Endlich hatte sich alles zum Guten gewandt. Es kam mir alles noch ziemlich unwirklich vor. Die Festnahme, der aufgeklärte geplante Raub, einfach alles. Nach dem Sprung ins Wasser hatte ich nicht einmal eine Erkältung. Und jetzt standen wir hier. In schicken Kleidern und beschauten uns in dem großen bodentiefen Spiegel. Emily kicherte.
„Ich wusste das Kleid würde dir stehen.", sagte sie und ich grinste von einem Ohr zum anderen.
Ohne auf meine Proteste zu achten, hatte sie mit mir dem Bordshop einen Besuch abgestattet und hatte mir ein Kleid herausgesucht, von dem sie meinte, dass es mir absolut perfekt stehen würde. Und sie hatte recht gehabt. Der schwarze seidige Stoff des Kleides schmiegte sich anmutig um meine Knöchel und passte sich perfekt an meinen Körper an.
Emily hüpfte begeistert um mich herum. Ihre Locken wippten dabei euphorisch in die Höhe. Wir waren in ihrem Zimmer. In meiner Kabine hätte man das nicht so einfach machen können. Mit zwei Personen, die sich umziehen wollten, hätte man kaum Platz gehabt. Emily selbst trug ein etwa knielanges dunkelgrünes Kleid, welches ihre langen Beine betonte. Das Grün ließ ihre Augen hervorstechen und ich bemerkte erst da, wie unglaublich gut ihr Kleider standen. Bislang hatte sie immer nur gemütliche Jeans getragen, wenn wir uns gesehen hatten. Die waren zwar um einiges angenehmer, betonten ihre Figur aber nicht halb so gut, wie es das Kleid tat.
Eigentlich waren wir schon zu spät dran. Der Ball wurde bereits vor einer halben Stunde eröffnet und Emily war es, die mich nun zur Eile antrieb. Ihre Familie war schon längst verschwunden.
„Los, beeil dich, Solea. Ich will noch ankommen bevor sie die große Torte anschneiden.", sagte sie und ich lachte.
„Bist du sicher, dass es Torte geben wird?" Emily rollte mit den Augen.
„Natürlich gibt es Torte. Es gibt immer Torte.", sagte sie, als wäre ich total übergeschnappt, das überhaupt in Frage zu stellen. Ich kicherte. Ein wissendes Grinsen huschte über ihr Gesicht.
„Und außerdem willst du doch nicht zu spät zu deinem Date mit Tristan kommen, oder?", wackelte sie mit ihren Augenbrauen und ich konnte nicht verhindern, dass eine verräterische Röte in mein Gesicht schoss.
Ich hatte diese ganze Situation mehrmals in meinem Kopf abgespielt und genaustens analysiert und war letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass Tristan die Frage keineswegs als Einladung auf ein Date gesehen hatte. Er hatte mich bloß gefragt, ob ich mit ihm zum Ball gehen würde. Alles auf rein freundschaftlicher Basis.
Es ärgerte mich fast selbst ein bisschen, dass ich davon ausgegangen war, dass es tatsächlich ein Date sein könnte. Aber als ich so weiter darüber nachdachte, wollte ich mir nur noch gegen den Kopf schlagen. Dumm, dumm, dumm.
Tristan würde mich niemals nach einem Date fragen. Er war einfach Tristan und ich war einfach Solea. Es gab kein "Wir" in dem Sinne. Daran würde sich nichts ändern.
Genau das sagte ich Emily nicht zum ersten Mal. Und genau wie die unzähligen Male zuvor, in denen ich ihr erklärte, dass Tristan und ich nur Freunde waren, verdrehte sie theatralisch die Augen.
„Ja, klar. Wie du meinst.", sagte sie achselzuckend und ich tippte, plötzlich doch nervös, von einem Fuß auf den anderen. Mein Blick blieb an meinem Spiegelbild hängen. Ich sah so aus wie immer. Nur das ich eben ein Kleid trug.
„Meinst du wirklich ich kann so gehen?", fragte ich Emily unsicher und sie schnalzte mit der Zunge.
„Was? Hast du auf einmal Muffensausen oder warum bist du auf einmal so eingeschüchtert?" Ich schluckte. Irgendwie war mir schon leicht unwohl zumute. Ob das allgemein an der Situation lag oder an dem Jungen, der mein Herz ein klitzekleines bisschen überforderte, konnte ich nicht sagen.
Die Nervosität kroch langsam an die Oberfläche und hätte mich bestimmt dazu gebracht alles über den Haufen zu rennen und schlicht und einfach gar nicht auf dem Ball zu erscheinen. Tristans Enttäuschung hin oder her. Aber zu seinem und meinem Glück erstickte Emily diese kleinen Flammen an Unsicherheit gekonnt.
„Solea, du siehst wunderschön aus. Auf keinen Fall wirst du jetzt alles hinschmeißen und den armen Tristan allein lassen.", sagte sie und ich nickte ergeben.
„Ist ja schon gut.", seufzte ich. Ich strich mir noch ein paar Mal über das Kleid, bis es meiner Meinung nach nahezu perfekt fiel und wandte mich dann an Emily. Auch sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht nahm langsam sehnsüchtige Züge an. Ich legte eine Hand auf ihre Schulter und sah sie mitfühlend an. Ich wusste woran sie dachte, in der Sekunde, in der ich sie ansah.
„Hat sich dein Freund gemeldet?", fragte ich leise und sie schüttelte den Kopf.
„Die Nachricht ist gesendet, aber nicht gelesen. Entweder er hat sie wirklich noch nicht gelesen oder er hat mich blockiert und er will einfach nichts mehr mit mir zu tun haben.", sagte sie niedergeschlagen und ich drückte sie kurz.
„Er wird sich melden. Keine Sorge.", versicherte ich ihr und sie kniff die Lippen zusammen. Dann rang sie sich zu einem Lächeln.
„Darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Komm." Sie hielt mir eine Hand entgegen und ich lächelte.
„Jetzt ist Party-time."
Meine erste Reaktion zu dem Ballsaal transformiertem Restaurant, war nicht leicht in Worte zu fassen. Ich war vollkommen überwältigt, deswegen stand mein Mund beim Betreten weit offen und meine Augen drohten aus meinen Augenhöhlen zu kullern. Der ganze Saal war eigens für den Ball zu einer riesigen Tanzfläche umgestaltet worden. Einige Theken befanden sich noch an ihrem alten Platz, nur statt dem Buffet von Frühstück, Mittag- und Abendessen wurden hier nun Cocktails ausgeschenkt und Häppchen angeboten. Lange Seidenbänder schwangen sich durch den Raum und verdeckten die schmucklose Holzdecke.
Für diesen Ball schienen alle Register gezogen worden zu sein. Ich hatte noch nie erlebt, dass man sich für einen Ball so viel Mühe gegeben hatte. Auch die Gäste selbst sahen umwerfend aus. Mit meinem schlichten Kleid kam ich mir da beinahe etwas underdressed vor. Mit den jährlichen Bällen meiner alten Schule ließ sich das erst recht nicht vergleichen. Der Saal strotzte nur so vor Extravaganz. Selbst die Kellner - einen von ihnen erkannte ich als Francesco, dem ich flüchtig zuwinkte - strahlten diese Extravaganz aus. Es war unglaublich. Hätte ich auch nur irgendwem bei mir zuhause davon erzählt, hätten sie es mir nicht geglaubt.
Trotz dieses glänzenden Tohuwabohus konnte ich nicht behaupten, dass ich mich hier in irgendeiner Weise unwohl fühlte. Ganz im Gegenteil. Sobald Emily und ich den Raum betraten, fühlten wir uns wie zuhause. Das Mädchen zog mich zielgerichtet auf eine der Theken zu und grinste triumphierend. Hinter der Theke stand eine dreistöckige Torte. Sie war schon angeschnitten und immer mal wieder kamen Gäste und nahmen sich ein Stück. Emily konnte ebenfalls nicht nein sagen und nahm genüsslich einen Bissen.
„Willst du auch?", fragte sie mich und ich schüttelte nur stumm den Kopf. Ich befürchtete, dass die Torte nicht lange in meinem Magen ausgehalten hätte. Die ganze Nervosität kam auf einen Schlag wieder, als ich in der tanzenden Menge plötzlich den Jungen mit den wirren Haaren ausmachte. Er schlängelte sich elegant zwischen den tanzenden Körpern hindurch. Ich verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Spucke. So gut auszusehen gehörte per Gesetz verboten.
Tristan trug einen schlichten schwarzen Anzug, der mir den Atem nahm. Der schwarze Stoff schmiegte sich perfekt an seine Figur an. Mit seinen Haaren hatte er nicht viel gemacht. Sie standen ihm verstrubelt und zerzaust vom Kopf wie eh und je. Dafür strahlte sein Gesicht umso mehr, als er vor uns stehen blieb. Er strahlte pure Lebensenergie und Kraft aus.
„Hey.", sagte er und lächelte breit.
„Hi.", sagte auch Emily, aber ich bekam immer noch kein Wort hervor, so gefangen war ich von seinem Anblick. Emilys Blicke, die verschwörerisch zwischen Tristan und mir hin und her huschten, konnte ich trotzdem nicht ignorieren.
Sie klatschte abrupt in die Hände und ließ uns beide erschreckt zusammenfahren.
„Ich glaube ich habe meine Schwester gesehen. Ich schaue mal, wie es ihr geht.", erklärte sie uns und schon war sie verschwunden.
Ich war mir sicher, dass sie in diesem Moment ganz sicher nicht ihre Schwester gesehen hatte und wenn doch, wäre sie sicher in die andere Richtung gelaufen. So standen Tristan und ich allein da.
Tristan kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Willst du vielleicht etwas trinken?", fragte er und ich nickte bloß. Mein Mund war staubtrocken und ich konnte noch nicht einmal sagen warum. Vielleicht wusste ich es doch, aber es war mir zu peinlich, offen zuzugeben, dass es allein an dem Jungen vor mir lag.
Tristan schnappte sich zwei Cocktailgläser und wir machten uns auf den Weg zu einem freien Tisch. Ich bemerkte wie uns auf unserem Weg gefühlt alle Leute beobachteten. Vor allem die weiblichen Passagiere beäugten mich von oben bis unten und ich fühlte mich zunehmend unwohl. Ich senkte den Kopf.
Tristan stellte die beide Gläser auf einen runden Tisch und ich nippte daran. Das Zeug war ziemlich süß. So süß, dass ich unweigerlich das Gesicht verzog. Tristan lachte leise in sich hinein.
„Man muss sich an den Geschmack etwas gewöhnen, aber nach einer Zeit fängt es an besser zu schmecken.", versicherte er mir.
"Das hoffe ich."
Auch wenn schon eine Woche seit den Vorfällen in Norwegen vergangen war, spielten sich die Szenen dennoch vor meinem inneren Auge ab, wie auf einer Filmrolle. Auch jetzt, da wir ruhig nebeneinanderstanden und uns wortlos in die Augen blickten.
Ich kam immer noch nicht mit der Situation zurecht, auch wenn ich meinen Freunden genau das vorspielte. Ein kleines Detail fiel mir dabei erst in diesem Moment auf, in dem ich an meinem Cocktail nippte und mit meinen Fingern spielte.
„Der Ring!" Ich schlug meine Hände vor dem Mund zusammen. Ich hatte den Ring vergessen! Er lag immer noch auf meiner Kabine. Sicher verstaut zwischen einem Paar Socken.
„Wir müssen ihn zurückbringen.", sagte ich und Tristan lächelte. Er legte besänftigend seine Hände auf meine Schultern.
„Das hat auch noch bis morgen Zeit. Der Ring rollt dir schließlich nicht weg, oder?", beruhigte er mich und ich nickte langsam. Wo er recht hatte. Morgen war ein neuer Tag. Es würde aufs Gleiche herauskommen, egal wann ich den Ring zurückbrachte. Er ersparte es mir so einige Fragen. Dieser Abend sollte zur Entspannung da sein. Nicht um sich noch mehr Sorgen zu machen.
„Willst du tanzen?" Tristans Frage ließ mich aufhorchen. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen und ich nickte nervös.
Gerade als sich Tristans warme Hand in meine legte und wir auf der Tanzfläche verschwinden wollten, kam uns Emily entgegen. Sie grinste von einem Ohr zum anderen.
„Du wirst nicht glauben was passiert ist.", rief sie fröhlich und ich blinzelte perplex.
Emily hüpfte von einem Bein auf das andere.
„Sven hat sich gar nicht von mir getrennt.", platzte es aus ihr heraus und sie quietschte glücklich.
Also war es doch nur ein Missverständnis gewesen. Ich lächelte.
„Das freut mich wirklich, Emily. Aber was ist genau passiert?"
Ich konnte spüren wie Tristan an meinem Arm kurz zusammenzuckte, als würde er befürchten, dass das Gespräch länger dauern würde, wenn Emily einmal anfing zu reden. Er seufzte leise und ich stieß ihm leicht gegen die Rippen, was Emily zum Glück beides verborgen blieb.
Tristan löste seine Hand aus meiner und gleich darauf war die wohlige Wärme verschwunden.
„Ich gehe etwas zu trinken holen. Kann ich euch auch etwas mitbringen?"
„Für mich nichts, danke.", lächelte ich ihn an und Emily schüttelte ihrerseits den Kopf. Ihr Blick glitt zwischen Tristan und mir hin und her und ein wissendes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
„Ich komme gleich wieder.", sagte Tristan und verschwand dann in der Menge.
Das Mädchen kniff die Lippen zusammen.
„Ich habe euch gestört, oder? Oh man, ich bin so dumm. Ich habe den besonderen Moment zerstört.", bemerkte das Mädchen und schlug sich gegen die Stirn. Ich lächelte verlegen.
„Du hast uns nicht gestört.", versicherte ich ihr, doch sie schnalzte mit der Zunge. Ich winkte ab, bevor sie mich noch in Verlegenheit brachte. Sie kam sonst auf die verrücktesten Gedanken.
„Also los, erzähl schon. Was war das jetzt mit deinem Freund?"
Sofort breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Es ist total verrückt, aber die SMS, die er geschrieben hat, war gar nicht von ihm.", sagte sie und meine Augen weiteten sich. Auf meinem Gesicht mussten in dem Moment hunderte Fragezeichen zu sehen sein. Emily nickte glücklich.
„Ich habe dir doch erzählt, dass er sich an dem Tag mit seiner besten Freundin treffen wollte?" Ich nickte immer noch etwas verwirrt.
„Es hat sich herausgestellt, dass nicht er die SMS abgeschickt hat, sondern sie."
Mein Mund klappte auf.
„So ein Biest.", war alles was ich hervorbrachte. Emily kicherte.
„Ich habe deinen Rat befolgt und ihn zur Rede gestellt.", sagte sie stolz und ich zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Ja und weiter?"
Emily grinste.
„Erst hat er mir geschrieben, dass er keine Ahnung hat, wovon ich überhaupt rede. Dann habe ich ihm einen Screenshot geschickt.", sie lachte überlegen.
„Er hat Katherine zur Rede gestellt und sie hat zugegeben, dass sie die SMS aus Spaß abgeschickt hatte. Damit das ich so reagieren würde, hatte sie nicht gerechnet."
Ich verdrehte die Augen. Wie hätte sie denn ihrer Meinung nach reagieren sollen, wenn ihr Freund plötzlich aus heiterem Himmel mit ihr Schluss machte? Emily kicherte.
„Er hat sie ziemlich zur Sau gemacht, hat er gesagt. Und er meinte, dass er jetzt erst einmal nichts mehr mit dieser falschen Schlage zu tun haben will. Er hat es selbst eingesehen, ohne, dass ich auch nur ein Wort gesagt habe."
Ich lachte auf. „Das freut mich wirklich für dich.", sagte ich und das Mädchen umarmte mich überschwänglich.
„Danke.", flüsterte sie, während ich versuchte nicht zu stolpern und auf den Boden zu krachen. Ich erwiderte ihre Umarmung herzlich.
„Keine Ursache."
Ihre Augen leuchteten.
„Ich glaube ich gehe dann auch wieder.", sagte sie schnell und ich runzelte die Stirn.
„Du musst noch nicht gehen, es-"
„Doch, doch. Ich muss jetzt gehen. Meine Schwester hat nach mir gerufen. Bis bald.", sagte sie breit grinsend. Das war genauso gelogen, wie beim ersten Mal.
Nun stand ich schon wieder allein am Rand des Geschehens. Ich verschränkte die Arme und blickte über die Menge. Dort waren hauptsächlich Gäste zu sehen, aber auch Mitglieder der Crew, die den letzten Abend zusammen feierten. Für mich war das nicht das Ende. Für mich hatte es gerade erst begonnen. Immerhin waren gerade einmal zwei Wochen vergangen. Ich sah sogar Herr und Frau Gremperich, die eng miteinander tanzen. Ich hatte keine Ahnung, wo die drei Kinder waren, aber dafür war ich heute Abend auch nicht zuständig. Ich konnte das alles endlich einmal genießen, auch wenn ich nicht leugnen konnte, dass mir die drei Jungs sicher fehlen würden.
Ich stand noch einige Sekunden in Gedanken da, als Tristan wieder neben mich trat. Er lächelte verlegen.
„Wo hast du denn dein Getränk gelassen?", fragte ich neugierig und deutete auf seine leeren Hände. Er fing an zu stottern.
„Äh, ja... also das, das habe ich einfach schon... ich habe schon getrunken. Aber hinten an der Bar... Also kein Alkohol nur eine Cola...", sagte er hilflos und ich lachte leise in mich hinein.
„Willst du vielleicht etwas nach draußen?", fragte Tristan und ich nickte. Das hörte sich nach einer guten Idee an. Hier drinnen wurde es sowieso langsam stickig.
Tristan nahm meine Hand in seine und führte mich auf das Außendeck. Der Wind blies uns entgegen und ich atmete tief ein. Die Luft tat unglaublich gut und auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut.
Der Nachthimmel war übersäht mit Sternen und mir entwich ein kleines ‚Wow'. Tristan lächelte. Der schwarze Himmel erinnerte mich an die Nacht, in der Tick, Trick und Track verschwunden waren. Er hatte mir geholfen sie wiederzufinden. Das war das erste Mal, dass ich Tristan wirklich und wahrhaftig liebgewonnen hatte. Und hier standen wir.
Ich atmete tief ein. Die Luft wurde langsam frisch und der Wind wehte um einiges stärker als noch vor wenigen Stunden. Langsam kamen wir unserem Endziel näher und ich war beinahe dankbar deswegen. So würden wir alles hinter uns lassen. Zumindest die letzten zwei Wochen.
„Warte." Tristan streifte sich seine Anzugjacke ab und legte sie mir um die Schultern. Ich lächelte sanft.
„Danke." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber er verstand mich auch über das Rauschen des Meeres hinweg, das nun dunkel und ruhig vor uns lag. Der weiche Stoff seiner Jacke spendete mir sofort Wärme und ich seufzte auf. Fern der beobachtenden Blicke der anderen Passagiere wurde die Stimmung zwischen uns entspannter.
„Aber mach mich nicht für eine Erkältung verantwortlich.", forderte ich und Tristan lachte.
„Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen."
Plötzlich streckte er seine Hand aus und grinste spitzbübisch. Die Nervosität, die noch vor wenigen Minuten mein und auch sein Verhalten bestimmt hatte, war mit dem schneidenden Wind davongeflogen.
„Bekomme ich jetzt meinen Tanz?"
Ich grinste.
„Aber nur, weil du so lieb gefragt hast."
Ich legte meine Hand in seine und er zog mich mit einer ruckartigen Bewegung zu sich.
Gleich darauf verfielen wir in einen gleichmäßigen Takt zur Musik, die aus dem Inneren zu uns durchdrang. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass der Junge gut tanzen konnte.
„Hat da jemand Tanzunterricht genommen?", fragte ich und Tristan lächelte überlegen.
„Ich habe mehr Bälle erlebt, als du dir vorstellen kannst. Da ist es nur natürlich, dass ich auch unglaublich gut tanzen kann.", sagte er selbstbewusst und ich seufzte. Ich schaute in Richtung Himmel.
„Wie konntest du ihn nur so erschaffen?", fragte ich theatralisch und Tristan lachte kurz auf.
„So perfekt, meinst du?" Ich schlug ihm lachend gegen den Arm.
„So war das nicht gemeint.".
„Versuch dich ruhig heraus zu reden. Ich weiß, was ich gehört habe."
Ich seufzte. Womit hatte ich das nur verdient?
„Ich meinte eigentlich, dass du viel zu selbstbewusst bist. Kein Mensch hält das aus.", erklärte ich und Tristan schmunzelte. Und schüttelte den Kopf.
„Versuch es ruhig. Aus der Sache kommst du nicht mehr heraus."
Ich seufzte. Das tat ich wahrscheinlich wirklich nicht.
„Ein bisschen Selbstvertrauen hat noch niemandem geschadet.", bemerkte er und zumindest in diesem Punkt musste ich ihm zustimmen. Auch wenn ich selbst davon nicht sehr viel besaß.
"Kannst gerne etwas von mir abhaben.", meinte er scherzhaft und ich schmunzelte. Wir verfielen in Schweigen. Die Musik aus dem Innenraum wurde stetig leiser und irgendwann standen wir einfach nur da und umarmten uns.
„Ich bin auch nicht immer so selbstbewusst, weißt du? Ich habe auch Fehler und das gebe ich ganz offen zu."
Ich konnte seinen warmen Atem an meinem Hals spüren und das Gefühl brachte mich zum Zittern. Unsere Position strahlte so viel Zuneigung aus, dass ich einen Augenblick lang daran dachte mich aus der Umarmung zu befreien, obwohl es eigentlich das genaue Gegenteil war, was ich wollte. Ich runzelte die Stirn.
„Auch, wenn du manchmal lausige Entscheidungen triffst. Am Ende geht irgendwie alles gut für dich aus."
Tristan schüttelte den Kopf.
„So einfach ist das nicht. Ich kann es nur gut verstecken."
„Was meinst du?"
„Meine Angst.", sagte er. Er starrte an mir vorbei auf die Wellen. Wir schaukelten uns nur noch von einer Seite zur anderen und wieder zurück, damit wir nicht erfroren. Zumindest er nicht, immerhin trug ich seine Jacke.
„Ich habe ständig Angst.", öffnete Tristan sich mir und ich hörte ihm wortlos zu.
„Ich habe Angst, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Ich habe Angst vor meiner Zukunft. Ich habe Angst vor allem. Und am meisten hatte ich Angst, als du ins Wasser gesprungen bist und ich dich nicht mehr sehen konnte."
Erstaunt zuckte ich zusammen und lehnte mich ein Stück nach hinten, um ihm in die Augen zu schauen. Sie waren in die Ferne gerichtet. Darin lag nichts als pure Ehrlichkeit.
„Jeder bekommt mal Angst. Vor seiner Zukunft, wenn etwas Neues passiert. Bei meinem Sprung hatte ich einfach keine Zeit, um Angst zu haben." Wenn überhaupt war ich diejenige, die sich vor allem fürchtete. Ich wusste noch nicht einmal, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich glaubte niemand, egal wie alt, konnte sich von diesen Ängsten freisprechen.
Tristan verneinte meine Aussage zu meiner Verwunderung.
„Nein, nicht du. Du bist anders.", sagte er und ich wusste nicht, ob anders sein in diesem Fall positiv oder doch vielmehr negativ gemeint war. Ich entschied mich für ersteres und Tristan fuhr unbeirrt fort.
„Als das alles hier angefangen hat. Dieses kleine Abenteuer an Bord. Ich hatte eine Scheiß-Angst vor dem, was alles passieren könnte, aber nicht du. Du warst so lebhaft und so zielsicher, dass alles aufzuklären, dass ich am Anfang nicht wusste, ob nun du oder ich der Psycho von uns beiden ist."
Ich biss mir auf die Lippe. Ich neigte wohl eher zu den unkonventionellen Wegen, aber das sollte er bereits wissen. Ein Verbrechen an Bord der MYSTERY aufzuklären fiel leider genau in diese Kategorie.
„Ich dachte du bist das mutigste Mädchen, das ich je getroffen habe.", sagte er nun und mein Gesichtsausdruck hätte nicht überraschter sein können. Für mich, ein Mensch, der sich quasi vollständig von seinen Mitmenschen abkapselte, hörte sich das ziemlich absurd an.
Ich war sicher nicht der Typ mutiges Mädchen. Ganz sicher nicht.
„Auf der Pier habe ich es gesehen. Jeder hat das." Ich runzelte verwirrt die Stirn, doch der Junge ließ sich dadurch nicht beirren.
„Als Frau Hoffenmeier die Waffe hervorgezogen und das Kind bedroht hat, sind wir alle zu Eissäulen erfroren. Wir waren unfähig auch nur einen Finger zu rühren. Aber nicht du. Es war so, als würde in dem Moment irgendetwas in dir geschehen. Etwas, das dir gesagt hat, was zu tun ist und dich zum Handeln getrieben hat."
Ich grübelte eine Weile über seine Worte nach. Wenn ich an diesen Moment zurückdachte, hatte ich mich so verhalten wie jeder es getan hätte. Es war einfach notwendig gewesen, dass jemand nach vorne trat und Frau Hoffenmeier die Stirn bot und dieser jemand war nun einmal ich gewesen. Ich war schuld, dass ihre Pläne schiefgelaufen waren, also musste ich es auch ausbügeln.
„Ich hatte auch Angst, weißt du?"
Tristan hob überrascht die Augenbraue.
„Dann hast du es aber gut versteckt."
Ich seufzte.
„Als Mia auf dich gezielt hat - da hatte ich Angst.", gab ich im Flüsterton zu.
„Ich auch, ehrlich gesagt." Er lachte leise. Und meine Augen schweiften langsam zu ihm.
„Von Mia hätte ich so etwas nie erwartet."
„Ich auch nicht."
Seine Mundwinkel zogen sich wieder nach oben. Er lächelte beinahe stolz.
„Es wäre niemals gut ausgegangen, wenn du nicht gewesen wärst.", sagte Tristan.
"Das war nicht ich allein. Das waren du, Emily und ich."
Wir ließen die Worte in der kalten Luft schweben. Das Meeresrauschen übernahm wieder die Oberhand.
„Und das alles nur wegen ein bisschen Schmuck und ein paar Gemälden.", murmelte ich vor mich hin. Wenn ich daran dachte, kam es mir wie im Film vor.
„Einfach unfassbar."
Der Junge neben mir atmete tief ein und aus.
„Lassen wir das Thema für heute.", schlug er vor und ich nickte zustimmend.
„Am liebsten für immer.", sagte ich und Tristan lachte daraufhin.
„Gerne." Eine Zeit lang war es wieder ruhig zwischen uns, bis Tristan erneut das Wort ergriff.
„Wir zwei haben schon sehr viel zusammen durchgemacht, was?"
„Sieht ganz so aus."
Etwas verträumt schaute ich in den Nachthimmel. So viel war passiert. Die Wellen schmiegten sich mit sanften Geräuschen um das Schiff und die Sterne spiegelten sich in dem dunklen Wasser. Der Mond schimmerte ebenfalls geheimnisvoll.
In dem Moment fehlte es mir an nichts. Das dachte ich zumindest, doch Tristans weiche Lippen auf meinen überzeugten mich letztendlich vom Gegenteil.
Das hatte mir gefehlt. Meine Augen schlossen sich wie von selbst und ich spürte, wie ich anfing den Kuss zu erwidern. Schlagartig erwachten tausende Schmetterlinge in meinem Bauch zum Leben und flatterten mit ihren Flügeln. Mein ganzer Körper kribbelte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Tristans weiche Lippen, die sanft Druck auf meine eigenen ausübten. Als er sich von mir löste, ließ ich meine Augen einen Moment geschlossen. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht und meine Augen flatterten schließlich erstaunt auf. Ich starrte ihn etwas benommen aus großen runden Augen an.
„Das wollte ich schon lange tun.", raunte er und seine dunkle Stimme führte dazu, dass ich an meinem ganzen Körper eine Gänsehaut bekam.
Ich schluckte. Nach diesem Kuss konnte ich keinen richtigen Gedanken fassen. Ich starrte ihn einfach sprachlos an. Er atmete tief ein.
„Hör zu, ich wollte es dir eigentlich schon länger sagen, aber dann, wo das alles passiert ist... Es war irgendwie nie der richtige Zeitpunkt, dir zu sagen, was ich empfinde."
Seine Hand wanderte gedankenverloren zu meinem Gesicht und er strich mir behutsam über die Wange. Seine Finger hinterließen kleine Schauer auf meiner Haut und ich fing an zu lächeln.
„Das heißt du und ich? Wir beide?"
Tristan zuckte unbeholfen mit den Schultern. Seine Zunge fuhr nervös über seine Lippen.
„Ich meine, wenn du willst?"
Es klang wie eine Frage, aber die Antwort darauf kannte ich schon länger.
Mein Gesichtsausdruck war ihm anscheinend Antwort genug. Seine Mundwinkel zogen sich in die Höhe und seine Augen leuchteten verheißungsvoll. Und schon lagen seine Lippen erneut auf meinen.
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