2 | Willkommen auf der MYSTERY
Witzig fand ich diese Situation nicht. Ich wäre am liebsten weggerannt.
Tristan. Das war also der Name meines unbekannten Retters in der Not. Sehr über das Wiedersehen zu freuen schien er sich jedenfalls nicht, obwohl sich das fiese Grinsen auf seinem Gesicht vertiefte. Ich fragte mich sofort, warum ich überhaupt hier war.
Damit du dich in der Welt zurechtfinden wirst. So hatte es meine Mutter ausgedrückt. Dass das Alles bereits am ersten Tag so ausarten würde, damit hatte sie bestimmt genauso wenig gerechnet wie ich. Der Tag lief nicht nach Plan.
Allgemein war ich sowieso der Meinung, dass die Versuche meiner Mutter mich in die große weite Welt einzubürgern, letztendlich ins Leere laufen würden. Wer in meinem Alter wusste schon, wohin ihn sein Leben bringen würde? Ich hatte keine Ahnung, was ich später einmal machen würde oder überhaupt wollte. Die Arbeit auf einem Kreuzfahrtliner war doch schon einmal ein guter Anfang, um zumindest einmal in den Arbeitsalltag hineinzuschnuppern, fand meine Mutter.
Ich spürte, wie der Junge mich anstarrte und ich versuchte inständig unter seinen Blicken nicht rot anzulaufen. Wie so oft schlugen meine Pläne und Bemühungen fehl. Ich musste mittlerweile so rot sein wie eine überreife Tomate, die man am Strauch vergessen hatte.
„Du arbeitest auch hier?", fragte er und ich zuckte beim Klang seiner Stimme kurz zusammen. Ich nickte zögernd.
„Als Aushilfe.", brachte ich stockend hervor und aus irgendeinem Grund amüsierte ihn das.
Ich biss die Zähne zusammen und schaute zur Seite, in der Hoffnung Tristan könne mein Gesicht und meine immer noch röter werdende Haut dadurch nicht mehr sehen. Er lachte trotzdem und fuhr sich durch die haselnussbraunen Haare. Ich für meinen Teil wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich wusste keinen Moment in meinem Leben, an dem ich nicht lieber von der Bildfläche verschwunden wäre als in diesem Augenblick.
Tom und Tristan tauschten einen vielsagenden Blick aus. Der junge Rezeptionist musste sich das Lachen verkneifen, so viel sah ich. Ich konnte allerdings nicht den Mut aufbringen dem anderen Jungen ins Gesicht zu schauen, aus Angst mein Gesicht würde erneut in Flammen aufgehen.
Tom konnte sein Lachen schließlich nicht mehr unter Kontrolle halten.
„Mach dir nicht so viele Gedanken, Solea. Es war ein Unfall.", sagte er, was nett gemeint war, aber genau das Gegenteil von dem bewirkte, was er beabsichtigt hatte. Er wusste also von meinem Beinahe-Unfall und dem Zusammenstoß mit Tristan bestens Bescheid. Ich atmete tief ein.
„Es tut mir leid.", sagte ich in Tristans Richtung und ich hörte nur noch, wie er abgrundtief seufzte. Bevor der Junge jedoch etwas entgegnen konnte, ergriff Tom erneut das Wort.
„Tristan arbeitet hier immer in den Sommerferien, weil sein Onkel der Geschäftsführer ist.", sagte er und ich verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Spucke. Ich konnte meine Verwunderung nicht verstecken.
„Wirklich?", sprach es aus mir, ehe mein Gehirn einschreiten konnte und ich starrte den Jungen neben mir mit großen Augen an. Er bewegte sich unbehaglich, während ich mich in die Situation hineinsteigerte.
Jetzt hatte ich nicht nur irgendeinen Jungen in einen Unfall hineingezogen, was allein schon schlimm genug gewesen wäre, sondern den Neffen meines Chefs. Vielleicht hätte ich heute Lotto spielen sollen, anscheinend hatte ich das große Los gezogen.
Tom war definitiv der gesprächigere von beiden. Während Tristan schwieg, nickte er gelassen auf meine Frage.
„Er lässt sich nur selten blicken, aber immerhin öfter als Tristans Vater. Der ist- Hätte ich das nicht sagen sollen?" Mein Blick glitt wieder zu Tristan, der Tom warnend anschaute. Er seufzte erneut und Tom biss sich auf die Lippe.
„Ups." Mit einem Mal klickte er nervös mit dem Kugelschreiber in seiner Hand.
Seine Augen sprangen ein paar Mal zu mir und Tristan und wieder zurück. Dann erinnerte er sich offensichtlich daran, dass er eine Arbeit zu erledigen hatte und hielt demonstrativ meine Anmeldeformulare in die Luft.
„Ich füll die schnell aus.", sagte er und machte sich gleich daran die Papiere durchzugehen. Wohlmöglich wollte er die Lage auch nicht noch unangenehmer machen als sie ohnehin schon war. Mir schien es, als suche er ebenso dringend einen Ausweg aus dieser Situation wie ich.
Der Junge neben mir regte sich nicht und die Stille in der großen Halle wirkte keineswegs tröstlich auf mich. Ganz im Gegenteil. Die gefühlte minutenlange Stille führte nur dazu, dass ich mich noch elender fühlte. Der Anblick des versauten Hemdes in seinen Händen machte es auch nicht gerade besser. Ich senkte beschämt den Kopf und hoffte, dass ich so schnell wie möglich fliehen konnte. Ich fragte mich auch warum Tristan nicht schon längst gegangen war. Seine Anmeldeformulare waren fertig, aber anscheinend hatte er es nicht so eilig wie ich. Dem Anschein nach hatte er noch ein Hühnchen mit Tom zu rupfen. Der Arme. Das hatte man davon, wenn man gerne und viel redete. Nichts als Ärger.
Er lächelte mich gequält an und reichte mir meine Dokumente zurück.
„Wenn du die Treppe hochgehst, kommst du zur Sicherheitskontrolle. Da wird dein Koffer durchleuchtet und du kommst zur Rezeption im Schiff. Da sagt man dir dann alles weitere. Du musst dich auf jeden Fall beim Personalchef melden. Der ist direkt bei den Mannschaftsunterkünften, er kann dir also direkt deine Kabine zeigen.", erklärte er mir und ich nickte bei jeder Information, die er mir gab. Unter dem Papierstapel, den Tom mir gab, befand sich auch ein Ausweis, der mich als Crewmitglied auszeichnete. Ich musste zugeben, dass ich fast ein wenig stolz war, diesen Ausweis in meinen Händen zu halten. Es war lächerlich, aber in diesem Moment fühlte ich mich sofort wie ein Teil der Crew, dabei hatte ich das Schiff noch nicht einmal betreten.
Tom reckte zwei Daumen in die Höhe.
„Du schaffst das schon. Wir sehen uns dann in genau zwei Wochen hier wieder.", sagte er und ich lächelte tapfer.
So also würde mein erster Arbeitstag an Bord anfangen. Tristan neben mir hielt sich aus unserer Unterhaltung heraus und ich war ein wenig froh darüber, dass mir seine Anwesenheit nicht im Sekundentakt unter die Nase gerieben wurde.
Ich atmete tief ein.
„Wir sehen uns.", sagte ich an Tom gewandt. Er zwinkerte aufmunternd.
„Bis dann." Ich nickte lediglich in Tristans Richtung, der abwesend auf der Innenseite seiner Wange kaute. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt.
Meine Füße trugen mich wie von selbst zu der breiten Treppe, die ich nun inklusive meines schweren Koffers erklomm. Eigentlich hatte ich meinen Koffer nicht so schwer in Erinnerung gehabt. Ich hatte nur das Wichtigste eingepackt, ein paar Wechselklamotten, da mir die Arbeitskleidung gestellt wurde, meine Kulturtasche und andere Kleinigkeiten wie mein Smartphone Ladekabel zum Beispiel. Es war also nicht viel und trotzdem hatte ich Mühe den Koffer über die Stufen zu hieven. Meinen Rucksack hatte ich locker über die Schulter geworfen. Darin befanden sich nur meine Schlafsachen, die ich für die Nacht in der Jugendherberge benötigt hatte und die Anmeldeformulare, die ich an der Rezeption und für den Personalchef brauchen würde. Dieser sollte mich dann auf dem Schiff herumführen und mir alles Weitere erklären. Immerhin war ich ein totaler Anfänger, was das Arbeiten auf einem Kreuzfahrtliner anging.
Letztendlich zog ich meinen Koffer eine Stufe nach der anderen hinter mir her, was zwar einen höllischen Lärm machte, aber die einzige Chance war, das Ungetüm nach oben zu schaffen. Es waren sowieso nur wenige Gäste da, die sich über den Lärm hätten aufregen können.
Hinter mir hörte ich schnelle Schritte, die sich ebenfalls die Treppe hinauf kämpften, nur waren sie um einiges schneller als ich. Ich blickte auf als besagte Person plötzlich neben mir stehen blieb.
Es war niemand anderes als Tristan, der sich mir halb in den Weg stellte und mich mit schief gelegtem Kopf betrachtete.
Fragend hob ich eine Augenbraue in die Höhe, als er nach einigen Sekunden, die er mich nur anschaute, immer noch nichts sagte. Meine Wangen leuchteten noch von der früheren Entdeckung, dass er ebenfalls hier arbeiten würde.
„Kann ich dir vielleicht helfen?", fragte er schließlich mit sanfter Stimme und ich zog verwundert meine Augen zusammen. Er zeigte auf meinen Koffer, den ich noch vor ein paar Sekunden auf die nächste Stufe geschoben hatte. Ich starrte ihn perplex an. Hatte ich ihn richtig verstanden oder spielte mein Gehör mir einen Streich? Er wollte mir mit meinem Koffer helfen? Seine Stimmungsschwankungen verwirrten mich.
Zu meiner Verwunderung nahm er den schwarzen Koffer ohne zu zögern in die Hand und trug ihn die verbliebenen Stufen hinauf. Ich selbst hatte es nicht einmal bis zur Hälfte der Treppe geschafft.
Ich folgte ihm schnell und blieb am oberen Absatz der Treppe stehen.
„Also... danke. Schon wieder.", bedankte ich mich immer noch etwas verwirrt, weil mich seine plötzliche Freundlichkeit irritierte. Er nickte mir mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen zu.
„Wir sehen uns bestimmt bald wieder.", sagte er, was in meinen Ohren beinahe wie eine Drohung klang, wäre da nicht seine sanfte Stimme gewesen.
Auch wenn das Schiff groß war, konnte ich wohl nicht verhindern, dass ich ihm früher oder später einmal über den Weg laufen würde, was unter Garantie sehr peinlich für mich werden würde. Ich erwiderte nichts auf diese Aussage, weil meine geröteten Wangen in diesem Moment wahrscheinlich sowieso alles preisgaben, was in mir vor sich ging. Tristan wandte sich gleich wieder in die entgegengesetzte Richtung und ging die Treppenstufen hinunter zu Tom. Ich packte meine Sachen zusammen und machte mich etwas nachdenklich auf den Weg zur Sicherheitskontrolle, die mich sofort an den Sicherheitscheck vom Flughafen erinnerte. Ich musste meine Jacke ausziehen und alle elektronischen Geräte in eine Kiste legen. Meine Koffer wurde von einem hilfsbereiten Mann entgegengenommen und auf das Fließband gehoben. Ich wartete hinter dem Terminal auf meine Sachen und lächelte den Männern und Frauen der Security kurz an. Sie würden auch mit an Bord gehen und für zusätzliche Sicherheit sorgen.
„Guten Tag und willkommen auf der MYSTERY.", wurde ich am Eingang des Kreuzfahrtschiffes begrüßt. Ein etwas älterer Mann mit kleinen freundlichen Augen lächelte mich aufmunternd an. Er trug ein Namensschild, das ihn als C. Henry auswies. Er war der Rezeptionist auf der MYSTERY und allem Anschein nach passte diese Position zu ihm wie die Faust aufs Auge. Sobald man den liebenswürdigen Mann sah, musste man ihn einfach gernhaben und sich trotz oder gerade wegen der edlen Umgebung wohlfühlen. Es ging nicht anders. Er trug ein etwas älteres, aber trotzdem geschmackvolles Jackett, was die alte Architektur noch adliger und erhabener erscheinen ließ. Mit einem Schritt auf das Schiff, trat ich in eine mir unbekannte Welt aus roten Teppichen, dicken Samtvorhängen und poliertem Holz, wohin das Auge reichte. Übertroffen wurde das alles nur durch einen Kronleuchter, der so schwer von der Decke hin, aber gleichzeitig so leicht über all dem Luxus schwebte, dass ich ihn einige Sekunden nur sprachlos anstarren konnte. Er warf winzige Lichtspiele an die Wände und raschelte leise mit dem Schwanken des Schiffes, was mich unweigerlich an das Rascheln der Bäume erinnerte, was wir in nächster Zeit nicht zu hören bekommen würden.
Mr. Henry reichte mir einen Flyer und riss mich aus meinen Gedanken. Auf wenigen Seiten befand sich eine kurzen Sicherheitseinweisung. Die offizielle Sicherheitseinführung sollte erst später stattfinden.
Mr. Henry war außerdem so freundlich mir den Weg zu den Mannschaftsunterkünften zu beschreiben, sodass ich es schnell fand. Hätte ich nicht so sehr unter Zeitdruck gestanden, wäre ich gerne länger geblieben, um mich mit ihm zu unterhalten.
Bei den Mannschaftsunterkünften wurde ich ebenfalls bereits erwartet. Der Personalchef stellte sich als Mark Fischer vor und begrüßte mich freundlich, hatte aber sonst nicht sonderlich viel zu sagen. Ich betrachtete ihn nur flüchtig, bemerkte aber, dass er dreieinhalb Streifen und einen goldenen Stern auf seinen Schulterklappen trug. Den Streifen, dem Rangsystem an Bord, nach zu urteilen hatte er also eine hohe Position. Mit einem freundlichen Lächeln reichte er mir eine weiße Mannschaftsuniform in meiner Größe. Sie kam frisch aus der Reinigung. Eine Plastikfolie hing darum. Ich hängte mir den Beutel locker über den Arm.
„Denken Sie daran, dass in einer Stunde eine Vollversammlung der Crew stattfindet. Dort erfahren Sie auch, wo sie eingeteilt werden. Ich würde Ihnen empfehlen ein paar Minuten früher dort zu sein. Am ersten Tag ist die Aufregung noch groß und die Sitzplätze gehen schneller weg als heiße Semmeln."
Ich lachte verlegen. Er wies in einen engen Gang hinein.
„Dort hinten finden Sie ihre Kabine. Ihre Zimmergenossin kam schon vor einer halben Stunde an. Sie müsste also schon dort sein."
Ich nickte überfordert und war mit einem Schlag so aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Vor allem als ich darüber nachdachte, meine Mitbewohnerin kennenzulernen. Ob sie nett war? Ob sie mich mögen würde? Ich hoffte es, sonst würde das Zusammenleben auf so engem Raum nicht sehr schön werden.
„Wenn Sie Fragen haben, melden Sie sich einfach. Alles klar?"
Mein Gehirn verarbeitete die Informationen nicht so schnell, dass ich auf seine Frage reagieren konnte, deswegen nickte ich lediglich.
„Alles klar.", sagte ich.
Er nickte kurz.
„Also dann. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit."
Ich hatte mir den Rundgang durch das Schiff irgendwie anders vorgestellt. Immerhin hatte er mir noch eine Karte mit den Grundrissen gegeben, damit ich mich zurechtfinden würde und Mr. Henry mir nicht andauernd den Weg erklären müsste.
Der Tag wurde nicht sehr viel besser, als ich die langen Mannschaftsunterkünfte auf der Suche nach meiner Kabine entlangstreifte. Alle Blicke richteten sich auf mich, jedenfalls war es das, was mein zerschundenes Selbstbewusstsein mir in diesem Moment einreden wollte. Bestimmt verschwendete keiner der Menschen, die mir auf meinem Weg begegneten, einen weiteren Gedanken an mich. Ich machte mich automatisch immer kleiner und kleiner bis ich schließlich an einer unscheinbaren Tür stehen blieb. Eine kleine Metallplatte war daran angebracht worden. 412 stand darauf geschrieben. Meine Kabine. Der altmodische Schlüssel, den mir der Personalchef ausgehändigt hatte, fühlte sich kalt an gegen meine Haut. Und schon war die Nervosität wieder da. Ob meine Mitbewohnerin in der Kabine war? Ich atmete tief ein, bevor ich die Zimmertür endgültig aufschloss. Ich konnte direkt wieder ausatmen. Das Zimmer war leer. Und was mich in diesem Moment noch mehr schmerzte: Das Zimmer war klein. Ein Stockbett war in die rechte Ecke gestellt worden und ein kleiner Schreibtisch stand in der anderen Ecke.
Eine Tür rechts von mir führte in das Badezimmer. An der Kopfseite befand sich ein kleines Bullauge, dass aber durch die hochspritzenden Wellen schon ziemlich dreckig war und den Durchblick erheblich erschwerte. Auf dem obersten Bett lag bereits eine Tasche. Ich vermutete, sie gehörte dem Mädchen, mit dem ich die Kabine teilte.
Meinen Koffer und meinen Rucksack warf ich auf das freie Bett und meine Uniform hängte ich ordentlich an den Schrank. Bevor ich es mir gemütlich machte und mich bei meiner Mutter meldete, wollte ich mich jedoch erst einmal um das Blusen Desaster kümmern. Der Kaffeefleck musste sich mittlerweile förmlich eingebrannt haben.
Als ich die Tür zum Badezimmer öffnete wurde ich überrascht. Ein verblüfftes Gesicht blickte mir entgegen.
„Oh... Ich- tut mir leid-"
Das Mädchen vor mir war gerade dabei sich ihre Zähne zu putzen, bedeutete mir mit einer kurzen Handbewegung, dass ich kurz warten sollte. Unschlüssig, ob ich die Tür wieder zu machen sollte, trat ich einen Schritt zurück, aber das Mädchen stellte einen Fuß vor die Tür, die sie davon abhielt zuzufallen. Sie hatte blonde lange Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Augen waren so blau, dass sie fast türkis schimmerten. Sie war hübsch und ich kam nicht umhin mich neben ihr etwas ordinär zu fühlen.
Das Mädchen spülte schnell ihren Mund aus und trocknete ihre Hände. Dann reichte sie mir eine Hand, die ich zögernd entgegennahm.
„Hey, freut mich dich kennen zu lernen. Ich bin Mia.", sagte sie freundlich und lächelte mich breit an. Offensichtlich hatte sie keine Probleme auf Menschen zuzugehen, was mir besonders zu Beginn immer sehr schwerfiel.
„Ich bin Solea.", sagte ich und schüttelte ihre Hand flüchtig, bevor ich sie wieder zurückzog, als hätte ich mich daran verbrannt. Ich biss mir auf die Lippe.
„Es freut mich wirklich dich kennen zu lernen.", sagte Mia. Ich schluckte schwer. Wahrscheinlich machte ich nicht gerade einen guten ersten Eindruck. Schon wieder. Dabei wollte mich gut mit ihr verstehen.
Sonst hätte ich nicht einmal eine Person an Bord, mit der ich gut auskommen würde. Ich konnte nur hoffen, dass sie mich mögen würde. Sie strahlte mich immer noch an.
„Ich freue mich auch.", sagte ich zögernd. Sie lachte. Meine Nervosität war mir nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben.
Plötzlich wurden ihre Augen groß. Sie zeigte auf meine Bluse und verzog das Gesicht schmerzhaft.
„Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber du hast da einen etwas größeren Fleck auf der Bluse."
Ich seufzte.
„Ja, das ist mir auch aufgefallen", sagte ich und kratzte mich verlegen am Hinterkopf. Ich wollte ihr nicht gleich die Geschichte erzählen, wie ich beinahe in ein Auto reingerannt wäre und der Neffe des Chefs mir mein Leben gerettet hatte. Das hatte noch Zeit bis morgen. Mia hielt sich eine Hand vor den Mund, als wäre sie kurz davor in Lachen auszubrechen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Wäre ich nicht selbst in der Situation gewesen, hätte ich ebenfalls gelacht.
„Warte mal.", sagte sie und verschwand plötzlich hinaus in den Gang.
In der Zwischenzeit fischte ich ein sauberes T-Shirt aus meinem Koffer und tauschte die verdreckte Bluse dagegen ein. Ich ließ Wasser über das Kleidungsstück laufen und hoffte, dass der Fleck vielleicht etwas einweichen würde.
In der Stille konnte ich das Rauschen der Wellen draußen deutlich hören. Sie überschlugen sich und krachten gegen das Schiff und brachten es sogar etwas zum Schaukeln, was mir bis dahin aber nicht aufgefallen war. Wenn ich mich allerdings darauf konzentrierte konnte ich das stetige Hin und Her ganz gut in den Hintergrund meiner Gedanken verbannen. Das letzte was ich wollte, war es seekrank zu werden, auch wenn ich für diesen Fall einige Reisetabletten, fast den gesamten Bestand unserer kleinen Dorfapotheke, dabei hatte.
„Besser zu viel als zu wenig.", hatte meine Mutter gesagt, als sie mir die Medizin unter Murren und Seufzen in die Tasche gepackt hatte. Dass es an Bord auch eine Apotheke gab, übersah sie geflissentlich. Sicherlich übertraf meine kleine Hausapotheke in meinem Koffer die Apotheke an Bord bei weitem.
Die Stille war sofort zu Ende, als Mia wieder durch die Tür trat, und zwar beladen mit mehreren Waschmitteln in ihren Händen.
"Ein Gang weiter ist ein Schrank mit den Putzmitteln. Die sind immer offen, jedenfalls hier bei den Kabinen der Crew. Dort gibt es auch Waschmittel in kleineren Mengen. Wenn du etwas mehr Wäsche hast, bringst du das am besten direkt in die Waschküche. Hier. Die sollten helfen, den Fleck herauszubekommen."
Ich grinste Mia breit an, als sie mir die kleinen Tuben entgegenhielt. Sie lächelte aufmunternd und stieß mir spielerisch in die Seite.
„Mach dir keine Sorgen. Wir werden uns prima verstehen.", versicherte sie mir und mein Grinsen wurde mit jeder Sekunde breiter. Anscheinend hatte ich Glück gehabt, was meine Mitbewohnerin anging. Wenn ich mich erst einmal an die Situation gewöhnt hatte, würden wir sicherlich gute Freundinnen werden, hoffte ich. Der Anfang war jedenfalls getan.
Ich nahm das Waschmittel und verteilte etwas auf der Bluse, um es weiter einweichen zu lassen. Dann konnte ich meinen Blick wieder auf das Mädchen vor mir richten, dass mich die ganze Zeit neugierig beobachtet hatte. Ihr Grinsen wurde sofort breiter, als ich ihr in die Augen sah.
„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefreut meine neue Mitbewohnerin kennenzulernen.", sagte sie jetzt und ich nickte.
„Ich war auch neugierig. Das hier ist das erste Mal für mich, so weit von zuhause weg.", erklärte ich ihr und sie zog überrascht eine Augenbraue in die Höhe.
„Das ist das erste Mal, dass du auf einem Schiff arbeitest?", fragte sie verblüfft.
„Ja.", sagte ich verlegen.
„Wie oft hast du schon auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet?"
Ihrer Reaktion nach zu urteilen, bestimmt schon genauso oft wie Tristan. Sie überlegte scharf.
„Das hier ist mein viertes Jahr in Folge.", gab sie dann bekannt und ich konnte nicht anders als sie dafür zu bewundern. Sie schien kaum älter zu sein als ich, hatte aber viel mehr Erfahrung.
Sie lachte als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
„Mach dir deswegen keine Sorgen, Solea. Die Grundkenntnisse hast du schon nach ein paar Tagen drin. Alles was danach kommt ist nur noch Firlefanz.", versuchte sie mich zu beruhigen.
„Danke.", sagte ich. Sie war der erste Mensch an diesem Tag, vielleicht einmal abgesehen von Tom und Mr. Henry, die mich freundlich behandelte. Wenn ich an die feurigen Augen von Tristan zurückdachte erschauderte ich gleich.
Mia lächelte.
„Nichts zu danken."
Bei ihr klang es so beiläufig, aber nach unserem Gespräch wurde ich tatsächlich etwas ruhiger. Sie hatte es geschafft, dass ich nicht mehr so gestresst war. Es war schließlich nur ein erster Arbeitstag. Nervosität gehörte da irgendwie dazu.
„Wo bist du eingeteilt?", fragte Mia mich plötzlich.
„Ich bin als Aushilfe hier. Ich weiß noch nicht, wo ich eingeteilt werde."
Mia nickte verstehend und lächelte mich dann aufheiternd an.
„Mach dir keine Sorgen deswegen. Die Arbeit hier ist in Ordnung und wird darüber hinaus auch noch ganz gut bezahlt. Solange du nicht im Ausguck sitzt und nach Eisbergen Ausschau halten musst, kann man es hier durchaus aushalten." Sie lachte und ich stimmte in ihr Lachen mit ein. Es war erfrischend nach all der Anspannung und Aufregung des Morgens einmal wieder herzhaft zu lachen und ich spürte instinktiv, dass ich mich mit meiner Mitbewohnerin gut verstehen würde.
Mia erzählte mir, dass sie in der Küche arbeitete.
„Bestimmt werden wir uns dort öfter sehen, wenn du zum Essen kommst. Die Crew hat hier einen eigenen Speisesaal. Und das Essen ist genau dasselbe wie für die Gäste.", erklärte sie.
„Ich kann dich später ein wenig herumführen, wenn du willst.", sagte sie und ich nahm ihr Angebot natürlich sofort an. Es war schließlich immer gut sich auszukennen und nicht andauernd auf die Karte schauen zu müssen.
Mia war wahrscheinlich eine der redseligsten Personen an Bord. Wenn nicht sogar auf der ganzen Welt. Wenn sie einmal angefangen hatte, konnte man sie nur schwer zum Schweigen bringen. Sie redete in einem nie enden wollenden Fluss, was das beste Heilmittel gegen jeglichen Kummer und Sorgen war. Sie berichtete auch von ihren Erfahrungen an Bord.
„Der Chefkoch ist ziemlich merkwürdig. Insgeheim nennen wir ihn Herby, aber lass ihn das niemals hören. Sicher wäre er nicht sehr erfreut darüber. Er kann manchmal etwas laut werden, aber so ist das nun einmal, wenn man ein angesehener Fünf-Sterne Koch ist und so viele Leute an Bord versorgen muss."
Sie warf ihre Haare nach hinten und ich kicherte leise.
„Wenn er wollte, könnte er die gesamte Küche ganz allein führen."
„Du tust mir leid."
Ich betrachtete sie mitleidig, aber Mia lachte.
„Du merkst, es ist nie langweilig hier an Bord." Ihr Blick schweifte in die Ferne.
„Auf der MYSTERY können Träume wahr werden.", sagte sie theatralisch, dann seufzte sie tief.
„Eigentlich wäre ich diesen Sommer in dem Hotel meines Vaters gewesen und hätte ihm geholfen, aber er meinte ich solle noch einmal an Bord gehen. Er wollte, dass ich diesen Sommer etwas erlebe und nicht immer nur das Hotel sehe." Sie rollte mit den Augen.
„Väter... Da kann man nichts machen. Was hält deiner davon, dass du hier bist?", fragte sie unvermittelt. Ich zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Ich habe ihn nie kennengelernt.", sagte ich und Mia biss sich auf die Lippe.
„Tut mir leid, ich wollte keine alten Wunden aufreißen." Sie strich sich verlegen über die Haare, aber ich winkte ab. Ich hatte mich mit dem Wegbleiben meines Vaters schon abgefunden. Ich hatte mit meiner Mutter auch eine tolle Familie. Dafür brauchte ich keinen Vater.
Ich lächelte Mia abwesend an.
„Naja, auf jeden Fall wirst du dich hier sicherlich sehr wohl fühlen.", sagte Mia zuversichtlich. Ich konnte nur hoffen, dass sie recht behielt. Das Schiff schwankte ein wenig zu Seite und die Gischt spritzte an das Bullauge. Wie es wohl sein würde, wenn wir erst einmal abgelegt hatten und auf das weite Meer hinausfuhren? Mein Magen machte einen kleinen Hüpfer und die Nervosität wurde langsam durch Freude ersetzt.
Ich würde schon zurechtkommen. Ich war schließlich alt genug.
Bevor es mit der Arbeit richtig losging, schaute ich ab und zu nach dem Kaffeefleck im Badezimmer. Das Waschmittel schien schnell zu helfen. Der Fleck wurde blasser und blasser.
„Wir werden immerhin einen Haufen anderer Länder sehen, wenn auch nur von außen. Aber ist es nicht fantastisch so auf dem Wasser?"
Mia redete immer noch beruhigend auf mich ein.
„Ich habe das Wasser schon immer geliebt.", sagte sie und ich musste ihr zustimmen. Das Wasser hatte auch eine besondere Wirkung auf mich. Das hatte es schon immer gehabt. Aber gleichzeitig hatte ich auch einen höllischen Respekt vor Wasser. Wasser fand immer einen Weg. Wasser war stark. Es hatte die Kraft ein riesiges Feuer zu löschen und es war beinahe genauso unbändig wie die orange-roten Flammen. Man durfte sich von seiner glatten Oberfläche nicht täuschen lassen. Unter der Oberfläche zeigte sich die wahre Macht des Wassers nur allzu deutlich. Jeder tiefer man kam, desto höher wurde der Druck. Wasser konnte mächtig sein, wenn es wollte. An diesem Tag entschied es sich jedoch für die sanfte Variante und plätscherte friedlich vor sich hin.
„Wir werden bestimmt viel Spaß zusammen haben." Mia hatte nicht bemerkt, dass ich langsam in meinen Gedanken versunken war, deswegen nickte ich bloß. Ja, wir würden bestimmt viel Spaß zusammen haben. Mein erster Tag an Bord würde mit aller größter Wahrscheinlichkeit noch mehr für mich bereithalten, so viel war sicher.
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