14 | Verloren und verdammt
Jede Münze hat zwei Seiten und ich glaubte, dass sich das Glück endlich auf unsere Seite schlich. Doch nicht einmal in meinen kühnsten Träume hätte ich mir ausmalen können, was nötig war, um den Lauf der Dinge an Bord der MYSTERY zu verhindern.
Tristan sprintete die Treppen hinunter und hechtete die Gänge entlang und Emily, Alexander und ich folgten ihm reichlich außer Puste. Tristan schien jedenfalls keine Probleme mit seiner Atmung zu haben, ganz im Gegensatz zu uns anderen. Jetzt wo er wusste, wer hinter den Verbrechen steckte, war er nicht mehr aufzuhalten. Es war, als würden ihn diese neu gewonnenen Informationen mit neuer Energie versorgen und zur Eile antreiben und das war auch gut so. Wenn Mr. Henry es geschafft hatte, sollten sich Frau Hoffenmeier, Mia und ihre Großeltern immer noch brav auf dem Kreuzfahrtschiff aufhalten. Und wenn es noch besser lief, sollten sich in genau dieser Sekunde mehrere Polizeiwagen auf den Weg zu uns machen. Wenn wir Glück hatten, sollte alles wieder gut werden und darauf hoffte ich.
Der Fakt, dass Mia eine Pistole in ihrem Besitz hatte machte mir jedoch zunehmend Sorgen. Hoffentlich hatte sie das Teil auf dem Schiff gelassen. Sie konnte doch unmöglich einfach so bewaffnet von dem Schiff laufen. Ich stellte mir die Frage, wie sie es überhaupt geschafft hatte eine Waffe mit zu nehmen, wo die Sicherheit der Menschen an Bord der MYSTERY doch eine so große Rolle spielte.
Tausende Fragen, die mir im Kopf herumschwirrten und die immer noch ungelöst waren. Die dröhnenden Kopfschmerzen, die sich nun vollends ausbreiteten, konnte ich allerdings gut verstecken.
„Wir haben es gleich geschafft.", keuchte Tristan und unsere Schritte beschleunigten sich.
Als wir um die Ecke bogen, wussten wir, dass wir zu spät waren. Da wusste ich, dass Mr. Henry es nicht geschafft hatte der Security Bescheid zu geben.
Mia setzte gerade einen Fuß auf die Pier. Sie war die letzte. Frau Hoffenmeier und das Ehepaar waren schon längst von Bord gegangen.
Ich sah nur noch schemenhaft wie einer der Security-Männer in sein Walkie-Talkie redete und sich hektisch umsah. Sein Blick blieb an Mia und ihren Gefährten hängen. Seine Augen weiteten sich.
„Halt!", rief ich aus vollem Hals und Mia drehte sich schwungvoll zu uns um. Ihre Haare wippten melodisch und ihre Augen weiteten sich nun doch panisch. Sie hatte nicht so schnell mit unserer Befreiung gerechnet.
Frau Hoffenmeier und das alte Ehepaar waren ebenfalls stehen geblieben und sahen sich gleichermaßen verwirrt wie entsetzt an. Es war mehr als deutlich, dass hier so einiges nicht nach ihrem Plan verlief.
Tristan, Alexander, Emily und ich rannten, ohne auf die anderen Security-Männer und ihre Rufe oder auf die geschockten Blicke der Familie Gremperich, die gerade nach draußen wollte, zu achten, auf die schmale Uferbefestigung. Nur wenige Meter von Frau Hoffenmeier und ihren Komplizen entfernt kamen wir zum Stehen. Ich sah den Beutel in Mias Jackentasche. Sie hielt ihn fest umklammert.
„Das dürft ihr einfach nicht machen!", sagte ich stockend. Ich hoffte, dass nur einer von ihnen vielleicht bereit wäre mit uns zu reden. Andererseits war unser Versuch sie aufzuhalten ein Himmelfahrtskommando. Frau Hoffenmeier erschien mir zu skrupellos und Mia hatte immer noch ein Ass im Ärmel. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Meine Atmung ging stoßweise und ich spürte regelrecht, wie mein Herz in meinem Brustkorb hämmerte. Ich sah Mia aus großen Augen flehend an.
„Bitte.", flüsterte ich leise und sie schnaubte verächtlich.
„Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Das ist meine einzige Chance. Die einzige Chance ein Leben zu führen, wie wir es uns immer gewünscht haben.", sagte sie. Ihr Blick glitt zu ihren Großeltern. Sie hielten sich an ihren Händen und ihre Blicke glitten von ihrer Enkelin zu mir und wieder zurück. In Mias Gesicht lag Trauer. Sie würde alles dafür tun, dass ihr Traum von einem unbeschwerten Leben in Erfüllung ging.
„Aber so muss es doch nicht enden.", machte ich einen zweiten Versuch.
„Denk doch mal nach." Tristan war neben mich getreten.
„Ist es das alles hier überhaupt wert?", fragte er und Mia biss sich merklich auf die Lippe. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Ihr habt ja keine Ahnung.", murmelte sie. „Ich habe keine andere Wahl als das hier."
Emily hielt sich im Hintergrund. Ebenso wie Alexander. Sein Blick lag allerdings voller Hass auf Frau Hoffenmeier. Die Frau spannte sich an und verschränkte die Arme.
„Was geht hier vor sich?" Die Frage schien mir in dem ganzen hin und her irgendwie überflüssig. Mia kaute merklich auf der Innenseite ihrer Wange. Sie raunte der Frau etwas zu und Frau Hoffenmeier stöhnte. Ihr Blick glitt zu Alexander.
„Ich wusste von Anfang an, dass es ein Fehler sein würde, dir zu vertrauen.", sagte sie und Alex zuckte mit den Schultern.
„Geben Sie einfach auf. Es lohnt sich ohnehin nicht mehr.", sagte er und machte einen Schritt auf sie zu, aber wie aus dem Nichts zog sie eine Pistole aus ihrem Mantel. War es Mias Waffe oder hatte sie auch eine? Die Luft stand still, als sie ihre Waffe auf uns richtete und einem nach dem anderen in ihr Visier nahm. Hinter uns schnappten die Security-Leute nach Luft. Sie hatten ebenfalls Waffen, die sie nun jedoch mit erhobenen Händen auf den Boden legten. Einen Augenblick lang war nur das entfernte Knacken ihrer Walkie-Talkies zu hören, unterstrichen durch das Rauschen des Meeres und den an der Pier anschlagenden Wellen.
„Ich würde vorsichtig sein. Es kann ganz schnell vorbei sein.", drohte die Hausdame. Ich konnte es einfach nicht fassen. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag wurden wir nun bedroht. Und ebenfalls zum zweiten Mal mit einer Waffe.
„Was versprechen Sie sich überhaupt daraus? Wie lange arbeiten Sie schon auf diesem Schiff? Zwanzig Jahre? Warum jetzt auf einmal dieser Sinneswandel? Warum?"
Tristans Augen lagen ruhig auf Frau Hoffenmeier. Ich sah ihm an, dass diese Fragen schon lange auf seiner Zunge brannten. Er stellte sich die Frage, warum sie ihn so hintergehen würde. Er musste sie immerhin schon seit klein auf kennen. Das Schiff ohne die Frau schien für ihn irgendwie nicht zu funktionieren.
Frau Hoffenmeier lachte.
„Du hast recht. Ich arbeite jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren auf diesem Schiff. Und was hat es mir gebracht? Eine Kündigung vor einem Monat und ein Schreiben deines lieben Onkels, der mir für meine Dienste dankt. Meine Wohnung wurde mir gekündigt, weil ich die Miete nicht zahlen kann. Ich muss sieben Tage die Woche arbeiten und habe trotzdem nicht genug zum Leben. Und jetzt fragst du mich, warum ich das alles mache?" Sie lachte freudlos.
„Genau aus diesem Grund mache ich es. Weil so ein Leben nicht lebenswert ist. Ich sollte bereits in Rente sein, aber selbst das kann ich mir nicht leisten. Meine Rente wäre niedriger als der Hungerlohn, den ich hier bekomme. Wisst ihr, wie es ist kein Geld zu haben und sich auch nur einmal etwas gönnen zu wollen, es aber nicht zu können?"
Ihre Augen lagen berechnend auf Tristan. Sie nickte wissend, als dieser den Kopf senkte. So langsam redete sie sich in Rage.
„Du bist im Luxus aufgewachsen. Du kennst es nicht anders. Und du musst dafür nicht einmal etwas tun. Deine Zukunft ist abgesichert. Jetzt schon und sie war es schon als du noch nicht einmal geboren wurdest. Meine war es nicht und ist es immer noch nicht." Hilflos streckte sie ihre Arme aus.
„Sieht das wie ein Leben aus, für das es sich zu leben lohnt?", fragte sie sarkastisch. Ich konnte sie nur stumm anstarren und so erging es wohl auch dem Rest der Menschen, die ihrer Geschichte lauschten. Die Waffe in ihren Händen schien ihre Ausweglosigkeit nur noch zu unterstreichen.
Mia und ihre Großeltern standen nebeneinander und hielten sich beschwichtigend an den Händen. Ihre Augen lagen allesamt angsterfüllt auf der Hausdame. Sie schwenkte die Waffe in ihren beinahe achtlos in ihren Händen, als wäre es nur ein harmloses Kinderspielzeug und kein Objekt, die einen Menschen umbringen konnten.
Mia machte einen eingeschüchterten Versuch das Wort zu ergreifen. Im Hintergrund plärrten Sirenen der Polizei und ich hoffte, dass sie ihren Weg zu uns finden würden. Mia musste spüren, dass es nun langsam dem Ende zuging.
„Lasst uns doch einfach gehen. Wir gehen und alles wird wieder so sein wie früher.", sagte sie. Tristan schüttete den Kopf.
„Es wird nicht mehr so sein wie früher. Ihr werdet verstehen, dass wir euch nicht so einfach gehen lassen können. Nicht nach allem, was ihr getan habt, auch wenn ihr eure Gründe dafür habt.", sagte er und Mia ließ ihre Schultern sinken.
Die aufheulenden Sirenen kamen nun immer näher und ich atmete gleichzeitig erleichtert auf. Mr. Henry hatte es geschafft. Die Polizei war auf ihrem Weg und alles würde gut werden.
Frau Hoffenmeier fluchte leise.
Die Pistole hielt sie immer noch fest in ihren Händen.
„Ich kann es nicht einfach so enden lassen."
„Denken Sie nach." Tristan Stimme drang wie aus dem Off zu mir durch. Er versuchte inständig, die Frau aufzuhalten, damit wenigstens das Schlimmste verhindert werden konnte, aber es hatte keinen Zweck. Frau Hoffenmeier ließ sich nicht mehr zur Ruhe bringen. Mein Blick lag auf Mia.
„Mia?", fragte ich zögernd und sie senkte den Blick.
„Es gibt keine andere Lösung, Solea.", sagte sie, aber ich konnte ihren Worten nicht glauben. Irgendwo tief in ihr musste dieses fröhliche Mädchen versteckt sein. Das Mädchen, das ich kennengelernt hatte. Diese ganze gute Laune konnte sie nicht nur gespielt haben. Es musste ein Teil von ihr sein. Der vernünftigere Teil. Der Teil, der in diesem Moment an die Oberfläche kroch und das Gute in ihr zum Vorschein brachte.
„Es geht nicht.", sagte sie erneut mit zitternder Stimme und warf einen flüchtigen Seitenblick auf ihre Großeltern. Ich seufzte. Um uns herum hatten sich nun auch ein paar der Passagiere gesammelt, darunter auch die Familie Gremperich. Die Eltern versuchten ihre Blicke abzuschirmen, aber die Jungs lugten neugierig zwischen ihren Beinen hervor. Track beachtete das Geschehen um ihn herum nicht. Er spielte mit einem roten Ball. Mein Blick wanderte wieder verzweifelt zu der Hausdame, über Mia und ihre Großeltern, die sich herzzerreißend aneinander festhielten.
„Es hat keinen Sinn mehr. Seht ihr nicht, dass ihr schon längst aufgeflogen seid? Die Polizei ist gleich da." Ich zeigte auf die Menge hinter mir.
„Ihr könnt damit aufhören. Hier und jetzt."
Mia biss sich nur auf die Lippe, sagte aber nichts. Sie wirkte hin und her gerissen. Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Rotes über den Boden springen.
Dann passierte alles sehr schnell.
„Nathaniel!", schrie Frau Gremperich auf und in der nächsten Sekunde sackte mir mein Herz in die Hose.
Frau Hoffenmeier hatte den Jüngsten der drei Kinder am Arm genommen und hielt ihn fest. Ihr Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Der rote Ball, dem der Junge hinterhergelaufen war, rollte über den Boden und blieb ruhig liegen.
Frau Gremperich traten Tränen in die Augen, die Zwillinge fingen an zu schreien und Herr Gremperich wäre kurz davor gewesen, wutentbrannt auf die Frau loszugehen, wäre da nicht die Waffe in ihren Händen. Ich konnte meine Panik nicht mehr verbergen.
Ich hob langsam meine Arme in die Höhe, als würde ich mich ergeben. Mit zitternden Beinen trat ich näher. Der Lauf des tödlichen Ventils hatte mich sofort im Visier.
„Frau Hoffenmeier, ich bitte Sie. Lassen Sie ihn gehen!", sagte ich dennoch mit der kräftigsten Stimme, die ich in diesem Moment aufbringen konnte, aber die Frau war unerbittlich. Sie packte den Jungen nur noch fester am Arm. Er schrie schmerzvoll auf und Frau Gremperich fing leise an zu weinen.
„Es hätte nie so enden müssen. Ich hoffe daran wirst du denken, wenn es vorbei ist.", sagte sie und mir stockte der Atem.
„Nur wegen dir ist alles außer Kontrolle geraten.", sprach sie weiter und ich schüttelte hektisch mit dem Kopf. Ich versuchte mich nicht zu verteidigen, weil ich befürchtete sie dadurch nur noch mehr aufzustacheln.
„Ich will keinen Ärger machen. Nur lassen Sie ihn frei."
Mein Blick fiel auf Track. Seine blonden Löckchen umrahmten sein Gesicht, doch das sonst so unbeschwerte Lachen war verschwunden. Er sah verängstigt von mir zu der Frau, die ihn festhielt und dann auf die Waffe in ihren Händen.
„Du hast schon genug Ärger gemacht. Und jetzt bekommst du die Quittung für deine Neugier."
Ihre Augen waren so weit aufgerissen, wie die eines wild gewordenen Tieres. Sie war besessen von ihrer Idee, die dem Scheitern verurteilt war.
Sie schleifte Nathaniel ein Stück mit sich. Er schrie wie am Spieß, als Frau Hoffenmeier ihn so von seiner Familie entfernte und er wehrte sich ganz schön. Die Frau hatte Mühe das Kind unter Dach und Fach zu bringen und gleichzeitig die Waffe in ihren Händen zu halten.
„Nathaniel" Ein erstickter Schrei verließ Frau Gremperich. Ich sah ihr an, dass sie am liebsten auf die Frau, die ihr ihr Kind wegnahm, losgegangen wäre, aber ihr Mann hielt sie zurück. Außerdem klammerten sich zwei weitere verängstigte Kinder an ihren Mantel.
„Genau aus diesem Grund hasse ich Kinder.", sagte Frau Hoffenmeier und ich gefror bei ihrer Stimme. Sie klang unermüdlich. Das alte Ehepaar und Mia konnten ihr nur mit offenen Mündern zusehen.
„Lassen Sie doch das Kind frei, um Gottes Willen." Es war das erste Mal, dass Herr Stahl seine Stimme erhob. Dafür, dass er so gebrechlich aussah, hatte er jedenfalls eine ziemlich feste Stimme. Sie schien selbst die verrückte Frau dazu zu bringen einen Moment innezuhalten. Frau Hoffenmeier war allerdings nicht so kooperativ wie ihre Mitstreiter.
„Dieses Kind ist unsere einzige Chance das zu bekommen, was wir uns erträumt haben.", sagte sie laut, doch ihre Mitkomplizen traten noch einen Schritt weiter von ihr weg.
„Nicht so. Das war nicht ausgemacht." Mias Stimme wackelte.
„Wir wollten nie, dass ein Kind mit in die Sache hereingezogen wird.", sagte Frau Stahl und meine Atmung stoppte. Mein Blick glitt zwischen der Hausdame und dem Rest hin und her. Jeder versuchte sie zu beruhigen und endlich von dem Kind abzulassen. In Frau Hoffenmeiers Gesicht trat nun etwas anderes als Entschlossenheit. Es war Angst. Weil sich nun alles veränderte. Weil sich nun alle gegen sie stellten. Sie sah aus wie ein in die enge getriebener Hund. Ihr Erfolgschance ging gegen null und das schien sie nun endlich zu begreifen. Sie schnappte nach Luft.
„Wenn ich schon nicht die Gemälde bekomme, dann wenigstens den Rest. Den Schmuck.", forderte sie Mia nickend auf. Sie trat einen Schritt nach hinten. Meine Kabinenkumpanin sah nicht sehr zufrieden damit aus, in welche Richtung dieser ganze Diebstahl lief. Es war nicht mehr nur ein einfacher Diebstahl oder schwerer Raub oder wie man es auch nennen mochte. Das war eine Kindesentführung. Wenn die Polizei bald kam - worauf ich natürlich hoffte - damit dem ganzen Horror ein Ende gesetzt werden konnte, dann würden sie alle festgenommen werden. Mia wusste das. Und sie gab sich geschlagen. Sie würden es nicht einmal vom Hafengelände schaffen, auch wenn sie es versuchen würden.
Frau Hoffenmeier schnalzte ungehalten mit der Zunge.
„Den Schmuck! Jetzt!" Ihre Stimme überschlug sich und Mia warf ihr erschrocken den Stoffbeutel vor die Füße. Triumphierend steckte sie ihn in ihre Manteltasche. Einen Sekundenbruchteil richtete sie die Waffe nicht auf uns, aber der Moment war zu kurz, um ihn richtig auszunutzen. Sie lächelte. Nathaniel zog und zerrte nun um einiges stärker, aber ihr Griff drehte sich zu wie ein Schraubstock.
„Wenn ich schon nicht die Gemälde haben kann, dann kann ich mir wenigstens mit dem Schmuck ein schönes Leben machen."
Sie war drauf und dran sich wieder umzudrehen und Nathaniel mit sich zu ziehen, aber der Junge stemmte seine kleinen Füße so fest gegen den Boden, dass Frau Hoffenmeier nur schwerlich vorankam.
„Bitte nicht!"
Meine Stimme hallte über den gesamten Hafen. Die Sirenen waren nun ganz nah. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Die Schultern der Hausdame sackten in sich zusammen.
„Ich will hier wirklich nicht der Spielverderber sein, aber du machst es mir wirklich nicht leicht. Ich habe immer noch eine Waffe. Und ich will sie nur ungern zu Rate ziehen. Aber ich tue es, wenn es sein muss.", sagte sie kalt und ich schluckte. Ich stotterte.
„Sie haben selbst gesagt, Sie wollen, dass ich für meine Neugierde bezahle, also..." Ich nahm tief Luft „-tun Sie es. Lassen Sie mich dafür bezahlen, aber nicht ihn."
„Solea, ich glaube nicht, dass-"
Ich schnitt Tristan das Wort ab.
„Vertrau mir einfach.", flüsterte ich zurück.
Meine Augen suchten die des kleinen Jungen. Er starrte mich aus großen Augen an. Mit einem Mal war er ruhig. Frau Hoffenmeier schien tatsächlich darüber nachzudenken. Ich musste sie einfach davon überzeugen.
„Nehmen Sie mich mit, anstatt ihn. Lassen Sie nicht ihn für meine Fehler geradestehen.", sagte ich selbstsicher.
Tristan spannte sich neben mir an. Ich nahm vorsichtig seine Hand in meine und drückte sie beschwichtigend. Alles wird gut werden, versuchte ich mir selbst immer wieder einzureden.
„Also schön. Komm nach vorne."
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, setzte ich einen Fuß vor den anderen.
Eine Hand hielt mich abrupt fest.
„Tu das nicht. Bitte.", sagte er flehentlich und ich schüttelte kaum merkbar mit dem Kopf. Er seufzte.
„Bitte. Ich weiß, was ich tue. Alles wird gut.", versicherte ich ihm und sein Griff wurde tatsächlich etwas lockerer. Er ließ mich aber nicht los. Er erhob seine Stimme.
„Nehmen Sie mich.", rief er und schob mich hinter sich. Frau Hoffenmeier lachte nur.
„Das war nicht der Deal. Entweder das Mädchen oder das Kind.", sagte sie und ein Raunen ging durch die Menge. Die Sirenen der Polizei waren verstummt, aber dafür sah ich es an einer Hauswand nun blau schimmern. Jetzt würde alles gut werden. Aber ich hatte nicht mit Frau Hoffenmeier gerechnet. Sie erhob erneut die Waffe.
„Jetzt oder nie.", sagte sie und sie hob herausfordernd ihre Augenbraue. Ich atmete tief ein. Ich hatte keine andere Wahl. Der Junge in ihrem festen Griff ließ mir keine andere Wahl.
„Los.", drängte sie mich nun. Sie musste selbst bemerkt haben, dass sie ein Druckmittel nun bitter nötig hatte. Wenn die Polizei hier war, würde der Tausch nicht mehr stattfinden können. Dann war die Chance vertan und sie würde das verängstigte Kind mit sich nehmen.
Langsam machte ich einen Schritt auf sie zu. Tristans Hand glitt kraftlos nach unten und ich entfernte mich zunehmend von seiner beruhigenden Wärme. Mit jedem Schritt wurde mir kälter, denn jeder Schritt brachte mich dem Lauf der Pistole näher.
Aber ich verspürte keine Angst. Ganz im Gegenteil. Ich verspürte eine eiserne Gewissheit. Eine Gewissheit, die mir sagte, dass ich das richtige tat. Das es sogar wichtig war, dass ich es tat. Ich ersparte dem Jungen, den ich so liebgewonnen hatte, ein Trauma und beschützte ihn vor der bösen Hexe.
Als ich bei ihr angelangt war machte sich Nathaniel endgültig frei und warf sich mir an den Hals. Ich ließ mich auf den Boden fallen. Ich strich über seinen Rücken und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Die Tränenspuren waren unverkennbar. Weitere Tränen bahnten sich ihren Weg nach draußen, tropften auf seine Jacke, perlten daran ab und landeten auf dem Boden. Seine Augen waren schon rot und ich musste mich beherrschen nicht mitzuweinen. Ich musste ihm Mut machen, deswegen lächelte ich vorsichtig.
Richtig genießen konnte ich die Umarmung jedoch nicht, weil der Lauf der Pistole immer noch auf mich oder genauer gesagt auf meinen Kopf zielte.
„Es wird alles gut werden.", versicherte ich Nathaniel und er schluchzte gegen meine Schulter. Ich drückte ihn von mir weg und er sah mich aus großen Augen treuherzig an.
„Los, lauf zu deinen Eltern.", flüsterte ich und er nickte zögernd.
„Etwas schneller, wenn ich bitten darf." Frau Hoffenmeier rollte mit den Augen und ich seufzte leise. Ich nickte Nathaniel aufmunternd zu. Schwungvoll drehte er sich um und rannte auf seine Familie zu. Frau Gremperich schloss ihn in ihre Arme und es endete in einer großen Familienumarmung. Der Anblick würde mich normalerweise zum Lächeln bringen, wäre da nicht noch etwas anderes, was ich in dem Moment nicht ignorieren konnte. Frau Hoffenmeier sah mich abwartend an und ich stand langsam auf. Im nächsten Moment drückte sie mir die Pistole schon in die Seite und ich keuchte auf.
„Wir werden jetzt schön langsam losgehen, hast du verstanden?" Ich nickte und kniff meine Lippen zusammen.
„Du wirst verstehen, dass du jetzt erst einmal mit mir mitkommen musst.", sagte sie.
„Du bist meine Fahrkarte hier raus und solange du nicht auf dumme Ideen kommst, wird dir auch nichts passieren. Haben wir uns verstanden?"
Ich nickte erneut und Frau Hoffenmeier drückte mir den Lauf der Pistole einmal fester in die Seite.
„Das will ich auch für dich hoffen.", sagte sie. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Was tat ich überhaupt? Ich hatte mich freiwillig gemeldet, um der Frau einen Weg nach draußen zu ermöglichen. Wie konnte man nur so dumm sein? Natürlich, da war noch die Sache mit Nathaniel. Damit endete die Liste, warum ich es tat allerdings auch schon.
Ich warf einen Blick über meine Schulter und begegnete Tristans Blick. Seine Augen waren weit aufgerissen und er verfolgte jede noch so kleine Bewegung. Wir bewegten uns jedoch immer weiter weg von ihm und von den anderen Menschen, die mir vielleicht ein wenig Schutz geboten hätten.
Doch so weit, wie Frau Hoffenmeier sich das erhofft hatte, kamen wir nicht. Die Sirenen heulten mit einem Mal auf und ließen mich schreckhaft zusammenfahren. Frau Hoffenmeier fluchte. Sie packte meinen Arm, sodass mir ein kleiner Schmerzensschrei entfuhr und sie herrschte mich zu Eile an. Sie zog mich immer weiter an der Pier entlang, aber es war zwecklos. Mit lautem Getöse und quietschenden Reifen kamen nicht weniger als fünf Polizeiwagen, davon zwei riesige Transporter nicht weit von uns zum Stehen.
Gleich darauf sprangen mehrere Polizisten mit erhobenen Waffen, die allesamt auf Frau Hoffenmeier zielten aus dem Wagen.
„Lassen Sie das Mädchen los und heben Sie die Hände in die Höhe. Sie sind umzingelt.", rief ein Polizist auf Englisch, immerhin befanden wir uns auf norwegischem Boden.
Obwohl sie so offensichtlich in der Falle stand, drückte sie mir die Pistole einmal mehr in den Rücken, gut sichtbar für die Beamten.
Einer trat mit erhobenen Armen nach vorne. Anders als die anderen Polizisten, ließ er seine Waffe sinken und warf sie auf den Boden.
„Wir können über alles reden. Dafür ist es aber wichtig, dass sie Waffe weglegen und das Mädchen loslassen.", versuchte er die Frau zu überreden, doch sie schnaubte nur.
„Ich habe eine andere Idee. Sie werden mir jetzt den Weg frei machen und dafür sorgen, dass ich hier sicher herauskomme. Dann wird dem Mädchen auch nichts passieren."
Sie drückte meinen Arm und ich verzog das Gesicht. Ich musste mich beherrschen, um nicht noch einmal aufzuschreien. Ich wollte mir nicht vorstellen, was die Polizei dann tun würde. Frau Hoffenmeier war in die Enge getrieben. Für sie gab es keinen friedlichen Ausweg mehr aus dieser Sache. Sie war von allen Seiten umgeben von Menschen, die sie aufhalten wollten. Und hinter uns befand sich nur noch das tiefblaue Wasser.
Der Polizist schüttelte langsam aber bestimmt den Kopf.
„Es tut mir leid, aber das kann ich nicht machen. Aber wenn Sie die Pistole weglegen, dann können wir reden. In aller Ruhe.", beschwichtigte er sie. Hoffnungslos.
„Ich würde trotzdem im Gefängnis landen, also wozu das Ganze?", fragte sie.
Der Polizist redete unaufhörlich auf Frau Hoffenmeier ein, die laut zurück schrie und alles um mich herum verschwamm plötzlich. Die drei Kinder, die wie eingefrorene Skulpturen alles beobachteten. Emily, die weinte. Tristan, der meinen Namen rief. Nur eins trat mir blitzartig vor Augen. Das Wasser. Es war keinen Meter von mir entfernt. Wir standen vielleicht drei Meter über dem Meeresspiegel. Wie ein Sprungbrett im Schwimmbad. Es war nicht tief. Das Wasser würde mich auffangen. Das Wasser glitzerte verschwörerisch und schien mich in seinen Bann zu ziehen.
Wasser hatte diese Wirkung auf mich. Es wäre ganz einfach. Das Wasser war nah, nicht einmal einen Schritt entfernt. Aber ich konnte nicht schwimmen.
Die Stimme des Polizisten wurde immer lauter und lauter und auch Frau Hoffenmeier konnte ich in der Ferne schreien hören. Sie ließ mich los, um ihre Waffe fester zu umpacken und sie zielte auf den Polizisten.
Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen. Es lag einfach auf der Hand. Ich sprang. Einen Moment fühlte es sich so an, als würde ich in der Luft stehen. Einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Ich hörte die Schreie nur noch gedämpft.
Dafür hörte ich den Schuss umso deutlicher. Ein Schuss, der mir durch Mark und Bein ging. Ich wusste nicht wem er gegolten hatte. Ich würde es auch nicht erfahren. Die Luft umfing mich wie eine weiche Decke und wurde dann durch die Wellen des Wassers ersetzt. Ein letztes Mal verließ der Sauerstoff meine Lungen und mein Herzschlag stockte. Das Wasser war eisig kalt und ich wusste nicht mehr wo oben und unten war. In den tiefen dunkeln Weiten des Meeres hatte ich meine Orientierung verloren. Das blaue Wasser umfing mich gänzlich. Das leise Meeresrauschen drang in meine Ohren. Es durchfuhr meinen Körper und ließ ihn entspannt zurück. Vor meinen Augen sah ich nichts als Wasser.
Es beruhigte mich und schläferte mich gleichermaßen ein. Es war faszinierend zuzusehen, wie das blau immer weiter auf mich zu kam, immer dunkler wurde. Wie es mich erneut umfing und wieder losließ. Wie es mich packte und schwungvoll wieder in die weite Ferne warf. Ich schwebte. In dem Moment war ich eins mit den Wellen und mit dem Wasser. Ich war eins mit dem Meeresrauschen.
Das Wasser wurde ein zweites Mal aufgewirbelt nicht fern von mir und ich sah fasziniert dabei zu wie sich das Wasser kurzeitig in weiße Nebelschwaden verwandelte. Das Wasser wirbelte und wogte. Und ich wurde immer schläfriger. Zuerst gaben meine Arme nach, dann meine Beine und letztendlich auch meine Augen. Ich tat nichts anderes als in der Dunkelheit auf den sanften Wellen zu treiben.
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