
02 | Die Sieger - Part II
In den sonnigen Straßen des Kapitols hört man fröhliche Gespräche und das Gelächter spielender Kinder, obwohl die Hitze bereits frühmorgens auf die Stadt drückt. Doch innerhalb des Hochhauses der Hungerspiele ist es dunkel. Getönte Fensterscheiben verdunkeln die Sicht nach draußen – und verbergen, vor allem was drinnen vor sich geht. Der zwölf Stockwerk hohe Bau über dem unterirdischen Trainingscenter erhebt sich zwar weithin sichtbar in der Mitte des Kapitols, aber das Leben innerhalb ist abgeschieden von der Außenwelt.
An allen Wänden des Raumes hängen übergroße Bildschirme, auf dem überwiegenden Teil wird aus verschiedenen Winkeln die Arena der Hungerspiele gezeigt. Auf den Übrigen werden diverse Vitalfunktionen und andere Daten aufgezeichnet. Ein kränklich blaues Licht das von den Bildschirmen ausgeht beherrscht den Raum und lässt die zwei davor sitzenden Mentoren umso ausgezehrter wirken.
Für einen Moment löst Finnick seine Augen von der Szenerie der Arena. Geistesabwesend reibt er sich über das Gesicht. Die letzten Tage sind besonders nervenaufreibend gewesen. So sehr, dass er nicht einmal mehr weiß, wann er zuletzt geschlafen hat. Mittlerweile sind es die siebten Hungerspiele für ihn als Mentor. Lediglich im ersten Jahr nach seinem Sieg hatte das Kapitol so etwas wie Gnade gekannt und ihn nicht verpflichtet. Doch seitdem saß er jedes Jahr wieder in dem Überwachungsraum, hilflos dabei zusehend, wie die Kinder aus den Distrikten für eine sinnlose Sache starben.
Wobei, gänzlich hilflos sind die Mentoren nicht, überlegt er bitter. Sie dürfen ihre Tribute für eine Woche ausbilden, um Sponsorengelder betteln und versuchen, Allianzen zu schmieden. Aber wenn er eines gelernt hat, dann, dass die Hungerspiele sich nie vorherbestimmen lassen. Wettkalkulationen im Fernsehen scheinen ein vergnüglicher Spaß für die breite Bevölkerung zu sein, doch nicht selten trotzt ein Tribut allen Erwartungen. Zuweilen fühlt er sich, als würde er Wasser treten, jeder Versuch, das Überleben ihrer Schützlinge zu sichern, zum Scheitern verdammt. Nur in einem Jahr hat er einen Sieg erlebt und der hat ihn fast alles gekostet.
Sein Blick schweift zu der dunklen Fensterfront. Es ist nur ein schmaler Streifen Blau, den er über den angrenzenden Prachtbauten erahnen kann, doch immerhin ist dies der einzige Ausblick auf etwas, das nichts mit den Hungerspielen zu tun hat. Unausweichlich gleiten seine Gedanken fort von dem stickigen Raum. Fort zum Meer, nach Distrikt Vier. In die idyllische kleine Siedlung der Sieger – zu Annie. Heute ist er seit 20 Tagen von Zuhause weg.
Wie immer wenn er an sie denkt, mischen sich Freude und Traurigkeit in seiner Brust. In all der Schrecklichkeit der Spiele ist sie sein heller Lichtblick, die Aussicht darauf, wieder an ihrer Seite sein zu können, gibt ihm die Kraft weiterzumachen. Doch jeden Tag, den die Spiele länger gehen, vermisst er sie mehr – hat er mehr Angst um sie, dass ihre Albträume sie wieder überwältigen könnten. Es ist ein schwacher Trost, dass er Isla an ihrer Seite weiß.
Doch solange bis es vorbei ist, ist er es den beiden Tributen aus Distrikt vier schuldig alles für sie zu geben. Es ist das Mindeste, was er für sie tun kann. Dieses Jahr haben es beide Tribute wie durch ein Wunder geschafft so lange zu überleben. Fast zwei Wochen sind um und nur noch vier Kandidaten im Ring. Dies ist seiner Empfindung nach eine besondere Form der Hölle. Sollten Riven und Eric sich unabhängig von einander durchgeschlagen haben, nur um jetzt im „Finale" einander gegenüberzustehen?
Sein Blick fällt auf die Kameraübertragung von Riven. Das zierliche Mädchen kauert in der Ruine eines verfallenen Hauses, die Hände dicht an ein schwelendes Feuer gestreckt. Dicke Schneeflocken fallen auf die zerbrochenen Balken des Hauses um sie herum. Ein paar tiefe Kratzer bedecken ihre Wange, doch ansonsten scheint sie wohlauf. In ihrem grimmigen Blick liegt der Wille, um jeden Preis zu überleben – zugleich mit einer tief verborgenen Reue sich jemals freiwillig gemeldet zu haben.
„Brot und Wasser an beide Tribute sind raus", unterbricht Amber Finnicks Gedanken. Sie sitzt mit einem Tablet hinter Finnick an der anderen Seite des Raums, den Blick konzentriert auf die Bildschirme gerichtet. „Abwurf sollte in den nächsten Minuten erfolgen."
Befriedigt legt sie das Tablet ab, streckt sich und dreht sich zu ihm herum.
„Die feinen Leute sind seit gestern Nacht so richtig in Spendierlaune gekommen. Da weiß man ja nicht mal, ob man das noch alles ausgeben kann."
Finnick seufzt. „Vielleicht sollten wir ihnen noch ein paar Salben oder Gegengifte schicken, nur für den Fall der Fälle."
Amber zieht nur eine Grimasse. „Damit nachher beide noch die letzten Überlebenden sind?", sie schüttelt den Kopf. „Ich sage es jetzt noch einmal, auch wenn du es nicht hören willst, aber wir sollten uns endlich auf einen Tribut festlegen. Einer von beiden wird es ohnehin nicht schaffen."
Ihr Blick ist eindringlich auf Finnick gerichtet, der spürt, wie sich etwas in ihm zusammenzieht. Er hasst diese Entscheidungen. Den Gedanken, er könnte bestimmen, wer es wert ist weiter zu leben. Leicht zornig hält er dagegen:
„Es wird immer die falsche Entscheidung sein, egal was passiert."
Mit einem entnervten Seufzen wendet Amber sich von ihm ab. Sie sagt nichts weiter, sondern schüttelt nur wieder den Kopf. Diese Diskussion haben sie beide schon viel zu oft geführt. Doch er kennt sie lange genug, um auch die Anspannung in Ihren Schultern zu erkennen, die fest zusammengebissenen Zähne, die Sorgenfalte auf ihrer Stirn.
„Es ist nicht meine Entscheidung, einen zu wählen."
Das Thema scheint damit für sie beendet und sie tippt eilig wieder auf ihrem Tablet herum.
Nein, denkt Finnick bei sich, es ist nicht unsere Schuld, einen Tribut auswählen zu müssen. Es sind die Spiele und ihre Regeln. Dennoch kann er nicht anders, als sich schuldig zu fühlen.
Es ist nicht so, als würde er eine Liste führen, doch jeder Name der verstorbenen Tribute aus den letzten sieben Jahren hat sich ihm eingebrannt.
Amylin, Flynn, Ephigenie, Titus, Carla, Matthew, Pon, Sia, Gavin, Ylvi und Sam.
Und einer von beiden Tributen auf den Bildschirmen um ihn herum wird in jedem Fall der Zwölfte auf der Liste. Es ist unausweichlich, dass sie sich entscheiden müssen, das weiß auch er tief in seinem Herzen.
Mit einem bleiernen Gefühl in der Magengegend bewegt er einige Regler, um den gegnerischen Tributen zu folgen. Ein kleines Mädchen von gerade einmal 13 Jahren erscheint auf einem der Bildschirme, ihre schmutzigen blonden Haare nass vom Schneetreiben. Sie kauert in den kahlen Ästen eines großen Baums am Rande der zerstörten Stadt, welche die diesjährige Arena bildet. Ihre Hände umklammern ein mehr schlecht als recht selbstgemachtes Blasrohr.
Doch der erste Eindruck täuscht wie Finnick weiß, denn in den vergangen Tagen hat sie mit ihren vergifteten Pfeilen eine blutige Spur quer durch die Arena hinter sich gelassen. Auch jetzt scheint sie nur darauf zu warten einen der verbleibenden Tribute in einen Hinterhalt locken zu können.
Auf der anderen Hälfte des Bildschirms hingegen folgt die Kamera einem grobschlächtigen Jungen, bis an die Zähne bewaffnet mit Messern und einem Schwert. Er bahnt sich seinen Weg durch die Arena mit schweren Schritten, nicht einmal darauf bedacht leise zu sein. Er hält kurz an, um sich zu einem schlammigen Fußabdruck herabzubeugen, ehe er mit großen Schritten weiter durch die Ruinen stapft.
Was er nicht weiß, ist, dass diese kaum noch sichtbaren Spuren von dem Mädchen aus Distrikt elf stammen, welche erst bei Sonnenaufgang an den schleichenden Spuren ihrer Vergiftung gestorben ist. Finnick blickt auf die Übersichtskarte auf seinem Tablet, auf dem jeder Tribut als leuchtender Punkt zu sehen ist. Im Moment bewegen sich alle mit einigermaßen Abstand zueinander, doch das wird nicht lange so bleiben. Am nächsten sind sich ihr Tribut Eric und der hünenhafte Junge aus Distrikt fünf. Mit wenigen Klicks lässt sich der Weg des Tributs vorausberechnen, sollte er weiter der zusehends verblassenden Spur folgen. Wie Finnick befürchtet ist die Gefahr groß, dass die Wege von ihm und Eric sich kreuzen werden.
Über die Schulter hinweg wirft er Amber einen unauffälligen Blick zu. Sie ist immer noch ihrem Tablet zugewandt, doch er bezweifelt, dass sie noch nichts von den Bewegungen der Tribute mitbekommen hat. Vermutlich ist diese Situation überhaupt erst der Grund für ihre Anspannung. Ein weiterer Blick auf die Uhr sagt ihm, dass es gleich neun Uhr ist.
„Ich sollte wohl besser schon einmal die anderen holen gehen zur Morgenbesprechung", sagt er in die Stille hinein. Ohne den Blick zu heben, nickt Amber.
„Bringst du mir einen Kaffee mit? Ich befürchte Schlaf bekomme ich erst mal keinen."
„Klar. Ohne Milch und Zucker, schwarz wie deine Seele?", fragt er neckisch.
Trocken lachend erwidert sie „Du kennst mich zu gut."
Die Mentoren haben Glück und beide ihrer Tribute leben noch - aber wird auch einer von ihnen überleben? Was glaubt ihr, schafft es einer der beiden Tribute nach Hause?
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