4 | Kindermädchen?
Ich hatte die ersten Hürden an meinem ersten Arbeitstag in meinen Augen erfolgreich gemeistert. Da die Besprechung zu Ende war und mein Dienst erst in knapp einer Dreiviertelstunde beginnen sollte, ging ich mit Tristan auf das Sonnendeck, um die ersten fünf Minuten der Abfahrt mitzuverfolgen. Mia hatte ich nicht mehr gesehen. Auch bei der Besprechung hatte ich sie unter den Crewmitgliedern nicht ausmachen können.
Aber mit Tristan würde ich den Rückweg hoffentlich auch ohne unnötige Umwege finden. Die anderen Crewmitglieder - vor allem die weiblichen - betrachteten mich neidisch, als ich mit Tristan durch die Gänge und über die Decks lief, als wären wir zwei alte Schulfreunde. Ich wusste zwar jetzt, dass er auf dem Schiff eine ganz schön große Rolle spielte, aber deswegen sah ich ihn nicht in einem anderen Licht, so wie es ein Großteil der an Bord befindlichen Personen wahrscheinlich tat. Außerdem hatte ich immer noch das Gefühl ihm etwas schuldig zu sein, daher entschied ich mich dafür diese ganze ‚Erbe-dieser-unglaublichen-Geschichte'-Geschichte zu ignorieren und ihm einfach etwas Platz zum Atmen zu geben. Er konnte schließlich auch nichts dafür.
Kaum waren wir auf dem Deck angelangt, fing der Boden mit einem Mal stärker als je zuvor an unter uns zu vibrieren und ich hielt mich unwillkürlich an der Reling fest. Das Schwanken rührte nicht von den Wellen her, wie ich im ersten Moment vermutet hatte und wie es noch vor einer Stunde auf der Kabine gewesen war. Tristan lachte.
„Das ist der Motor.", sagte er, ohne den Blick von den Wellen zu nehmen und ich ließ die Holzbrüstung, die ich bis dahin fest umklammert hielt, vorsichtig los. Wenn er das sagte, dann musste es auch stimmen. Er kannte sich auf diesem Schiff schließlich besser aus als ich.
„Okay", sagte ich gedehnt und folgte ihm auf etwas wackeligen Beinen weiter über das Deck.
„Du wirst dich an das Schaukeln schon noch gewöhnen.", sprach er mir gut zu und ich nickte. Wir schauten dabei zu, wie sich das Schiff langsam durch die Wellen drückte und sie von sich wegschob. Sie schlugen krachend an die Hafenanlage und schwappten dann gemächlich wieder auf das Schiff zu, nur um wieder weggedrückt zu werden. Der Wind schlug uns entgegen und ich schlang meine Arme um meinen Körper. Die Mannschaftsuniform war nicht für längere Aufenthalte auf Deck gemacht. Die dünne Bluse war bei den Temperaturen nicht gerade windschützend. Wir hatten Mitte August und der Wind schlug bereits auf Herbst um.
Tristan und ich stellten uns an den Bug des Schiffes und ich musste augenblicklich lächeln. An dieser Stelle hatten Rose und Jack ihren berühmten Moment gehabt und wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich zugegeben, dass es immer schon mein Traum gewesen war diese Szene einmal nachzumachen.
„Wo bist du nur Leo?", fragte ich grinsend und eher zu mir selbst, aber Tristan hatte mich gehört.
Er wusste sofort, wovon ich sprach, streckte die Hände in die Höhe und rief „Ich bin der König der Welt!", womit er so einige belustigte Blicke auf sich zog.
Ich lachte und auch er fiel in mein Lachen mit ein, nachdem er seine Arme wieder langsam sinken ließ.
Zum ersten Mal an diesem Tag freute ich mich aufrichtig auf die nächsten Wochen und Monate. Eigentlich konnte ich mit der Situation voll und ganz zufrieden sein. Ich hatte eine gut bezahlte Arbeit, bekam täglich drei Mahlzeiten, hatte ein Dach über dem Kopf und sah vielleicht auch etwas von der Welt. Was konnte also noch groß schief gehen?
Die Antwort bekam ich etwa 30 Minuten später.
„Musst du nicht langsam los?" Tristan hatte eine Augenbraue in die Höhe gezogen und sah mich fragend an. Mein Blick schnellte zu meiner Uhr. Ich hatte nur noch zehn Minuten. Meine Augen weiteten sich und mir stockte der Atem.
„Wie komm ich am schnellsten zu den Mannschaftsunterkünften?" Tristan verlor kein Wort, sondern nahm mich bei der Hand und rannte los. Ich stolperte ihm hinterher.
„Eigentlich braucht man vom Deck bis zu den Mannschaftsunterkünften mindestens fünfzehn Minuten.", brachte er schwermütig hervor, während wir über die Decks hetzten und auf die Treppen zu hasteten.
„Aber wir schaffen's bestimmt in fünf." Er warf mir einen herausfordernden Blick über die Schulter und ich beschleunigte meine Schritte.
Das erste Risiko zu spät zu kommen hatte ich erfolgreich verhindern können und ein zweites Mal wollte ich es nicht darauf ankommen lassen.
Ich konnte mir so einen groben Patzer einfach nicht leisten. So liefen Tristan und ich, unter vielen verwunderten Blicken, durch den Großteil des Schiffes und ich sah mit Schrecken, wie sich der Zeiger meiner Uhr stetig weiter auf die zwölf zubewegte.
Und beim zwölften Schlag war Cinderella verschwunden. Oder in meinem Fall: begraben.
Die Hausdame würde es bestimmt nicht dulden, wenn ich zu spät kam. Tristan war bei mir, vielleicht war das mein Glück. Der Hausdrache schien ihn jedenfalls zu mögen.
Völlig außer Atem kamen wir schließlich bei den Mannschaftsunterkünften und den etwas kleineren Besprechungsräumen an. Gerade noch rechtzeitig. Mein Herz pochte und meine Füße hatten eine Pause bitter nötig. Wir stellten sogar einen Rekord auf. Meine Uhr sagte jedenfalls, dass von unserem Sprint vom Sonnendeck bis hinunter zu den Besprechungsräumen nur sieben Minuten vergangen waren.
„Neuer Rekord, würde ich mal sagen.", brachte ich keuchend hervor und Tristan stützte sich ebenfalls auf seinen Knien ab.
„Auf jeden Fall.", sagte er genauso außer Puste wie ich, aber er lächelte.
"Hätte mich auch gewundert, wenn wir es nicht geschafft hätten." Ich grinste. Meine erste oder besser gesagt zweite Ermahnung hatte ich, dank Tristan, erfolgreich abgewendet.
„Housekeeping hierher!", ertönte da auch schon die beißende Stimme der Hexe höchstpersönlich. Ich warf Tristan einen letzten dankbaren Blick zu und folgte dann einfach der Stimme. Mit jedem Schritt sank mein Mut.
Tristan nickte mir noch einmal aufmunternd zu, bevor auch er verschwand. Für heute stand nichts mehr auf seiner To-Do Liste, aber dafür musste er noch das gesamte Tagesprogramm mit dem Event-Manager absprechen.
Frau Hoffenmeier wartete schon um die nächste Ecke und ich wäre beinahe an die Decke gesprungen, weil sie so aussah wie eine Furie, die mich im nächsten Augenblick anfallen könnte. Das wäre schlecht gewesen, weil es einerseits sicher einen schlechten Eindruck machte vor seiner Chefin zusammenzuzucken - obwohl es bestimmt angebracht war - und andererseits war die Decke hier unten wirklich sehr niedrig. Das hieß, wenn ich hochgesprungen wäre, wäre ich mit meinem Kopf gegen die Decke gedonnert. Die Gehirnerschütterung, die ich mir dabei höchst wahrscheinlich zugezogen hätte, hätte mich zumindest vor den stechenden Augen meiner Chefin entschuldigt.
„Und wer sind Sie?" Die schneidende Stimme ließ mich doch kurz aber glücklicherweise unauffällig zusammenzucken. Die Frau hatte sich vor mir aufgebaut und ihre strenge Miene mit dem strengen Dutt ließ sich wirklich wie die böse Stiefmutter aus Cinderella aussehen. Wer wäre da nicht zusammengezuckt? Schon als kleines Kind hatte ich höllisch Angst gehabt vor der bösen Stiefmutter gehabt und nun stand ihr Abbild quasi vor mir. Das war mein persönlich wahr gewordener Albtraum.
Wäre Tristan jetzt hier, hätte sie das bestimmt besänftigt. Mich übrigens auch. Ich atmete tief durch.
„Ich bin Solea. Solea Müller.", brachte ich mit so viel Kraft in der Stimme hervor, die ich aufgrund dieses Schocks noch zusammenbringen konnte. Missbilligend schaute die Frau über meine Uniform, sagte aber nichts. Sie hakte lediglich meinen Namen auf ihrer Liste ab und nickte in den Besprechungsraum, in dem schon weitere eingeschüchterte Menschen saßen. Meine neuen Arbeitskollegen also. Ich dachte schon aus dem Schneider zu sein, als sie die Hand gegen den Türrahmen stemmte und mich so am Eintreten hinderte.
„Die Haare werden zurückgestreckt.", sagte sie scharf.
Ich machte mich, ohne mit der Wimper zu zucken daran meine Haare unter ihrem wachsamen Blick zu einem Pferdeschwanz zusammen zu binden und sie nickte noch einmal kurz, bevor sie mich endlich in Ruhe ließ. Nach und nach kam auch das restliche Personal vom Housekeeping und wurde reihenweise heruntergemacht.
Ein Mädchen, dass ihre Bluse nicht in ihre Hose gesteckt hatte wurde ordentlich zusammengestaucht und fing sogar beinahe an zu weinen. Ich hätte sie gerne getröstet, aber in dem Moment hatte sich keiner auch nur einen Zentimeter bewegt. Ich konnte noch nicht einmal sagen, ob alle Anwesenden richtig atmeten, aus Angst sie könnten die Aufmerksamkeit der launenhaften Dame auf sich ziehen.
Diese seufzte nach einer Zeit ausgiebig und schaute auf ihre Liste.
„Solea Müller, Pablo Valentini und Francesco De Luca. Folgen Sie mir bitte. Der Rest wartet hier, bis ich Sie aufrufe.", sagte sie ohne Umschweife.
Ohne zu zögern machte sie sich auf den Weg und zwei junge Männer, dem Aussehen und den Namen nach zu urteilen Italiener, und ich folgten ihr hastig. Wir warfen uns während dem Laufen immer mal wieder beunruhigte Blicke zu. Auf dem ersten Passagierdeck blieb Frau Hoffenmeier endlich stehen.
Ich fühlte mich so, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir gehabt und versuchte zwanghaft das laute Aufkeuchen zu unterdrücken. Den beiden Männern neben mir schien es nicht anders zu gehen. Einzig und allein der Frau vor uns schien es prima zu gehen.
„Das hier ist Deck vier. Hier werden Sie Ihre Arbeit verrichten. Dafür haben Sie genau vier Stunden morgens Zeit. Von acht Uhr bis zwölf Uhr und abends von vier Uhr bis acht Uhr."
Die Frau redete monoton, während sie uns aus scharfen Adleraugen beobachtete. Ich bemühte mich darum eine neutrale Miene aufzusetzen und ihren Ausführungen genau zu folgen. Sie betrachtete uns eingehend. Dann drehte sie sich abrupt um und lief weiter. Wir folgten ihr schweigend.
„Die Passagiere können Schilder an die Tür hängen, je nachdem ob sie ihr Zimmer aufgeräumt haben wollen oder nicht. Beachten Sie das! Ich möchte keine Beschwerden!", bellte sie fast und ich schluckte.
Mit ihr war nicht gut Kirschen essen. Die böse Stiefmutter war dagegen fast Mutter des Jahres. Da konnte Frau Hoffenmeier in keinster Weise mithalten.
Wir gingen im Schnellschritt ein Stück den Gang entlang und blieben vor einer unscheinbaren Tür stehen. Frau Hoffenmeier kramte einen Schlüsselbund hervor und schloss die Tür vor uns mit einer Schlüsselkarte auf.
„Hier finden Sie die Reinigungswagen, die Sie jeden Abend neu befüllen, damit Sie am Morgen keine Zeit damit vertrödeln. Haben wir uns verstanden?"
Wir drei nickten unisono und Frau Hoffenmeier nickte zufrieden. Wobei zufrieden wohl nur ihr normaler Gesichtsausdruck war, nur weniger autoritär.
Unter diesem Blick konnte ich noch nicht einmal richtig nachdenken. Das Einzige was ich denken konnte war ja, nein, aye aye, salutieren und wegtreten. Es würde mich nicht wundern, wenn ich irgendwann aus Versehen wirklich vor der Frau salutierte.
So schnell wie sie die Tür zur Abstellkammer aufgeschlossen hatte, so schnell hatte sie sie auch wieder geschlossen. Sie drehte sich schwungvoll um und ging den Weg wieder zurück, den wir gekommen waren. Die beiden Jungs und ich blieben einen Augenblick lang wie Eissäulen stehen, doch da rief die Frau schon über ihre Schulter.
„Nicht trödeln!"
Ihre Stimme ging mir durch Mark und Bein. Ich schauderte und wie aufs Stichwort sprangen wir drei in die Höhe und eilten der strengen Hausdame hinterher.
Die restliche Zeit, in der uns die Frau über das Housekeeping aufklärte und uns alle nötigen Abstellkammern mit neuer Wäsche, weiteren Putzmitteln und Zubehör für die Kabinen zeigte, verlief ruhig und entspannt, soweit das eben möglich war.
„Ihr könnt froh sein, dass das Personal der letzten Reise schon alles aufgeräumt hat. Sonst hättet ihr schon viel früher anfangen müssen. Das ist nicht selbstverständlich."
Wieso glaubte ich ihr diese Aussage wohl nicht? Sie hatte bestimmt einen großen Anteil daran gehabt, dass unsere Vorgänger noch alles in Ordnung gebracht hatten. Natürlich hatten sie das. Die Frau hätte sie sonst nie mehr gehen lassen. Mit ihrer Art und diesem durchdringenden Blick hätte sie selbst einen Löwen dazu gebracht brav Sitz und Platz zu machen.
„Sie haben Glück, dass ihre richtige Schicht erst morgen früh anfängt, dadurch können Sie sich noch etwas mit dem Schiff bekannt machen. Ich dulde es nicht, dass Sie sich in irgendeiner Weise verlaufen, wenn ich nach Ihnen sehe."
Der Zeitpunkt, an dem ich mich hier auf diesem Kreuzfahrschiff zurechtfinden würde, würde bestimmt noch etwas auf sich warten lassen. Ich konnte ihr nichts versprechen. Diese durchdringenden Augen lagen schon wieder so abschätzend auf mir und ich senkte den Blick, obwohl ich eigentlich nicht so schnell Klein beigeben wollte. Normalerweise war ich unnachgiebiger.
Andererseits traute ich der Frau zu die Weltherrschaft mit einem Blick an sich zu reißen. Meine Reaktion war also die natürlichste Schlussfolgerung.
Frau Hoffenmeier blieb unvermittelt stehen und ich wäre beinahe voll in sie hineingekracht, aber einer der Italiener hielt mich gerade noch so an meinem Ärmel fest und verhinderte so den Aufprall. Ich warf ihm nur noch einen dankbaren Blick zu, da lagen auch schon die wachsamen und bernsteinfarben leuchtenden Augen auf uns.
„Das soll es fürs Erste gewesen sein. Ich hoffe Sie wissen, wo sich alles befindet und bringen keine Schande über unsere Arbeit."
Das war das letzte, was ich wollte. Zum Schluss händigte sie uns allen jeweils eine Schlüsselkarte für die Kabinen aus.
„Ich werde immer mal wieder bei Ihnen vorbeischauen. Für jedes Deck gibt es einen Verantwortlichen der Housekeeping-Kräfte. Für Deck vier ist das Frau Braun. Mit ihr werde ich auch Rücksprache halten, sollte es Probleme mit Ihnen geben. Ich erwarte, dass Sie ihre Arbeit verantwortungsbewusst ausrichten werden. Wenn nicht, sind sie lange genug Mitglied dieser Mannschaft gewesen."
Die Aussage war so klar und deutlich, dass ich nichts anderes tun konnte als sie anzustarren. Sie verzog keine Miene, aber anscheinend war sie zufrieden mit unserer Reaktion. Dann gingen wir wieder zurück zu den Besprechungsräumen. Kaum erblickten die restlichen Crewmitglieder die Hausdame breitete sich eine eisige Stille aus. Rücken wurden gestrafft, Schultern nach hinten gezogen und die Blicke senkten sich. Jeder von ihnen zollte der Dame in irgendeiner Weise Respekt, bis auf einen Jungen, der allein und mit gerunzelter Stirn an einem Tisch saß und konzentriert auf seine zusammengefalteten Hände starrte. Er trug als einziger eine dunkle Uniform und schien die Hausdame nicht einmal richtig wahrzunehmen. Bevor ich mich jedoch weiter darüber wundern konnte, rief die Hausdame die nächsten auf ihrer Liste auf, die auf ihre Aufforderung hin auf die Beine sprangen und der Frau in stillem Einvernehmen hinterher hetzten. Sie hatte ihnen wenig Zeit gelassen hatte, ihren gebellten Befehlen Folge zu leisten. Der Junge in dunkler Uniform stand ebenfalls auf und folgte dem Gespann stumm.
Ein erleichterter Seufzer ging durch die Menge, als sie um die Ecke verschwand und ihr süßes Stimmchen nicht mehr von den Wänden widerhallte.
Ein Mädchen schüttelte sich, als liefen tausende Schauer über ihren Körper.
"Das ist ja nicht auszuhalten. Ich habe am ganzen Körper gezittert, als sie mich so angeschaut hat."
Ein Mann erhob ebenfalls seine Stimme.
„Ich habe gehört sie soll früher einmal beim Militär gewesen sein."
Das würde allerdings ihr Verhalten erklären. So jemand wie sie war dazu geboren andere Menschen herumzukommandieren.
„Das glaub ich nicht.", sagte eine Frau aus dem Hintergrund. Sie hatte schlohweiße Haare und war bestimmt sogar älter als die Hausdame.
„Sie arbeitet mindestens so lange hier, wie ich auch und ich bin seit zehn Jahren hier."
So wie sie sprach, als würde sie mit einem Kleinkind reden, machte sie den Anschein einer guten alten Großmutter. Die Art von Großmutter, die ihren Enkeln Geschichten am Lagerfeuer erzählte und ihnen immer mehr Essen auf den Teller tat, selbst wenn sie schon lange satt waren. Ich hatte sie auf Anhieb gern. Wie sie da so stand und zu uns herauf blickte - sie selbst ging mir nämlich gerade mal bis zur Schulter - und uns aus treuherzigen Augen sagte, man sollte keinen Menschen nur aus Gerüchten verurteilen, hatte ich direkt das Bedürfnis sie in den Arm zu nehmen und einmal zu knuddeln. Es fehlte nur noch, dass sie uns reihenweise durch die Haare strich und von den alten Zeiten erzählte. Dann wäre das Bild der guten Großmutter erfüllt gewesen. Mein Herz machte einen kleinen hoffnungsvollen Hüpfer, als ich auf ihr silbernes Namensschild schaute. F. Braun, stand dort in schnörkeliger Schrift geschrieben. Sie war für meine Kollegen und mich auf Deck vier verantwortlich. Das war wohl auch der Grund, warum sie auf der Schulter ihrer Uniform einen Streifen trug.
Ich hörte meinen neuen Kollegen noch eine Weile zu, merkte dann aber wie ich immer wieder abdriftete und an einer völlig anderen Stelle des Gesprächs wieder mehr oder weniger den Faden aufnahm oder es immerhin versuchte. Als ich wieder eine Zeit lang völlig in Gedanken versunken dagestanden hatte, stand plötzlich jemand vor mir.
Ich erkannte ihn als einen der Männer aus meinem Team wieder. Pablo oder Francesco. Ich lächelte ihn an und er hielt mir seine Hand entgegen.
„Ciao Bella, ich bin Pablo. Und das 'ier ist meine gute Freund Francesco aus Italia." Ich versuchte bei seinem starken Akzent nicht laut loszulachen, wurde jedoch leicht rot als er meine Hand zu seinen Lippen führte und einen Kuss darauf hinterließ.
Sein Freund Francesco verdrehte nur die Augen, konnte sich das Grinsen aber ebenfalls nicht verkneifen. Pablo machte eine wegwerfende Bewegung.
„Achte nischt auf meine Freund. Er ist so schnell aus dem Konzepte zu bringen bei Anwesen'eit einer so 'übschen Signorina."
Francesco seufzte und schubste Pablo leicht zur Seite.
"Hör nicht auf ihn.", sagte er vollkommen akzentfrei.
„Er macht sich gerne einen Spaß daraus, neue Crewmitglieder zu verarschen." Ich hob eine Augenbraue, als Pablo Francesco leicht gegen den Oberarm schlug und sich bei ihm beschwerte.
„Verdammt, Franci. Sie hat es mir total abgekauft.", sagte er in genau demselben perfekten deutsch wie sein Freund. Ja, das stimmte. Ich hatte es ihm abgekauft und ich war mehr als verwundert ihn jetzt ohne italienischen Akzent reden zu hören. Francesco lachte leise.
„Ja, ich weiß es ist verwirrend.", sagte er auf meinen Blick hin und lächelte.
„Ist er immer so?", fragte ich neugierig und Francesco seufzte tief. Das hieß dann bestimmt ja. Ich lachte.
„Seid ihr Brüder?", fragte ich weiter und so schnell wie Francesco seinen Kopf schüttelte, fürchtete ich beinahe, er würde ihm im nächsten Augenblick vom Hals fliegen und in der entgegenliegenden Ecke des Raumes landen.
„Brüder! Das wäre ja noch schöner. Gott sei Dank nicht!", sagte er mit Seitenblick auf Pablo, der sich zu einem anderen Mädchen gestellt hatte und ihr anscheinend irgendeinen Witz erzähle. Jedenfalls lachte sie herzlich und Pablo bewegte sich im nächsten Augenblick, nicht ganz vorteilhaft, wie ein wildgewordener Affe durch den Gang. Er brachte uns in dieser beklommenen Situation wenigstens ein wenig zum Lachen. Selbst die Frau mit den weißen Haaren konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Er ist zum Glück nur mein Cousin.", erklärte Francesco mir nun und ich nickte verstehend.
Ich würde bestimmt sehr viel Spaß mit den beiden haben und ich bemerkte wie mir der Gedanke an die Arbeit, wenn ich an ihre Gegenwart dachte, nicht mehr ganz so missfiel wie zu Beginn, als sich die Hausdame uns vorgestellt hat. Die Arbeit auf diesem fünf Sterne Kreuzer, auch wenn es noch so klein war, würde bestimmt nicht langweilig werden.
„Und darf ich auch deinen Namen erfahren?" Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn. Ich lächelte verlegen.
„Achso... ja stimmt... 'tschuldige. Ich bin Solea."
„Solea..."
Er überlegte einen Augenblick, bevor er weitersprach.
„Ist das ein deutscher Name?" Mit einem Augenaufschlag, der selbst den größten Models Konkurrenz machte, schaute er mich aus dunkelbraunen Augen treuherzig an. Sie strahlten so viel Wärme aus, dass ich mich direkt geborgen fühlte.
Auf seine Frage schüttelte ich den Kopf.
„Der Name kommt aus Spanien und soll anscheinend so etwas wie die Sonnige heißen." Francesco hob verwundert die Augenbrauen und ich lachte leise.
„Frag nicht. Ich weiß auch nicht was meine Mutter sich dabei gedacht hat. Ich habe weder Verwandtschaft in Spanien, noch bin ich selbst mal dort gewesen."
„Also ich find den Namen schön. Die Sonnige... das passt zu dir.", sagte er aufrichtig. Ich lächelte breit. Ich hatte immer gedacht, dass ich mit einem eingefrorenem 'Geht-mir-bloß-aus-dem-Weg'- Blick durch die Gegend lief.
„Jedenfalls waren meine Mutter früher immer in Spanien unterwegs. Sie ist sogar einmal nur mit dem Wohnwagen meines Großvaters drei Monate herumgereist und hat überall Halt gemacht, wo sie es schön fand."
Obwohl ich noch nie in Spanien war, schwelgte ich in Erinnerungen daran, wie meine Mutter mir lächelnd ihre Geschichten aus dieser Zeit erzählte und alte Bilder hervorkramte, die sie alle in einem alten Fotobuch zusammengetragen hatte.
Darin waren Bilder von ihr und dem Wohnwagen und von den Menschen, die sie auf ihrer Reise kennengelernt hatten. Mit manchen von ihnen hatte sie sogar bis heute noch Kontakt und obwohl ich sie nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte, erinnerte ich mich noch lebhaft an die Geschenke von Onkel Hugo und Tante Ama zu meinen Geburtstagen als ich noch klein gewesen war.
Ich hatte zwar kein Wort verstanden, was sie in den Geburtstagskarte geschrieben hatten, aber meine Mutter, die seinerzeit Spanischlehrerin war, hatte mir alles übersetzt.
Ich merkte manchmal, wie ihr Blick sehnsüchtig in die Ferne glitt, wenn sie über Spanien und die alten Zeiten redete und ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie sehr sie eigentlich noch einmal dorthin zurückfahren wollte. Aber kurz nach meiner Geburt, verließ sie mein Vater und sie musste ihre Arbeit fürs erste für die Kinderversorgung- und Betreuung zurückstellen.
Zu ihrer Zeit war es noch nicht so einfach, nach einer gewissen Auszeit wieder in den Berufsalltag zurückzukehren - wobei es das sicher heute auch noch war - und nach einer gewissen Zeit hat sie es auch gar nicht mehr versucht.
Sie verbrachte die Zeit viel lieber zuhause und sah dabei zu wie ich aufwuchs. Das hatte sie mir zumindest einmal gesagt. Ganz glauben konnte ich ihr aber nicht, dass sie mit dieser Entscheidung zufrieden war, nicht wenn ihr Blick so voller Sehnsucht lag und sie sich in Gedanken an den Strand und in die Natur Spaniens wünschte.
So hatten wir, meine Mutter und ich unser Leben in stiller Übereinkunft in Deutschland verbracht. Wir sind nie in den Urlaub gefahren, sondern fanden uns damit ab, in den Sommerferien so gut wie jeden Tag ins Schwimmbad zu gehen und in den Winterferien die Verwandtschaft im Schwarzwald besuchen zu fahren. Mehr brauchte es unserer Meinung auch nicht. Wir waren im Großen und Ganzen glücklich mit der Art und Weise wie wir lebten und ich hätte mir mein Leben zuhause auch nie anders gewünscht.
„Lasst uns lieber in dem Pausenraum verschwinden, bevor die Frau wieder auftaucht.", Pablo war wieder zu seinem Cousin und mir gestoßen und schaute ängstlich über seine Schulter in die Richtung in die Frau Hoffenmeier mit den nächsten Schützlingen verschwunden war.
Sie würde bestimmt in den nächsten Minuten wiederauftauchen und ich wusste nicht, ob ich mir diese Begegnung wirklich antun wollte. Da reichten mir die beiden Male zuvor und die Kontrollbesuche demnächst bei der Arbeit vollkommen aus. Ich nickte schnell.
„Gute Idee." Francesco legte einen Arm um Pablo und lächelte schief.
„Er hat auch manchmal seine hellen Momente, nicht wahr?"
Francesco war kurz davor seinem Cousin in die Wangen zu kneifen und zu bemuttern, als am Ende des Ganges aufgebrachte Stimmen zu hören waren.
Das war ohne jeden Zweifel die Stimme von Frau Hoffenmeier. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, verschwanden die zwei Italiener und ich hinter der nächsten Ecke, raunten ein schnelles ‚Viel Glück' in die angespannte Runde und starrten uns mit weit aufgerissenen Augen an. Keiner von uns sagte auch nur ein Wort, als Frau Hoffenmeier lautstark nach dem nächsten Team verlangte und sich selbst auf dem Gang eine eisige Kälte ausbreitete.
Meine Nackenhaare stellten sich in die Höhe und ich schauderte. Pablo winkte uns stumm weiter und wir folgten ihm auf leisen Sohlen. Ihre Stimme verfolgte uns auch noch, als wir bereits einige Meter weiter waren. So richtig entspannen konnte ich mich auch erst als die Tür zum Gemeinschaftsraum leise ins Schloss fiel.
Francescos angespannte Schultern sanken entspannt in sich zusammen und er ließ sich wie ein nasser Sack auf einen der bereitstehenden Stühle fallen. Ich war das erste Mal in dem Gemeinschaftsraum. In erster Linie wusste ich gar nicht, dass er überhaupt existierte und so schaute ich mich erst einmal neugierig um.
Bis auf die Tatsache, dass der Raum größer war als Mias und meine Kabine, sah es von der Einrichtung her nicht viel anders aus. In der Mitte standen mehrere Tische mit Stühlen bereit und an der gegenüberliegenden Wand waren nicht nur eins, sondern gleich drei Bullaugen eingelassen, durch die man einen Blick nach draußen auf die Wellen werfen konnte. Anders als bei meinem letzten Blick aus meinem Kabinenfenster, bewegte sich die Landschaft draußen schnell an uns vorbei. Ab und zu schlug auch eine besonders hohe Welle gegen das Fenster. Das Meeresrauschen war unser stetiger Begleiter. Ferner gab es noch eine Kaffeemaschine und sogar einen kleinen Kühlschrank, der in einer Ecke stand. Außerdem stand noch eine bis oben gefüllte Obstschale auf dem Tisch und strömte einen verführerischen Duft aus.
Wenn ich demnächst morgens keine Zeit mehr haben sollte, oder für den wahrscheinlichen Fall, dass ich einmal verschlafen sollte, konnte ich meine Müdigkeit hier wenigstens noch mit einem schnellen Kaffee und meinen Hunger mit etwas Gesundem vertreiben.
Ich ließ mich ebenfalls auf einen Stuhl fallen und seufzte auf. Das schönste Gefühl auf Erden war es, seine überstrapazierten Füße nach langer Stehzeit endlich wieder baumeln lassen zu können. Ich fühlte mich wie auf Wolken, jedenfalls wenn man das Schaukeln auf den Wellen ignorieren konnte. Ich hoffte, dass ich mich in den nächsten Tagen daran gewöhnen würde.
„Will einer von euch einen Kaffee?"
Pablo stand fragend an der Kaffeemaschine und Francesco und ich ließen zeitgleich ein euphorisches 'Ja' von uns hören. Pablo kicherte leise und stellte die Kaffeemaschine an.
„Ich nehme auch einen."
Die Stimme kam aus der hintersten Ecke des Raumes und ich drehte meinen Kopf in die Richtung, um einen Blick auf die Person werfen zu können.
Dabei entging mir nicht, dass sich Francesco neben mir wieder anspannte und auch Pablo scharf die Luft einzog. Irgendwas ging hier vor und es hing irgendwie mit dem jungen Mann in dunkler Uniform vor mir zusammen. Es war derselbe Junge, der eben noch so teilnahmslos in dem Besprechungsraum gesessen hatte und dann irgendwann verschwand. Ich wusste nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass die Temperatur in dem Raum in den letzten Sekunden um ein paar Grad gefallen war und die Luft sich irgendwie zusammengezogen hatte.
Die Spannung war beinahe greifbar und mein Blick glitt zwischen dem merkwürdigen Jungen und den Cousins hin und her. Ihre Augen hatten sich zu Schlitzen verengt und wenn ich mir Pablo so genauer ansah, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, er würde dem unbekannten Jungen am liebsten an den Hals springen. Er sah furchterregend aus, doch den Jungen schien das nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Sein Grinsen wurde nur noch breiter. Mit ausgestreckter Hand kam er auf mich zu und perplex nahm ich seine Hand an.
„Ich glaube nicht, dass wir uns schon vorgestellt wurden. Alexander Jackson. Aber nenn mich ruhig Alex. Freut mich dich kennenzulernen."
Er schaute mich abwartend an und ich erwachte aus meiner Starre.
„Solea", erwiderte ich schnell. "Freut mich ebenfalls.", sagte ich langsam, noch wenig überzeugt. Immerhin schienen Pablo und Francesco nicht so begeistert zu sein ihn zu sehen. Pablo knirschte mit den Zähnen und Alex' Grinsen vertiefte sich. Er schüttelte immer noch meine Hand und so langsam wurde mir die Nähe unangenehm. Ich räusperte mich und entzog ihm meine Hand. Ihn schien das eher weniger zu interessieren.
Sein Blick lag mittlerweile auf den beiden Cousins. Francesco hatte sich von seinem Platz erhoben.
„Was willst du hier, Jackson?"
Er schien genauso wenig erfreut zu sein ihn zu sehen, wie Pablo, nur konnte er seine offensichtliche Wut besser ihm Zaum halten als sein Cousin. Dessen Gesicht war mittlerweile so rot angelaufen, wie eine Tomate und er versuchte krampfhaft nicht auf Alexander loszugehen.
Zu seinem Glück. Falls es so weit kommen sollte, wettete ich auf Pablos Sieg nur stellte sich mir die Frage, ob dieser Sieg letztendlich von Vorteil sein würde. Diese Uniform machte mir mehr und mehr Sorgen. War er einer von den höheren Offizieren? War er in der Stellung, dass er Einfluss auf das Personal haben konnte? Könnte er womöglich auch Leute von der Crew feuern lassen? Ich schluckte. Ich sah immerhin keine Streifen auf der Schulter.
Alexander ließ sich seelenruhig auf einen Stuhl mir gegenüber fallen. Übermütig legte er seine Füße auf den Tisch. Ich verzog die Miene, sagte aber nichts. Wer wusste, wen ich da vor mir hatte? Dass er es sich erlaubte, sich so zu benehmen, war mir suspekt.
„Arbeiten was sonst?" Er griff in die Obstschale auf dem Tisch und biss genüsslich in einen saftig roten Apfel hinein. Das Knacken schallte durch den ganzen Raum und Francesco zuckte zusammen, als ein paar Fruchtspritzer ihn im Gesicht trafen.
Niemand sagte auch nur ein Wort. Pablo und Francesco wahrscheinlich, weil sie keine Lust hatten mit Alex zu reden und ich, weil ich einfach nicht wusste, was ich hätte sagen sollen, dafür benahm sich mein Gegenüber einfach viel zu seltsam.
Also schwieg ich. Alex schaute grinsend zu den Italienern, während der Apfel in seinen Händen immer kleiner wurde. Dabei schmatzte er bei jedem Bissen laut und ich wusste nicht, ob er es aus Versehen oder aus voller Absicht machte, weil meine beiden Kollegen sich augenscheinlich sehr anstrengen mussten nichts zu sagen. Seit seinem überheblichen Auftritt wurde er mir zunehmend unsympathisch.
„Beim Essen macht man den Mund zu."
Ich konnte nicht verhindern, dass dieser Satz meine Lippen verließ, dafür hatte ich mein Babysitterkind, das Kind von Nachbarn, einfach zu oft in der gleichen Angelegenheit belehren müssen. Alex' Blick fiel auf mich und es schien einen Moment so, als habe er sich gerade erst wieder daran erinnert, dass ich auch anwesend war. Seine Mundwinkel zogen sich ein Stück nach unten und er schaute mich aus engen Augen an.
„Natürlich.", sagte er verbissen und die nächsten Minuten vergingen in vollkommener Stille, wenn man von dem Rauschen der Wellen absah. Die Stille war ohrenbetäubend.
Alex aß in Ruhe seinen Apfel zu Ende und ich spürte wie Francesco, der sich mittlerweile wieder auf einen Stuhl einige Meter von Alexander entfernt hatte fallen lassen, langsam entspannte. Pablo stand immer noch an der Kaffeemaschine. Er hatte uns den Rücken zugewandt, aber aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass seine Hände unkontrolliert zitterten. Alex Blick glitt abwechselnd zwischen uns dreien hin und her. Mich bedachte er dabei mit demselben abschätzenden Blick wie Pablo und Francesco und ich kniff meine Augen zusammen. Ich erwiderte seinen Blick kalt. Was dachte er eigentlich, wer er war?
Als er sich schließlich wortlos erhob, spannte sich Francesco neben mir noch einmal an. Der Junge warf die Apfelreste in den nahegelegenen Mülleimer und ging zur Tür.
„Ich geh dann mal wieder. War nett dich kennenzulernen Svenja.", sagte er.
Wer war Svenja? Anscheinend hatte er meinen Namen vergessen. Sein Erinnerungsvermögen ging quasi gegen null oder mein Name hatte ihn schlichtweg einfach nicht interessiert.
Vielleicht war es aber auch ganz gut so. Schließlich hatte ich immer noch keine Ahnung, in was für einer Stellung er über mir stand. Eins war sicher, so wie er sich benahm, gegenüber dem Housekeeping und vor allem gegenüber meinen beiden neuen Freunden, war er ganz sicher der Meinung er sei etwas Besseres.
Ganz klar ein arroganter Mistkerl. Jackson - ich hatte mich dazu entschlossen ihn bei seinem Nachnamen zu nennen, wie Pablo und Francesco und nicht wie er mir angeboten hatte bei der Kurzform, und zwar aus purem Trotz - hatte die Hand bereits auf der Türklinke drehte sich dann aber noch einmal mit einem fiesen Lächeln im Gesicht zu uns um. Das konnte nichts Gutes heißen. Ich hatte ein schlechtes Gefühl.
„Ich frage mich ja, wie du es geschafft hast, dass du weiter hier arbeiten darfst.", sagte er in Pablos Richtung, welcher sich bei diesen Worten krampfhaft an der Arbeitsplatte festhielt.
Er starrte auf die, inzwischen bestimmt kalt gewordenen Tassen Kaffee, und rührte sich keinen Zentimeter.
„Genieße es, solange du noch kannst. Das hier wird garantiert deine letzte Reise hier sein."
Das Grinsen, welches sein Gesicht zierte, war schon gar nicht mehr menschlich. Es war heimtückisch und boshaft und erweckte in mir ein tiefes Misstrauen. Wer so unheilvoll lächelte und andere Personen so offenkundig schlecht behandelte, konnte in meinen Augen einfach nicht nett sein. Ich hielt die Luft an, aber keiner im Raum sagte auch nur einen Ton. Jackson, ganz offensichtlich glücklich mit den gemischten Gefühlen, die er in den beiden Cousins hervorgerufen hatte, ließ die Tür ins Schloss fallen und Pablo erwachte schlagartig wieder zum Leben. Er schlug mit voller Wucht auf die Arbeitsplatte und die Tassen klirrten leise. Francesco war aufgesprungen und legte eine Hand beruhigend auf seine Schulter.
„Hey, beruhige dich.", sagte er, nur ließ das Pablo nur noch wütender werden.
„Ich soll mich beruhigen? Dieses Arschloch ist wieder mit an Bord und ich soll mich beruhigen? Kein Tag ist vergangen und schon tritt er auf uns herum, als wäre er ein gottverdammter VIP."
Ich konnte sehen, dass die Wut, die in seinen Augen schimmerte, nicht für seinen Cousin bestimmt war. Die Begegnung mit Jackson hatte ihn vollends aus der Bahn geworfen.
„Erzähl mir nicht ich solle mich beruhigen, Francesco. Dieses Arschloch hat das letzte Mal fast dafür gesorgt, dass ich den Job verliere, also sag mir nicht ich soll mich beruhigen."
„Er hat was?"
Ich sprang auf und starrte die beiden Männer vor mir fassungslos an. Sie schienen, wie zuvor Jackson, auch vergessen zu haben, dass ich ebenfalls noch anwesend war. Sie starrten mich an und Pablo blinzelte ein paar Mal. Dann seufzte er. Tief.
„Du tust am besten so, als hättest du das alles nicht gehört, einverstanden?"
Ich lehnte an dem Tisch und schaute ihn neugierig und vielleicht auch ein wenig skeptisch an. So wie er dort stand hatte ich keine Zweifel daran, dass er, was auch immer zwischen ihm und Jackson passiert war, vollkommen unschuldig war. Francesco merkte meinen Gesichtsausdruck und seufzte ebenfalls. Möglicherweise lag es an der Art, wie ich sie anschaute, oder er vertraute mir einfach, aber er erklärte mir die Fehde zwischen seinem Cousin und dem Ekelpaket.
„Jackson hat vor einem Jahr dafür gesorgt, dass Pablo für etwas beschuldigt wurde, für was er nichts konnte. Nur hat ihm das niemand geglaubt. Jackson hat ihn beschuldigt und natürlich hat man einem höher gestellten Crewmitglied mehr vertraut als einem einfachen Arbeiter vom Housekeeping. Pablo wäre beinahe geflogen, aber man gewährte ihm noch eine letzte Chance."
„Ich bin quasi auf Bewährung."
Pablo ließ den Kopf beschämt und immer noch ein wenig wütend sinken. Ich legte eine Hand auf seine Schulter und wollte ihm gerade gut zu sprechen, als sich die Tür ein weiteres Mal öffnete.
In der Annahme es wäre Jackson, der da durch die Tür spaziert kam, seufzten wir alle drei unisono auf. Aber zu unserem Glück war es nicht Jackson.
Es war Tristan, der uns verwundert anschaute.
„Ich kann auch wieder gehen?", sagte er unsicher.
Ich ließ meine Hand von Pablos Schulter sinken und Tristan zeigte über seine Schulter.
„Jackson ist mir gerade ungewöhnlich gut gelaunt begegnet. Jedenfalls bis er mich gesehen hat. Hat er euch irgendwelche Probleme gemacht?"
Die Frage war an Pablo gerichtet. Tristan wusste anscheinend von der ganzen Sache und seinem Gesicht nach zu urteilen, war er Jackson genauso wenig gut gesinnt wie Pablo und Francesco.
Ich hätte sofort angefangen Tristan zu berichten, wie hinterhältig der Typ war und wie niederträchtig und boshaft, wie gemein, widerwärtig und-
„Alles in Ordnung. Es ist nichts passiert."
Pablos Stimme ließ mich in meinen Gedanken stocken. War er nicht derjenige, der sich vor kurzer Zeit bis aufs schärfste aufgeregt? Davon war jetzt jedenfalls nichts mehr zu sehen. Das schien auch Francesco ein wenig merkwürdig zu finden. Er runzelte die Stirn. Tristan nickte stumm.
„Ich an seiner Stelle würde keinen Ärger machen. Er weiß, was auf dem Spiel steht, wenn er Ärger macht."
Er warf bedeutungsschwere Blicke zu den beiden Cousins und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er Pablos ‚Alles-ist-gut'-Antwort nicht glaubte und trotz allem seine Entscheidung akzeptierte, dass er nicht weiter darüber reden wollte.
Und dann kam mir der Gedanke, dass die zweite Chance, die Pablo zugesprochen wurde, vielleicht sogar Tristans Verdienst war. Mein Blick glitt ein paar Sekunden über ihn. Zutrauen konnte ich es ihm, auch wenn ich ihn gerade erst ein paar Stunden lang kannte.
Wir ließen uns schließlich an dem großen Tisch nieder und redeten über erfreulichere Themen als den Beinahe-Rauswurf von Pablo. Er war damit auch zufriedener. Sein Gesicht nahm so langsam auch wieder eine gesündere Hautfarbe an. Der Kaffee war tatsächlich schon kalt, aber das störte uns nicht weiter.
„Es sind wieder sehr viele Berühmtheiten an Bord. Frau Hoffenmeier ist mir eben begegnet und meinte ich sollte es am besten dem ganzen Personal sagen, dass sie besonders nachsichtig sind." Tristan verdrehte die Augen.
„Aber nur wenn ich auch genug Zeit dafür erübrigen kann.", lachte er dann.
„Der Neffe des Chefs zu sein hat auch seine Vorteile.", sagte Francesco und Tristan nickte. Es schien so als würden sich die drei gut kennen. Immerhin schienen die beiden Italiener ihn ebenfalls nicht wie den Erben einer großen Kreuzfahrtschiffslinie anzusehen.
„Ja, allerdings. Nur muss ich trotzdem arbeiten." Tristan verschränkte die Arme vor der Brust und sein T-Shirt spannte sich etwas an, bei dieser Haltungsänderung. Dabei zeichneten sich jedoch perfekt seine Armmuskeln ab. Ich musste zugeben, dass es nicht schlecht aussah.
„Warum musst du überhaupt arbeiten?", fragte ich schnell, aus Neugier und um mich von diesem Anblick abzulenken. Tristan lachte etwas freudlos.
„Mein Vater meint als Erbe muss ich wissen, wie es ist, wenn man sich etwas erarbeiten muss. Ich soll das Ganze nicht selbstverständlich nehmen. Mein Onkel findet das auch.", sprach er offen.
„So wäre ich ja vollkommen ihrer Meinung, aber- aber dabei hat nicht einmal jemand gefragt, ob ich das Ganze überhaupt will." Er seufzte und ich meinte so etwas wie Bedauern in seinem Gesicht zu erkennen. Aber ich konnte mich auch täuschen.
„Das Arbeiten auf einem exklusiven Kreuzfahrtschiff ist die beste Vorbereitung für den Ernst des Lebens.", zitierte Tristan ernst und ich musste ein wenig lächeln bei seiner Wortwahl. So ähnlich hatte sich meine Mutter auch ausgedrückt.
„So exklusiv kann es doch nicht sein. Das Schiff ist doch vergleichsweise klein.", sagte ich und Tristan schüttelte den Kopf.
„Gerade weil es so klein ist, kann man es so teuer und exklusiv anbieten. Weniger Leute gleich weniger Aufstand in den Medien."
Sein Blick lag plötzlich prüfend auf mir.
„Du hast keine Ahnung, wer alles auf dem Schiff ist, oder?" Ich konnte nur stumm den Kopf schütteln. Ich hatte wirklich keine Ahnung.
Hier könnte der Kulturminister Deutschlands an Bord sein und ich würde ihn (oder sie) nicht einmal erkennen, wenn sie vor mir stünde. Denn wer kannte sich schon wirklich mit Politik aus? Politiker taten doch sowieso alle was sie wollten. Das sah man spätestens bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen.
Ich hatte jedenfalls keinen Überblick, aber ich ging davon aus, dass es sich bei der Kundschaft um allgemein schnöselige reiche Leute handelte, die von sich selbst dachten, sie wären die Schöpfer des Kosmos und niemand stünde ihnen in irgendetwas nah. Tristan seufzte.
„Ich an deiner Stelle würde auf jeden Fall zu allen Gästen nett sein. Die meisten habe Wege und Mittel dir dein Leben hier zur Hölle zu machen und nicht wenige würden diese Chance ungenutzt lassen."
Er sprach beinahe so als hätte er damit bereits Erfahrung gemacht.
„Auf jeden Fall kann es nerven, wenn dich einer der Gäste nicht mag. Vor allem wenn es einer von den VIPs ist." Das konnte ich mir leider nur zu gut vorstellen. Also ein Glück, dass ich keine Ahnung hatte, wessen Zimmer ich demnächst putzen würde. Sonst wäre ich wahrscheinlich so nervös, dass ich nicht einmal diese Arbeit angemessen erledigen konnte.
Gerade als ich dachte, dass wir ein gutes Gesprächsthema gefunden hatten - die Passagiere und ihre schrägen Vorlieben - öffnete sich die Tür zum Gemeinschaftsraum abrupt und Frau Hoffenmeier also known as der Drache, Cinderellas böse Stiefmutter und die böse Hexe höchstpersönlich stand im Türrahmen. Mit ihrem energischen Auftreten bewirkte sie sofort, dass wir vier uns mit einem Mal gerade aufsetzten und sie aus weit aufgerissenen Augen erschrocken anstarrten. Diese Frau war mehr als alles andere respekteinflößend.
„Solea Müller?" Ihre Stimme schlug durch den Raum und ich zuckte merklich zusammen, als hätte sie mich persönlich geschlagen.
„Ja?" Ich stand mit wackelnden Beinen auf und ging langsam auf sie zu.
„Nicht einmal hier drinnen hat man seine Ruhe.", hörte ich Pablo sagen und ich hoffte inständig, dass Frau Hoffenmeier diese Worte nicht mitbekommen hatte.
„Worum geht es?", fragte ich schnell, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit von dem Italiener auf mich zu ziehen. Etwas, woran ich unter normalen Umständen nicht im Traum gedacht hätte. Sie schaute mich missbilligend an und in Gedanken ging ich durch, was ich vielleicht falsch gemacht haben könnte.
War die Bluse in der Hose? Ja. Meine Haare zusammengebunden? Auch ja. Es gab nichts, was mir in den Sinn kam, was ich falsch gemacht haben könnte. Was also wollte die Frau von mir? Ohne Umschweife fing sie an zu reden.
„Sie werden für den nächsten Tag und bei Bedarf beim Housekeeping nicht benötigt.", sagte sie monoton und mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Für den nächsten Tag? Nicht benötigt?
Ich schluckte. ich konnte mir gut vorstellen, wie ihr Gesicht vor Wut erst bleich, dann rot und dann wieder bleich wurde, während sie mich zusammenstauchte, wenn ich sie auf diesen offensichtlichen Fehler hinwies. Nein, das war nun wirklich keine Option.
„Aber was soll sie denn dann machen? Ma'am?" Francescos Stimme erklang zitternd aus dem Hintergrund.
„Wir brauchen ihre Hilfe." Der Drache schnalzte unnachgiebig mit der Zunge und achtete nicht weiter auf die beiden Männer am Pausentisch.
„Sie werden für eine andere Arbeit berufen.", sagte sie und ich schaute sie nur verwirrt an. Andere Arbeit? Warum sollte ich jetzt auf einmal etwas anderes machen?
„Es ist so, dass Familie Gremperich die besonderen Dienste des Personals in Anspruch nehmen will. Dummerweise haben wir zu Beginn der Reise nicht mit eingeplant, dass ein Kindermädchen an Bord vielleicht von Nöten sein wird. Aber mir wurde berichtet, dass sie in ihrem Lebenslauf geschrieben haben, dass sie bereits mehrmals babysitten waren und im Umgang mit Kindern sehr freundlich und umgänglich sind."
Als Kindermädchen? Mir fiel mein Fehler wie Schuppen von den Augen. Oh verdammt. In meinem Lebenslauf hatte ich geschrieben, dass ich öfter babysitten ging. Dass es sich bei dem Babysitterkind um ein nur wenige Jahre jüngeres Nachbarskind handelte, hatte ich dabei geflissentlich ignoriert. Ich hatte gedacht, dass diese Information mich vertrauenswürdig aussehen ließ und jetzt hatte ich genau das erreicht. Anscheinend wirkte es sogar so aufrichtig, dass man mir nun auch die Kinder der Passagiere anvertraute.
Und oh Herr. Kinder. Ich hatte nichts gegen Kinder im Allgemeinen, aber mir war es lieber, wenn sie die meiste Zeit schliefen. Ich hatte keine Ahnung, wie man mit Kindern umging. Ich konnte noch nicht einmal mit Leuten in meinem Alter unkompliziert plaudern. Ich war ein soziales Wrack! Mir konnte man doch keine Kinder anvertrauen!
„Die Gremperichs sind eine einflussreiche Familie. Wir dürfen uns also nicht anmaßen ihre besonderen Wünsche auszuschlagen.", fuhr der Höllenhund (eine neue Bezeichnung, die mir in genau diesem Augenblick einfiel, weil sie mich - metaphorisch gesprochen - mit ihrem Anliegen genau in die Hölle zog) unbekümmert fort.
„Ich habe dem Ehepaar und den drei entzückenden Kindern gesagt, dass sie morgen pünktlich um acht Uhr vor ihrer Kabine, Kabine A216, auf sie warten und die Kinder entgegennehmen."
Alles was ich aus diesem Satz heraushörte waren drei Wörter. Drei. Entzückende. Kinder. Die unheilvollsten Wörter. Drei war größer als eins und somit viel mehr als ich es von dem Nachbarskind gewöhnt war. Entzückende Kinder ließ mich beinahe laut auflachen. Hatte ich jemals entzückende Kinder gesehen? Ich konnte diese Frage entschieden verneinen. Wenn die Kinder von Frau Hoffenmeier schon so genannt wurden, konnte ich mich wohl auf etwas gefasst machen.
„Ich verlasse mich in dieser Angelegenheit auf Sie."
Ihre bernsteinfarbenen Augen lagen beschwörend auf mir und ich unterdrückte den Impuls laut aufzuseufzen.
„Sie können ihre Alltagskleidung ausnahmsweise anbehalten. Aber das ist nur eine Ausnahme!", betonte sie nachdrücklich. Wenigstens das war mir gegeben. Einen Pluspunkt hatte das Ganze also. Normale Kleidung und keine zu engen Blusen und zu weite Hosen.
„Wenn sie die Kinder zu sich genommen haben, können sie in den Aufenthaltsraum auf dem Passagierdeck. Dort gibt es auch einige Gerätschaften, mit denen sich die Kinder beschäftigen können."
Die Gerätschaften - und ich ging mal stark davon aus, dass sie Spielsachen meinte - sollten nach Gebrauch natürlich ordnungsgemäß wieder an ihre ursprüngliche Stelle gerückt werden. Die Liste der Sachen, die ich zu beachten hatte, war endlos und ich hatte das Gefühl, dass ich ihren Instruktionen noch mindestens eine halbe Stunde zuhörte, bevor sie sich mit einem knappen und bestimmt nicht ernst gemeinten Dankeschön aus dem Staub machte.
Ich blieb einige Sekunden lang sprachlos vor der geschlossenen Tür stehen und bemerkte erst dann, dass hinter mir drei Männer versuchten ihr Lachen zu unterdrücken. Ich drehte mich um und sah drei Augenpaare auf mir liegen. Eins lächelte mich überschwänglich an.
„Hallo, Kindermädchen.", sagte er und ich ließ mich stöhnend auf einen freien Stuhl fallen. Ich vergrub meinen Kopf in meinen Händen.
"Das ist eine Katastrophe!" Tristan lachte leise.
„Sieh es positiv. Ab morgen musst du dir keine Sorgen darum machen, dass Frau Hoffenmeier irgendetwas an deiner Uniform zu meckern hat. Du hast da übrigens wieder einen Fleck."
Er zeigte auf meine Bluse. Mein Blick schnellte nach unten und tatsächlich prangte dort ein fetter Kaffeefleck. Fast an derselben Stelle wie bereits an diesem Morgen. Ich stöhnte erneut. Heute war einfach nicht mein Tag. Zweimal an einem Tag, daraus konnte man nun wirklich nichts Positives ziehen.
„Halt einfach die Kinder bei Laune und alle sind zufrieden."
Das sagte sich so leicht, aber ich würde da bestimmt noch meine Probleme bekommen.
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