dann sei es als wenn sie vielleicht nie gestorben wären. Er konnte es schlichtweg nicht ertragen, diese Endgültigkeit des Friedhofs.
Merkwürdig, denke ich, dass mich der Friedhof nicht ebenso beunruhigt. Die Beerdigung eines Tributs ist unerträglich, der Anblick der verzweifelten Eltern am Grab ihres Kindes, die Erinnerung an Snow und das Kapitol. Doch der Friedhof, menschenleer so wie jetzt, hat etwas eigenartig tröstliches. Eventuell rede ich mir aber auch nur ein, dass die Tribute hier unter den Salzblumen Frieden gefunden haben, weit weg vom Kapitol und mit dem Rauschen des Meeres als Kulisse.
Wir erreichen das Ende der Reihe und stehen jetzt vor einer Art Schrein direkt an der Klippe. Eigentlich ist es nur ein knorriger alter Baum, gekrümmt von Wind und Wetter. An seinen dicken Ästen jedoch hängen unzählige Muschelschalen, an bunten Bändern um die Äste geknotet. Manche sind von der Sonne bereits ausgeblichen, andere noch frisch. Von wieder anderen ist nichts als das zerfledderte Band übrig geblieben. Jede Muschel ist ein Wunsch für einen Verstorbenen, aufgehängt von Familie oder Freunden. Mitunter sind Worte auf die rosige Innenseite der Schale geschrieben oder geritzt.
Da niemand sonst in Sicht ist, treten Finnick und ich Hand in Hand unter den Baum. Ein leichter Windstoß fährt zwischen die Äste und bringt die Muscheln zum Klirren.
Mir fährt ein wohliger Schauer über den Rücken aufgrund des vertrauten Geräusches. Der Muschelbaum ist eine Erinnerung an all jene, die kein Grab auf dem Friedhof haben. Egal ob reich oder arm, hier kann jeder seine Muschel aufhängen. Direkt unterhalb der ausladenden Äste bleiben wir stehen.
Ich blicke hinauf in das Geäst. Unzählige Muscheln schwingen über mir im Wind hin und her. Es ist schwer eine einzelne auszumachen, doch ich meine zu erkennen, dass die Letzte, die ich im vorigen Jahr für meine Familie aufgehängt habe, bereits verschwunden ist. Wenn eine Muschel verschwunden ist, so heißt es im Distrikt, dann hat der Wunsch die Toten erreicht.
Ich greife in meine Tasche und ziehe eine frische Muschel heraus. Erst an diesem Morgen habe ich sie am Strand gefunden, weswegen der Geruch des Meeres ihr immer noch anhaftet. Ein fröhliches gelbes Band ist durch ein kleines Loch an der Oberseite gefädelt.
„Hebst du mich hoch?", frage ich Finnick.
„Na klar."
Er umfasst mich an der Taille und hebt mich vorsichtig hoch, bis ich die unteren Äste erreichen kann. Mit flinken Fingern knote ich das Band dreimal zusammen. Drei Knoten für das Glück, wie es die Tradition will.
Einen Moment halte ich inne, die Hände um die Muschel geschlossen. Die Augen geschlossen denke ich an meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und schließlich an David. Alle meine Menschen, die ich geliebt und verloren habe.
Zuerst meine Mutter an die Grippe als ich klein war, dann meinen Vater an einen Hochseeunfall und schließlich sowohl David, als auch meinen kleinen Bruder in einem Brand. Doch mindestens am Tod meines Vaters hat das Kapitol Schuld. Mein Vater wäre nicht gestorben, hätte ich mich nicht Präsident Snow widersetzt. Hätte ich Maylin aus Distrikt zwei getötet, dann wäre er heute vielleicht noch da. Doch er hatte einen mysteriösen Unfall auf hoher See, an dessen Folgen er gestorben ist. Weil ich es nicht in mir hatte, Maylin zu töten, die Tributin mit rebellischem Gedankengut.
David, mein Freund aus Kindheitstagen und später auch mehr als das, die Person die ich liebte – oder doch nur zu lieben glaubte, ist hingegen in einem Feuer in der Fischfabrik in der er arbeitete verbrannt. Auch mein damals erst siebenjähriger Bruder, der ihn nur in der Mittagspause besucht hatte, ist dabei umgekommen. Vielleicht eine sinnlose Strafe für mein Überleben in den Spielen, vielleicht aber auch nur ein grausamer Zufall. Wahrscheinlich werde ich es nie mit Gewissheit sagen können.
Ich blinzle die Tränen fort. Wir sind nicht im Guten auseinander gegangen, David und ich. Er konnte nicht verstehen, warum ich bereit gewesen wäre, mein Leben für Pon zu opfern. Dennoch hat sein Tod mich tief getroffen.
Ich habe davon erst erfahren, kurz bevor ich aus dem Kapitol zurück nach Distrikt vier gebracht wurde, als frischgebackene Siegerin der Hungerspiele. Anders als für Riven in diesem Jahr stand bei meiner Ankunft keine Familie am Bahnhof, um mich überglücklich willkommen zu heißen.
Meine Familie sind jetzt die anderen Sieger. Bis ich eines Tages im Tode wieder vereint werde mit meiner Familie, passen sie auf mich auf.
Von meiner Familie fliegen die Gedanken so auch zu den anderen toten Tributen aus meinen Hungerspielen. Insbesondere zu Aramis, meiner ehemaligen Verbündeten. Auch sie möchte ich in meine Wünsche einschließen. Vermutlich hat sie irgendwo in Distrikt zehn ein Grab, doch das werde ich nie sehen. Ohne sie würde ich vermutlich heute nicht hier stehen. Wo auch immer sie jetzt alle sind, ich hoffe inständig es geht ihnen gut.
Ich gebe meiner Muschel einen kleinen Kuss. Sanft setzt Finnick mich wieder auf der Erde ab. Für einen Moment hält er mich einfach so fest. Die Wärme seiner Arme spendet mir Geborgenheit. Ich lehne meinen Kopf an seine Brust und fühle mich, als würde ein Sonnenstrahl mein trauriges Herz wieder erwärmen. Am liebsten würde ich ihn hier festhalten, doch er löst sich vorsichtig, aber nicht ohne mir vorher ins Ohr zu flüstern.
„Ich liebe dich."
Seine Stimme ist schwer mit unausgesprochenen Gefühlen. Seufzend streiche ich ihm über den Rücken. Werden wir je aufrichtig nebeneinander stehen können, ohne Angst haben zu müssen, unsere Gefühle zu zeigen? Vermutlich nicht. Er ist schließlich der Darling des Kapitols, der Traum vieler Frauen und eine Gallionsfigur der Hungerspiele.
Finnick Odair, der jüngste Sieger in der Geschichte. Ihm liegt das Kapitol zu Füßen – solange er nach ihren Regeln spielt. Und ich bin nur Annie Cresta, die durch mehr Glück als Verstand überlebt hat, ihren wenigen Verstand verloren hat und die sich einfach nur von einem Tag zum nächsten kämpft. Seine Liebe zu mir verstößt gegen alle Regeln des Kapitols. Lieber liebe ich jedoch in Angst, als gar nicht zu lieben. Jede gestohlene Stunde zusammen mit Finnick ist mehr wert als alle Reichtümer im Kapitol.
Jetzt ist Finnick an der Reihe und knotet seine Muschel an einen Ast. Für einen Moment verharrt auch er in Gedanken an seine Familie und alle, die er noch verloren hat. Ich weiß, dass er schon lange ein Waisenkind ist, schon vor seinen Spielen. Wir reden nicht oft darüber, denn manchmal ist es einfacher die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Nur in den frühen Morgenstunden, wenn die Welt stumm und noch in den Schleier der Nacht gehüllt ist, dann reden wir mitunter über die Albträume. Auf eine eigenartige Art und Weise fühlt es sich in diesem Zwischenstadium von Nacht und Tag an, als wären die Dinge weniger real, was es einfacher macht darüber zu sprechen.
Vielleicht sind wir Sieger einfach nicht dafür gemacht eine Familie zu haben, denke ich. Gebrochen und kaputt gibt es niemanden, außer den anderen Siegern, der wirklich unser Leid versteht. Wir sind gefangen in unserer eigenen Welt von blutbefleckten Träumen, grausamen Schmerzen und dem Drang nach Vergessen.
Ich fasse Finnick wieder bei der Hand. Falsch, denke ich, wir sind nicht ganz ohne Familie. Wir sind jetzt eine Familie. Über uns klappern leise die Muscheln im Geäst als wäre es Musik. Zaghaft hebe ich meine Stimme. Die Erinnerung an das alte Lied füllt mich aus, als die Worte über meine Lippen schweben.
Tief unten,
Im Meer,
Im bunten Riff,
Wer lebt dort wohl?
Es ist die kleine Meerjungfrau
In ihrem Muschelsplitterhäuschen
Sieh,
Wie sie mit den Wellen schwimmt
Mit den Wellen schwimmt
Hör,
wie lieblich sie singt
Sie singt
Ein kleines Wunder sie ist
Sieh,
Wie ihr Haar schimmert
Ihr Haar schimmert
Hör,
Wie klar ihre Stimme ist
Ihre Stimme ist
Ein kleines Wunder sie ist
Tief unten,
Im Meer,
Im bunten Riff,
Dort lebt die kleine Meerjungfrau
Sie schwimmt mit den Wellen
Mit den Wellen
Ewig.
Ich habe keine besonders schöne Singstimme und noch dazu ist es das einzige Lied, was ich vollständig kenne. Es ist ein altes Seemannslied aus Distrikt vier, das meine Mutter mir beigebracht hat. Vielleicht gerade deswegen, fühlt es sich richtig an, es zu singen.
Mein und Finnicks Blick treffen sich als die letzten Töne verklingen. Tränen schimmern in seinen unfassbar grünen Augen.
„Hab ich so schlimm gesungen?", frage ich, fast schon überzeugend scherzend, wäre meine Stimme nicht so schwach. Ein breites Grinsen huscht über sein Gesicht.
„Ich liebe es wie fürchterlich du singst."
Nun rollen die Tränen seine Wangen hinab. Er wischt sie nicht fort und wendet auch nicht den Blick ab.
„Und die anderen wissen es bestimmt auch zu schätzen wenn du für sie singst."
Ich lächle zittrig. Die Wirkung des Morfix lässt langsam aber sicher nach und die angenehme Verneblung unerwünschter Gedanken lichtet sich, doch seine Anwesenheit erdet mich.
„Danke, dass du das sagst."
Finnicks tränen-verschleierter Blick wandert gen Meer.
„Weißt du, heute wäre ein guter Tag für einen kleinen Ausflug. Unten im Distrikt ist alles in Feierstimmung und die Friedenswächter sind bestimmt noch ganz dusslig von der Siegesfeier gestern. Uns wird schon keiner vermissen."
Mein Herz schlägt einen Schlag schneller. Den ganzen Tag ohne schlechtes Gewissen mit ihm verbringen?
„Meinst du wirklich? Nicht, dass Cece uns nachher suchen lässt..."
Finnick verzieht bei der Erwähnung unserer Betreuerin aus dem Kapitol das Gesicht. Sie ist eine unausstehliche Person mit grell orangenem Haar und mindestens ebenso grellen Manieren, doch leider müssen wir sie jedes Jahr zu den Spielen wiedersehen. Erst heute Abend wird sie zurück in das Kapitol reisen – und hoffentlich erst zur Siegestour von Riven wieder auftauchen.
Doch als er mir antwortet glitzert schon wieder der Schalk in seinen Augen.
„Oh, darum würde ich mir keine Sorgen machen. Ich glaube der Bürgermeister hat sie heute ganz in Beschlag genommen, die Arme. Bestimmt will er sie heimlich durch die Akademie führen, um mit den ganzen potentiellen zukünftigen Siegern zu prahlen. Nein, dieser Tag gehört uns."
Er lächelt mich an und ich lächle zurück.
„Dann nichts wie los."
Da sowohl Katniss, als auch Peeta die Spiele gewonnen haben, gab es in den Büchern nie eine Tribut-Beerdigung, aber ich habe es mir immer sehr bedrückend vorgestellt - vor allem wenn man bedenkt, dass in den meisten Fällen gleich zwei Tribute beerdigt werden. Wenigstens sind Finnick und Annie jetzt endlich wieder beieinander! Die beiden hätten noch so viel mehr Zeit miteinander verdient, meint ihr nicht?
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