13 | Fragen und Antworten
Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so schnell gelaufen war, wie in diesem Moment. Als wäre der Teufel persönlich hinter mir her. Aber vielleicht stimmte das sogar, wenn man bedachte, was hier gerade alles vor sich ging.
Tristan war sichtlich nervös und auch meine Nerven waren bis zum Reißen gespannt, als wir der Waschküche immer näherkamen. Insgeheim wünschte ich mir, dass sie zu dem Zeitpunkt schon leer war. Ich hoffte, dass Frau Hoffenmeier und Jackson schon verschwunden sein würden. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn Tristan auf Jackson traf und die Chance bekam mit ihm zu reden. Wir müssten vorsichtig sein. Wenn nun Frau Hoffenmeier auch noch dort war, würden wir riesige Schwierigkeiten bekommen. Gegen beide konnten wir uns schlecht verteidigen.
Mein Blick glitt unsicher zu Tristan. Er schien entschlossen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich fühlte mich so, als würde ich auf einem kleinen Boot stehen, das die ganze Zeit hin und her schwankte und versuchte mich zum Umkippen zu bringen. Die MYSTERY trug zu diesem Gefühl nur wenig bei. Das Schiff glitt sanft durch die Wellen und bewegte sich keinen Millimeter zur Seite. Man könnte fast meinen, dass wir uns auf festem Boden befanden, wenn nicht das blaue Wasser an uns vorbeirauschen würde.
Wir hatten nur noch knappe zwei Stunden. Wir kamen schließlich vollkommen außer Atem vor der schweren Stahltür zum Stehen. Die Tür war geschlossen und ich schluckte schwer. Ich hoffte inständig, dass der Raum leer war, damit wir wieder an unserem alten Plan festhalten konnten.
Tristan sah auf einmal auch nicht mehr so sicher aus. Aber nun konnte er sich schlecht herausreden. Jetzt musste er das Ganze auch ausbaden.
Er griff nach der Türklinke und ich hielt die Luft an. Ich sandte tausend Stoßgebete in Richtung Himmel und irgendjemand schien meine Gebete erhört zu haben. Die Waschküche war leer. Einzig und allein der Lärm der Waschmaschinen empfing uns. Ich sah mich stirnrunzelnd um.
„Und jetzt?"
„Wir könnten uns ein wenig umsehen. Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas hier sein muss.", sagte Tristan nachdenklich und ich nickte bedacht. Manchmal sollte man auf sein Bauchgefühl hören.
Langsam und vorsichtig gingen wir in das Rauminnere und ließen unsere Blicke über die Berge an Wäsche gleiten. Ich konnte nichts Verdächtiges ausfindig machen und ich konnte auch keinen Grund dafür finden, was Frau Hoffenmeier und Jackson hierhin verschlagen hatte.
Wir gingen durch die Gänge, den Haufen an Wäsche und spähten zwischen den großen Waschmaschinen hindurch. Er reckte zwei Daumen in die Höhe als Zeichen dafür, dass die Luft rein war.
Ich nickte und sah mich etwas weiter um. Alles sah so aus wie es schon immer ausgesehen hatte.
„Nach was halten wir eigentlich Ausschau?", fragte ich über den Lärm hinweg und Tristan zuckte mit den Schultern.
„Irgendwas muss doch hier sein.", rief er und ich seufzte. In der Zeit, die wir hier unten in der Waschküche vertrödelten, hätten wir schon längst bei Mr. Henry sein können und sowohl Frau Hoffenmeier als auch Jackson könnten überführt sein. Was hielt uns also zurück?
Mr. Henry hätte die Polizei oder die Security-Männer rufen können. Und die hätten die beiden ausfindig gemacht. Wir wussten, wie das ablief. Seitdem die Kabinen von der Security durchsucht worden waren, war der Respekt für die Sicherheitsmänner rapide gestiegen. Bei allen Passagieren.
„Ich glaube nicht, dass-" Dass wir hier irgendetwas finden werden. Das wollte ich eigentlich sagen, aber ein Gegenstand in meinem Augenwinkel ließ mich mitten im Satz innehalten. Dort blitzte etwas auf, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kleiner Gegenstand der in dem schummrigen Licht mysteriös funkelte. Es war ein kleines silbernes Armband, welches aus einem Beutel hing. Verborgen war der Beutel halb unter einem Berg an weißer Wäsche. Ich ging ein Stück näher und zog den vermeintlichen Sack unter der Wäsche mit spitzen Fingern hervor. Er war nicht groß, er passte genau in meine Hand, aber er war schwer. Ich zog den Beutel auf.
Ich hielt unwillkürlich die Luft an, als Unmengen an Schmuck darin zum Vorschein kamen. Ich sank keuchend auf den Boden.
„Tristan!" Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und trug doch durch den ganzen Raum. Keine Sekunde später kniete Tristan schon hinter mir und lugte über meine Schulter in den Stoffbeutel hinein. Seine Kinnlade klappte nach unten.
„Das glaube ich einfach nicht.", sagte er fassungslos.
„Glaub es ruhig.", sagte ich. Ich nahm ein Schmuckstück in die Hand. Ich konnte meine Augen nicht mehr von dem Silber und Gold und funkelnden Steinen in meinen Händen nehmen.
„Wir müssen zu Mr. Henry.", sagte ich und Tristan nickte hektisch.
„Das glaube ich auch."
Die schwere Metalltür zur Waschküche knallte hörbar zu und Tristan und ich schreckten zusammen.
Mia kam auf einmal in die Waschküche gestürmt. Tristan und ich hockten aufgelöst nebeneinander und konnten lediglich erschrocken zu ihr aufstarren. Dann entdeckte Mia den Beutel und den Schmuck in meinen Händen.
„Oh mein Gott." Das Mädchen sah uns entgeistert an. Ich schüttelte den Kopf und schaffte es mit zitternden Beinen aufzustehen.
„Wir haben jetzt keine Zeit, Mia. Wir müssen unbedingt zu Mr. Henry und ihm sagen was hier vor sich geht. Sie sind bestimmt schon auf dem Weg zum Ausgang. Wir müssen Frau Hoffenmeier und Jackson aufhalten."
Mias Augen huschten ungläubig von mir zu Tristan und wieder zurück.
„Zum Ausgang sagt ihr?"
„Sie müssen erst noch die Gemälde und den Schmuck einsammeln, bevor sie verschwinden können. Wir müssen uns also beeilen." Ich hielt den Beutel demonstrativ in die Höhe. Mias Blick blieb erneut daran hängen.
„Wir müssen uns beeilen.", sagte sie mehr zu sich selbst als zu uns.
Ich nickte. Ich wollte mich gerade an ihr vorbeidrängen, als Tristan mich am Arm festhielt. Er griff nach meiner Hand und drückte sie fest. Ich schaute ihn verwirrt an, doch sein Blick lag forschend auf Mia.
„Tristan, komm schon, wir müssen zu Mr. Henry!"
Er ignorierte meine Worte.
„Du siehst nicht so aus, als würde dich das Ganze wundern.", sagte er langsam.
„Das ist alles ziemlich überraschend.", sagte Mia monoton. Meine Augen verengten sich. Für jemanden, der überrascht war, hatte sie sich ziemlich gut im Griff.
„Mia?"
Tristan neben mir spannte sich an.
„Was machst du hier unten?"
Seine Frage ließ mich ebenfalls stocken. Das war eine berechtigte Frage. Ich betrachtete sie misstrauisch.
Einen Moment lang biss sie sich auf die Lippe. Ihre Augen durchsuchten den Raum. Dann seufzte sie tief. Im nächsten Moment holte sie eine Pistole aus ihrer Jackentasche und zielte mit eiserner Genauigkeit. Sie zielte auf uns. Wir erstarrten mitten in der Bewegung.
„Es tut mir wahnsinnig leid, dass ihr hinter das Geheimnis gekommen seid. Warum müsst ihr alles so kompliziert machen?", fragte sie theatralisch.
„Du wusstest davon?"
Mia rollte mit den Augen.
„Ist das nicht offensichtlich? Und ich dachte du wärst schneller von Begriff."
„Aber warum?" Tristan klang ehrlich bedrückt.
Mia lachte kurz auf.
„Weißt du eigentlich wie viel ich für die 12 Stunden Arbeit ohne Pause bekomme? Noch nicht einmal den Mindestlohn, dafür, dass ich mich den ganzen Tag abrackre.", sagte sie verbissen.
„Ich werde nicht so enden wie meine Großeltern."
„Deine Großeltern?", fragte ich zögernd. Der Lauf der Pistole war noch immer auf uns gerichtet und ich schluckte.
Mia lächelte.
„Ja, meine Großeltern. Ihr kennt sie. Das nette alte Ehepaar von nebenan. Sie haben auch gesehen, was ich von Anfang an gesagt habe. Nämlich, dass ihr beide noch Probleme machen werdet."
Herr und Frau Stahl hingen in dieser ganzen Geschichte mit drin?
Wir hatten sie vor kurzem sogar noch gesehen. Mir wurde auf einmal übel, als ich darüber nachdachte und Mia grinste.
„Dachte ich's mir doch."
Sie waren so freundlich gewesen. Jetzt machte es plötzlich Sinn, dass sie sich in den Mannschaftsunterkünften verlaufen hatten. In Wirklichkeit hatten sie sich gar nicht verlaufen. In Wirklichkeit wollten sie sich nur mit ihrer Enkelin treffen. Mia. Alles, was mir in dieser Woche widerfahren war, passierte ganz und gar nicht zufällig.
Mia lachte wegen meines Gesichtsausdrucks und ich sah sie befremdet an.
„Was? Dachtest du etwa ich arbeite gern hier?", Sie schnaubte verächtlich.
Es war beinahe erschreckend, wie unfassbar fremd mir Mia in diesem Moment war. Die Waffe in ihren Händen machte es nur noch schlimmer. Da war keine übertriebene Fröhlichkeit in ihren Augen und ihrer Ausstrahlung und sie sprach auch nicht ohne Punkt und Komma. Unter normalen Umständen und wenn sie nicht so hinterhältig wäre, hätten wir wahrscheinlich gute Freundinnen werden können. Da ich selbst weit davon entfernt war kriminell zu werden, fiel diese Option weg.
Diese Erkenntnis ließ mich erschaudern. Wie konnte jemand wie Mia auf diese schiefe Bahn geraten?
„Warum das alles?", fragte Tristan und Mia hob eine Augenbraue in die Höhe.
„Was meinst du?", stellte sie zuckersüß eine Gegenfrage und grinste ihn an.
Tristan machte eine ausschweifende Handbewegung.
„Na, das alles. Warum machst du dir die Mühe? Du hättest einfach kündigen können.", sagte er. Mia lachte geringschätzend.
„Du meinst, ich hätte hier kündigen sollen, um mich dann weiter abzuarbeiten? Sunnyboy, du weißt nicht, wie das ist, normal zu sein. Du bist mit dem goldenen Löffel im Mund geboren und hast keine Ahnung wie das wahre Leben aussieht." Sie schüttelte den Kopf.
Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film, in dem das schüchtere Mädchen plötzlich zur Superschurkin mutierte. Wie konnte Mia uns nur so hinters Licht führen?
Tristan und ich wagten es nicht auch nur einen Schritt zu machen. Mia hielt die Pistole fest in ihren Händen. Es sah ganz so aus, als wäre sie geübt in so etwas und der Gedanke bereitete mir eisige Schauer.
„Was ist mit deinem Vater?", fragte ich leise und Mias Lachen hallte durch den gesamten Raum.
„Ach Schätzchen, du glaubst immer noch, dass alles, was ich dir erzählt habe wahr ist?" Sie lachte kopfschüttelnd. Dann wandte sie sich wieder mir zu und ihr Blick wurde fest.
„Du bist so gutgläubig. Das Hotel meines Vaters existiert genauso wenig wie mein Vater selbst.", sagte sie und ich schluckte schwer. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker.
„Mein Vater hat mir nichts hinterlassen. Nur einen riesigen Berg an Schulden. Das war alles. Seitdem muss ich jeden Monat dafür kämpfen, dass ich die Schulden abbezahle und etwas Warmes zu Essen auf dem Tisch habe.", sagte sie. Mein Magen drehte sich um.
„Nur meine Großeltern haben mir geholfen, dabei hängen die selbst an der Grenze der Bedeutungslosigkeit. Niemand von meinen Bekannten oder sogenannten Freunden wollte uns helfen." Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, als wäre es nur eine Kleinigkeit Menschen zu berauben und vielleicht nicht wenigen von ihnen ihrer Existenz streitig zu machen.
„Also mussten wir uns wohl oder übel selbst helfen."
Ihre Erklärungen hätten mich erschrecken müssen, doch ich bekam Mitleid mit ihr. Es war egal, dass sie eigentlich kriminell war und es war egal, dass sie in genau diesem Moment eine Waffe auf uns gerichtet hatte, jeden Moment bereit, abzudrücken und dem Spiel ein schauriges Ende zu verleihen. Ich empfand nichts als Mitleid mit ihr. Sie hatte für ihr Alter schon viel zu viel ertragen müssen. Mehr als jeder in ihrem Alter ertragen kann.
„Wenn das hier alles vorbei ist, dann ist das alles Geschichte. Dieses jämmerliche Leben ist Vergangenheit.", sagte sie und die Sehnsucht in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als träumte sie sich in dem Augenblick in ein anderes Land, weit weg von dem Inneren der Waschküche. Der Lärm der Waschmaschinen schien sie jedoch wieder in die Realität zurückzuholen.
Sie seufzte ergeben.
„Es ist echt schade, dass ihr das jetzt alles wisst. Das lässt mir keine andere Möglichkeit.", sagte sie und entsicherte die Pistole in ihren Händen mit einem leisen unscheinbaren Klicken, das im Lärm der Maschinen jedoch unterging. Sie sah uns mit kalten Augen an und mir traten Tränen in die Augen. Mia lachte freudlos auf.
„Hör auf mit der Heulerei, Solea. Ändern kannst du dadurch nichts. Ich habe dir oft genug versucht zu helfen, aber du musstest ja so neugierig sein. Ich habe mein Bestes gegeben, dich auf Trab zu halten, dir irgendeine Beschäftigung zu geben, dass du nicht auf die Idee kommst, nachzuforschen.", sagte sie. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Meine Hände schwitzten und mein Herz schlug immer wilder. Mia lachte immer noch, als wäre das Ganze ein einfaches Spiel.
„Meinst du die Gremperichs haben so oft darauf bestanden, dass du ihre Kinder hütest?"
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, das haben sie nur gemacht, weil ich es so wollte. Weil ich von Anfang an gesehen habe, wie du durch dieses Schiff gelaufen bist. Wie neugierig du warst, wie du die Gemälde angesehen hast. Alles. Ich wusste von Anfang an, dass du ein Problem werden könntest. Vom ersten Augenblick an, in dem ich dich gesehen habe. Und ich hatte Recht. Ich hatte so verdammt Recht."
Meine Augen wurden während ihrer Rede immer größer und größer. Ich schüttelte vehement den Kopf, aber Mia ignorierte mich. Tristans Griff um meine Hand wurde fester und seine warme Haut gegen meine, war das Einzige, was mich in diesem Moment ein wenig beruhigte. Ich war nicht allein.
„Frau Hoffenmeier hat dich nur zum Babysitten verdonnert, weil ich ihr gesagt habe, dass du ein Problem werden würdest. Nur wegen mir hat sie mit der Familie geredet und ihnen gesagt, dass du auf die Kinder aufpassen würdest, wenn sie es gerne wollten."
Sie lachte, aber in meinem Gehirn war alles nur noch Matsch. Ich konnte keinen richtigen Gedanken mehr fassen.
„Natürlich haben sie sofort zugestimmt. Hast du dir die Kinder angeschaut? Anstrengend so etwas 24 Stunden am Tag unter Kontrolle zu bringen. Sie haben diese Last liebend gern an jemand anderen abgeschoben. An dich."
Meine Lippen waren so rau, als wäre ich mit einem Reibeisen darübergefahren. Ich brachte keinen anständigen Satz hervor.
Wie oft hatte ich mich darüber aufgeregt, dass Frau Hoffenmeier mir diese Kinder aufbürdete, dabei war es von Beginn an nur Mias Idee gewesen.
„Aber du musstest alles kaputt machen.", zischte sie nun zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Du und der Sunnyboy. Ihr hättet euch so einfach aus der ganzen Sache heraushalten können."
Sie kam einen Schritt näher auf uns zu und umfasste den Griff der Pistole so fest, dass ihre Adern deutlich hervortraten. Ich wimmerte leise. Mia betrachtete die Waffe in ihren Händen. Ruhig, fast sogar liebevoll strich sie über den Lauf. In ihren Augen fand ich nicht einmal mehr den Glanz, der Augen so menschlich machte. Sie waren schwarze undurchdringliche und leblose Löcher.
„Es tut mir fast leid, dass ich das jetzt machen muss, aber ich will von diesem Schiff runter.", sagte sie nun schulterzuckend und richtete die Pistole in derselben Sekunde zielgenau auf mich. Ich kniff die Augen fest zusammen.
„Das war's dann wohl."
Meine Stimme war nur noch ein jämmerliches Krächzen, als meine Worte meinen Mund verließen.
„Bitte nicht.", flüsterte ich unter Tränen.
Alles woran ich denken konnte war Tristan, der meine Hand hielt und kurz beruhigend drückte. Ich erwartete bereits diesen lauten Schuss zu hören, diesen Knall, der alles um mich mit sich riss und mich von den Füßen reißen würde, doch es geschah nichts, außer das Tristan auf einmal meine Hand losließ. Erschrocken riss ich die Augen auf, nur um zu sehen, wie er mit erhobenen Händen auf Mia zuging. Ich hielt die Luft an und wäre beinahe hilflos hinterhergestolpert, aber meine Füße klebten am Boden, als wäre ich in Treibsand versunken. Was tat er denn da?
„Hör mal Mia. Wir können über alles reden.", sagte er besänftigend und stellte sich beschützend vor mich, aber Mia schnaubte nur.
„Bleib zurück oder ich jag dir eine Kugel durch den Fuß.", sagte sie kalt, doch Tristan machte keine Anstalten stehen zu bleiben. Stattdessen ging er immer noch mit langsamen Schritten auf Mia zu. Mia schnalzte mit der Zunge und kam nun einen Schritt auf uns zu. Vor Schreck wich ich nach hinten und versuchte Tristan an seiner Uniform mit mir zu ziehen, verpasste ihn jedoch um einige Zentimeter. Ich stieß gegen einen Tisch und das Holz drückte sich in meinen Rücken. Meine Zähne klapperten.
In diesem Moment erkannte ich ihr wahres Gesicht. Ihre wahre Gestalt und ihren Charakter, egal was für eine schwere Kindheit und Jugend sie auch gehabt haben mochte. Sie war einfach krank.
Mia hielt die Pistole an Tristans Schläfe und ich presste die Lippen aufeinander. Tristan zuckte bei der Berührung des kalten Metalls auf seiner Haut merklich zusammen.
„Ich schwöre dir, wenn du jetzt nicht zurückbleibst, dann jag ich dir die Kugel in den Fuß." Sie lachte verächtlich.
„Wenn du deine kleine Freundin dann immer noch beschützen willst, dann schieß ich die nächste in deinen Arm und die übernächste in dein Bein, bis du dich nicht mehr bewegen kannst."
Sie legte einen Zeigefinger an die Lippe und tat so als würde sie kurz überlegen.
„Aber vielleicht bist du zu dem Zeitpunkt ja bereits tot. So eine Wunde im Oberschenkel soll ziemlich stark bluten, habe ich gehört."
Die Pistole wanderte zu Tristans Oberschenkel. Salzige, dicke Tränen liefen mir ohne Unterlass über die Wangen.
„Vielleicht sollten wir das einmal ausprobieren, was denkst du?" Die Pistole bohrte sich immer weiter in sein Bein ein und ich sah, wie der Schweiß langsam von seiner Stirn tropfte.
„Nur ein kleiner Schuss... Nur wer macht dann nachher die ganze Schweinerei sauber?" Ihr Blick glitt über die Berge an sauber gefalteten Handtüchern.
„Ein Jammer, wenn man das alles wieder waschen müsste."
„Mia, ich-"
„Halt die Klappe.", zischte das Mädchen.
„Und jetzt geh zurück.", sagte sie nachdrücklich und Tristan ging, endlich nachgebend, langsam rückwärts, die Hände erhoben.
Mia nickte zur Tür der Abstellkammer.
„Aufmachen."
„Du kannst immer noch-"
„Aufmachen habe ich gesagt!"
Tristans Versuche halfen nichts und Mias schneidende Stimme ging mir durch Mark und Bein.
Immer noch, mit für sie sichtbaren Händen, ging Tristan auf die Tür der Abstellkammer zu. Sein Blick glitt zu mir und er sah mich hilflos an. Die Tränen krochen weiter über mein Gesicht.
Tristans Hand lag auf der Türklinke und er drückte sie wie in Zeitlupe nach unten. Die Tür öffnete sich knarzend und dieser schreckliche Laut verursachte gleich noch mehrere Schauer auf meinem Rücken.
„Der Schmuck, Solea." Ich zuckte zusammen. Mia grinste süffisant und ließ ihre Zähne im schwachen Licht aufblitzen.
„Hast du gedacht, ich würde den Schmuck vergessen?" Sie lachte noch einmal ausgiebig und ich schmiss ihr den Beutel vor die Füße. Es kam mir so vor, als würden wir unseren einzigen Trumpf aus der Hand geben.
„Na, geht doch.", grinste sie stolz.
„Und jetzt rein da.", sagte sie beißend.
Tristan hielt mir eine Hand entgegen und ich legte meine zitternde Hand in seine. Die Wärme, die mich dabei umfing, beruhigte mich etwas.
„Es wird alles gut.", sagte er überzeugt und Mia vor uns seufzte augenverdrehend.
„Ich habe euch nicht nach einer Schnulzenvorführung gefragt. Geht endlich da rein, damit ich meine Ruhe habe.", sagte sie laut und ich senkte den Kopf.
Tristan zog mich mit sich in die kleine Kammer und unser Blick glitt zu Mia. Die Pistole war immer noch auf uns gerichtet. Sie lächelte fies.
„Ich rette euch gerade euer Leben. Ein Dankeschön wäre angebracht."
Die Worte steckten in meinem Hals fest und Mia schnaubte enttäuscht.
„War nett euch kennengelernt zu haben. Aber ich muss los. Meine Großeltern warten auf mich.", sagte sie überschwänglich und gleich darauf schloss sich die schwere Metalltür hinter uns. Mia hantierte noch etwas an der Tür, dann war es wieder leise.
Mein Kopf landete auf Tristans Brust und er schlang seine Arme um mich. Er atmete schwer und ich fing laut an zu schluchzen.
„Alles wird gut.", redete er mir gut zu. Meine Tränen landeten auf seinem Hemd und hinterließen bestimmt scheußliche Flecken.
„Sie hätte dich umbringen können.", flüsterte ich und Tristan schüttelte den Kopf.
„Das hat sie aber nicht.", sagte er sanft und ich atmete rasselnd. Die Luft gelang nur allmählich in meine Lunge.
„Sie hätte es aber getan."
Tristans Hand auf meinem Rücken stockte.
„Ich weiß.", murmelte er kaum hörbar und ich drückte ihn einmal fester an mich. Ich war so froh, dass er noch lebte und vor mir stand. Unverletzt.
„Das hätte ich niemals von ihr gedacht.", sagte Tristan nun und ich nickte abwesend.
Ich hatte eine Kabine mit ihr geteilt. Die kleine süße Mia, die immer leise kicherte und die immer und überall so viel redete. Mia, die dauernd gut gelaunt war, auch wenn sie mir damit auf die Nerven ging. Jetzt wünschte ich mir diese Mia zurück.
Ein Glück hatte sich mein Pochen in der Brust schon wieder etwas beruhigt. Noch mehr Aufregung hätte mein Herz nicht ausgehalten. Für einen Tag hatte ich bereits genug Herz- und Panikattacken hinter mir und wäre ich allein gewesen, wäre diese Raum sicher mein klägliches Ende gewesen.
Tristan und ich standen so nah beieinander, dass uns die dritte Person in der Abstellkammer zunächst gar nicht auffiel.
Bis sie sich schließlich bemerkbar machte. Mir entfuhr ein spitzer Schrei, als ich die gedämpft vor sich hin murmelnde Stimme in der dunklen Ecke vernahm.
Tristan hantierte an der Wand auf der Suche nach einem Lichtschalter und an der Decke sprang tatsächlich eine kleine flackernde Glühbirne an und erhellte den Raum in einem sanften orange.
Bei dem Anblick, der sich uns nun bot, blieb mir der Mund einmal mehr offenstehen.
„Was macht ihr hier?", fragte Jackson keuchend.
Seine Stimme klang brüchig, aber fast auch ein wenig hysterisch. Er lag etwas benommen in einer Ecke der Abstellkammer und hielt sich den Kopf.
Tristan spannte sich an.
„Dasselbe können wir dich fragen, Idiot.", spuckte Tristan aus und ich fasste mir ans Herz.
„Selber Idiot."
Der Junge am Boden versuchte sich aus den Kartonansammlungen, zwischen denen er recht ungünstig lag, aufzurappeln, aber er sorgte nur dafür, dass weitere Kartons auf ihn fielen und ihn unter sich begruben. Ohne darüber nachzudenken, machte ich mich daran, die Kartons zur Seite zu schieben, um Jackson aus seiner Misere zu befreien.
„Wer hat denn in dieser ganzen Sache mitgespielt? Du oder ich?"
Ich seufzte tief. Hatten die beiden nichts Besseres zu tun, als sich in so einer Situation gegenseitig anzufauchen?
„Jungs!", unterbrach ich die beiden und ihre Köpfe wandten sich abrupt zu mir. Das schummrige Licht in der Abstellkammer ließ ihre Gesichter verschwommen erscheinen.
„Das bringt uns jetzt nicht weiter.", sagte ich. Ich versuchte in der Dunkelheit Tristan zu fixieren. Ich wusste noch genau, warum wir in erster Linie überhaupt zur Waschküche gelaufen waren. Mia war uns irgendwie dazwischengekommen.
„War da nicht etwas, was du machen wolltest?", erinnerte ich ihn an sein Vorhaben mit Jackson zu sprechen. Er seufzte. Offensichtlich war er nun doch nicht mehr so begeistert von seiner eigenen Idee. Sein Blick war fest auf Jackson gerichtet, der immer noch auf dem Boden lag und bei jeder seiner Bewegungen aufstöhnte.
„Warum?", fragte Tristan. Seine Stimme klang eiskalt, aber in seinen Augen blitzte auch Bedauern auf. Wohlmöglich darüber, wie er seinen ehemals besten Freund behandelt hatte und darüber wie ihre Freundschaft kaputt gegangen war. Jackson seufzte. Leugnen half ihm kein Stück weiter. Wir kannten die Wahrheit. Das wusste er ebenso gut wie wir.
„Ich weiß es nicht, okay? Es ist einfach so passiert.", sagte er und Tristan schnaubte.
„Ist das das Einzige, was du dazu sagen hast? Es ist einfach so passiert? Verarschen kann ich mich selbst." Tristan klang wütend und Jackson schnalzte mit der Zunge.
„Was soll ich dir bitte sagen? Das es mir leid tut? Ist es das, was du hören willst? Also bitte! Es tut mir leid!"
„Kannst du das auch so sagen, dass ich es dir glaube?", presste Tristan zwischen seinen Zähnen hervor und Jackson lachte bloß.
„Komm schon, Tristan. Dir muss es sicher gefallen, wie ich hier gerade sitze. Ich bin am Ende, das ist alles was du dir je wünschen könntest. Dein Traum ist in Erfüllung gegangen.", sagte er mit einer ausschweifenden Handbewegung und ließ gleich darauf den Kopf müde hängen.
„Ich habe mir alles vermasselt, was ich mir nur vermasseln konnte. Das macht dich sicher verdammt glücklich, nicht wahr?"
Ich kam nicht umhin festzustellen, dass in seiner Stimme so etwas wie Reue mitschwang.
Tristan blieb stumm und ich ergriff zögernd das Wort.
„Was ist überhaupt passiert? Warum bist du hier und nicht da draußen?" Jackson seufzte.
„Ich wurde hereingelegt. Frau Hoffenmeier hat mir irgendwas auf den Kopf geschlagen. Das nächste, was ich weiß ist, dass ich hier aufgewacht bin. Mitten in Pappkartons und in der Dunkelheit. Da wart ihr schon da." Er seufzte tief.
„Wie seid ihr hier reingekommen?"
Ich ließ mich erschöpft auf den Boden nieder und lehnte mich an die Tür. Tristan tat es mir gleich. Vorsichtig ließ er sich neben mich sinken.
„Mia.", sagte ich bloß und Jackson fluchte leise.
„Double-M hat auch damit zu tun?"
Ich nickte. Dass er denselben Spitznamen benutzte wie Tristan entging mir fast und meine Lippen verzogen sich zu einem sanften Schmunzeln. Bestimmt hatten sie sich diesen Namen zusammen ausgedacht.
„Dass das Ganze so eine große Sache war, wusste ich nicht.", sagte Jackson ehrlich. Tristan lachte kurz freudlos auf.
„Wusstest du, dass gerade die Hälfte des Schiffes ausgeräumt wird? Die Gemälde sind weg.", sagte er verbittert, aber Jackson schaute ihn verständnislos an.
„Gemälde?", fragte er verblüfft.
„Ein ganzer Container befindet sich unten im Frachtraum.", erklärte Tristan und Jackson zog scharf die Luft ein.
„Ich dachte es wäre nur der Schmuck.", gestand er.
„Was wusstest du überhaupt? Es ging nur um die Gemälde, von Anfang an."
Jackson vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Ich sollte mich nur umhören und dafür sorgen, dass alles glatt verläuft. Die Hoffenmeier hat mir gesagt ich würde etwas vom Schmuck bekommen. Deswegen sind wir überhaupt zur Waschküche gegangen. Hier hatte ich den Schmuck versteckt." Er seufzte und setze sich mit einem Ächzen auf. Seine Hand wanderte reflexartig zu seinem Kopf, als würde ihn ein fürchterlicher Schmerz durchlaufen.
„Es kam mir komisch vor, wie sie sich auf einmal benommen hat. Sie hat die ganze Zeit nach dem Schmuck gefragt und wo genau ich ihn versteckt hielt. Als ich ihr nicht geantwortet habe, hat sie mir eins übergebraten und mich hierhin geschleppt. Ich weiß nicht, ob sie den Schmuck gefunden hat."
„Hat sie nicht. Dafür hat ihn Mia.", sagte ich und Jackson seufzte.
„Das ist alles so verwirrend.", bemerkte er und ich nickte erschöpft.
„Warum hast du es getan?" Tristans Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern, als er die Frage erneut stellte und Jackson sackte in sich zusammen. Seine Stimme klang versöhnlicher.
„Ich wollte dir eins auswischen.", gestand er und ließ den Kopf hängen.
„Ich weiß, dass es falsch war. Ich... ich war nur so sauer auf dich." Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Hast du wirklich geglaubt, dass Pablo das Geld gestohlen hatte?", fragte Tristan ihn und Jackson nickte.
„Ich war mir so sicher. Und dann hast du dich auf seine Seite gestellt. Verdammt, ich war dein bester Freund!"
„Ich bin dein bester Freund!", berichtigte Tristan ihn aufgebracht. Ich blieb stumm. Das Gespräch zwischen den beiden war schon lange fällig. Ich tat besser daran, einfach nur zuzuhören und die Jungs reden zu lassen.
„Das fühlt sich aber nicht so an." Jackson klang bitter. Tristan seufzte.
„Ich war immer dein bester Freund. Wir sind wie Brüder. Das hat sich nicht geändert. Und..." Er atmete schwer aus. „Es tut mir auch leid.", sagte er dann und Jackson hob den Blick.
„Auch nach dieser Geschichte?"
„Auch nach dieser Geschichte."
Tristan lächelte leicht und ich meinte auch auf Jacksons Gesicht ein kleines Grinsen zu entdecken. Ich lächelte ebenfalls. Egal was passierte, Brüder würden auch nach einem Streit Brüder bleiben.
Warum mussten es immer diese Situationen sein, in denen man sah, was man falsch gemacht hatte? Warum konnte es nicht ausnahmsweise zum Beispiel ein Nachmittag am Strand sein, der einem die Augen öffnete? Der Strand wäre mir jedenfalls lieber gewesen als diese abgelegene Kammer. Um einiges lieber.
„Es tut mir auch für dich leid, Solea." Ich riss meine Augen perplex auf, als Jackson das Wort an mich richtete.
„Was?"
„Ich wollte nicht, dass du auch in die Sache hineingerätst. Wirklich nicht.", sagte er und ich glaubte ihm. Er klang mit einem Mal aufrichtig.
„Ist schon in Ordnung.", sagte ich. Jackson schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist nicht in Ordnung. Nicht nur, weil du jetzt Bescheid weißt. Sondern auch, wie ich dich die ganze Zeit über behandelt habe. Ich habe mich wie der letzte Arsch aufgeführt."
Ich nickte leicht. Er hatte sich wirklich nicht sehr gentlemanlike verhalten. Mein erster Eindruck war auch nicht gerade positiv ausgefallen.
„Als ich gesehen habe, wie gut du dich auch noch mit Tristan verstanden hast, habe ich rotgesehen. Ich glaube ich wurde auch ein wenig eifersüchtig, weil das so war. Immerhin war-" Sein Blick blieb an Tristan hängen und er lächelte. „-ist er mein bester Freund. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe."
„Mir tut es auch leid. Ich war auch nicht besonders nett zu dir.", sagte ich dann und lächelte schüchtern.
„Wie wäre es mit einem Neuanfang?" Jackson zog fragend eine Augenbraue in die Höhe und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie. Seine Hand war angenehm warm.
„Hey, ich bin Alexander. Du kannst mich aber Alex nennen.", sagte er und ich sah selbst in dem trüben Licht, dass er von einem Ohr zum anderen grinste. Ich erwiderte sein Lächeln.
„Solea. Freut mich dich kennenzulernen."
Die ganze Atmosphäre wurde auf einmal unbeschwert. Alles schien in seinen richtigen Platz zu fallen. Wenn man davon absah, dass sich die Wände nur zwei Meter von uns entfernt befand und die kleine Glühbirne, die nur spärlich Licht spendete, an der Decke langsam anfing zu dunkler zu werden.
Alex kratzte sich verlegen am Hinterkopf und Tristan räusperte sich auf einmal.
„Ich glaube wir haben genug Entschuldigungen für einen Tag gehört. Aber was machen wir als Nächstes? Wenn wir aus diesem Loch raus sind, meine ich." Sein Blick wanderte auf das flackernde Licht. Ich musste mir trotz allem das Lachen verkneifen. In dieser Situation war das wohl kaum angebracht.
„Ich gehe mal davon aus, dass die Tür abgeschlossen ist, nicht wahr?" Tristan nickte auf Alexanders Frage. Er rüttelte an der Türklinke, um es ihm zu verdeutlichen. Sie ließ sich noch nicht einmal richtig hinunterdrücken. Mia musste irgendetwas davorgestellt haben. Die Tür war verschlossen und schloss uns unweigerlich zwischen Kartons und den immer näher rückenden Wänden ein.
„So eine Scheiße.", fluchte Alex und ich lachte leise auf.
„Du sprichst mir aus der Seele."
„Gibt es hier keinen anderen Weg nach draußen?", machte ich einen zweiten Versuch, doch Tristan schüttelte den Kopf.
„Kein Weg nach draußen, bis auf diese Tür."
Ich starrte die Metalltür vor mir feindselig an.
„Lasst es mich einmal versuchen.", sagte Alexander und schaffte es mit Tristans und meiner Hilfe auf die Beine. Er rieb sich die Knochen. Bestimmt hatte er eine Weile einfach so auf dem kalten Boden gelegen und sein Kopf dürfte nach dem Schlag der Hausdame bestimmt auch noch etwas benommen sein.
Er winkte Tristan und mich aus dem Weg und stellte sich an die Tür. Er rüttelte ebenfalls an der Klinke und seufzte dann.
„Glaubst du mir jetzt, dass sie verschlossen ist?", fragte Tristan belustigt und Alexander schnalzte mit der Zunge.
„Es muss doch irgendeinen Weg geben...", murmelte er leise vor sich hin. Dann fiel sein Blick auf mich.
„Hast du eine Haarnadel?", fragte er mich unvermittelt und ich schaute ihn verblüfft an.
„Hm? Ja, warte." Ich griff mir in meine Haare und zog eine etwas verbogene Haarnadel hervor. Das schien Alexander allerdings weniger zu stören, als er sie in die Hand nahm. Ganz im Gegenteil. Er verbog sie nur noch mehr und steckte sie in demselben Moment in das Türschloss. Es klackte einige Male und Alexander versuchte ab und zu an der Tür zu rütteln, doch nichts geschah. Ich sah ihm mit angehaltenem Atem bei seinem Tun zu. Wenn dieser Kniff funktionieren würde, wäre das ein wahres Wunder.
„Bist du sicher, dass du das kannst?", fragte Tristan skeptisch und sein Freund lachte.
„Natürlich, ich habe nicht umsonst Ocean's Eleven gesehen.", sagte er und ich verdrehte die Augen. Ich war mir sicher, dass man in Ocean's Eleven keine Haarnadeln benötigte, um eine Tür aufzuschließen. Die hatten sicherlich elegantere Wege. Auch Tristan seufzte auf.
„Den Film haben wir zusammen gesehen. Du bist mittendrin eingeschlafen, erinnerst du dich?"
Offensichtlich war seine Idee doch nicht so gut durchdacht. Ich ließ meinen Kopf auf meine Hände fallen und schaute dem Schauspiel vom Boden aus zu. Alexander ließ seine Schultern nach einigen Minuten kraftlos nach unten fallen.
„Das hat keinen Sinn.", sagte er und gab mir dir Haarnadel zurück, aber was sollte ich damit? Ich steckte sie wortlos in meine Jackentasche.
„Wir haben es vermasselt.", sagte ich und die beiden Jungs blieben stumm. Wir hatten es wirklich versaut. Mittlerweile befand sich das Schiff bestimmt schon in der Nähe des Hafens. Bald würde es anlegen und Frau Hoffenmeier, Mia und ihre Großeltern würden auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Der Schmuck, die Gemälde, alles wäre verloren, während wir untätig in der Abstellkammer festsaßen und darauf hofften, dass uns irgendjemand von unserem Elend befreite.
Draußen in der Waschküche wurde es plötzlich wieder lauter und ich sprang auf und wollte schon gegen die Tür hauen, damit uns endlich jemand herausließ, aber Tristan hielt meinen Arm fest.
„Was ist, wenn Mia wieder da ist? Wir wollen sie nicht daran erinnern, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind.", sagte er im Flüsterton und ich ließ meinen Arm wieder sinken.
Ich seufzte. Irgendetwas mussten wir doch tun können! Alex hatte sich, soweit ich das in dem Licht ausmachen konnte, auf einen Putzeimer gesetzt. Ich legte mein Ohr an die Tür und versuchte zu verstehen, was da draußen vor sich ging. Außer ein wenig Gepolter war jedoch nichts zu hören. Frau Hoffenmeier war bestimmt schon verschwunden. Wir mussten auf jeden Fall so schnell wie möglich aus dieser Kammer gelangen. Sonst wäre alles was wir wussten verloren gewesen. Ob wir die Verbrecherbande noch finden würden? Sie würden zu dem Zeitpunkt bestimmt schon über alle Berge sein.
Ich seufzte lautstark und schlug mir im selben Moment die Hände vor dem Mund zusammen, als es plötzlich mucksmäuschenstill in der Waschküche wurde. Alle Maschinen hatten gestoppt.
„Das Schiff legt an, deswegen sind die Maschinen alle aus.", flüsterte Tristan die Erklärung.
Hatten wir wirklich keine Chance aus dieser Abstellkammer herauszukommen? Ich brütete so stark über dieser Frage, dass ich nur am Rande mitbekam, wie Tristan und Alexander sich plötzlich anspannten. Dann sah auch ich, was sie sahen.
Die Türklinke bewegte sich ruckelnd. Mia. Sie wusste, dass wir hier drinnen waren und sie war es bestimmt auch, die jetzt zurückkehrte und ihre Arbeit ein für alle Mal beenden wollte. Ich konnte es mir gar nicht anders vorstellen.
Ich stolperte einen Schritt nach hinten, wo Tristan mich auffing und an den Schultern festhielt.
„Ganz ruhig. Dir wird nichts passieren. Ich verspreche es.", flüsterte er mir in mein Ohr und stellte sich vor mich. Sein Rücken schirmte mir die Sicht ab und ich ließ meinen Kopf dagegen sinken. Undeutliche Worte drangen durch die Stahltür zu uns, aber sie waren zu sacht, als dass ich sie verstehen konnte.
Zu meinem Schrecken sah ich trotzdem, wie sich die Tür eine Sekunde später öffnete und das grelle Licht uns ein paar Mal blinzeln ließ.
„Scheiße.", flüsterte ich, doch im nächsten Augenblick fand ich mich mitten in einer Umarmung wieder. Und die Person, die mich umarmte, war niemand anderes als Emily.
Das zierliche Mädchen drückte mich fest. Erleichterung machte sich in mir breit.
„Solea, ich habe mir solche Sorgen gemacht.", sagte sie. Diesen Satz hatte ich heute schon öfter gehört. Ich drückte sie einmal beschwichtigend. Dann schob sie mich ein Stück von sich weg.
„Was ist passiert?"
„Was passiert ist? Wie hast du uns gefunden?", fragte ich mindestens genauso verblüfft wie sie.
„Ich war bei der Rezeption. Weder Mr. Henry noch ihr wart da, also dachte ich ihr seid vielleicht schon draußen oder auf dem Weg zum Ausgang. Ich wollte aber noch einmal sicher gehen. Ich hatte so ein komisches Gefühl." Sie umarmte mich noch ein zweites Mal.
„Als ich dann gesehen habe, dass ein Stuhl vor der Tür stand, wusste ich, dass ihr hier drinnen sein würdet.", sagte sie.
„Ein Glück, dass du gekommen bist.", sagte ich und ich meinte zu sehen, dass in ihren Augen kleine Tränen aufblitzten.
Hinter mir tauchten jetzt auch Tristan und Alexander auf. Emilys Augen lagen misstrauisch auf dem zweiten Jungen und er senkte beschämt den Kopf.
„Also, was ist passiert? Und wer ist er?", fragte Emily ein zweites Mal. Ich wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als Tristan mir zuvorkam.
„Wir haben keine Zeit für Erklärungen, wir müssen unbedingt zu Mr. Henry, sonst wird hier einiges komplett falsch laufen.", sagte Tristan. Ich nickte und Emily schien sich damit vorerst zufrieden zu geben.
„Kommt schnell." Mit schnellen Schritten liefen wir durch das Schiff, zum Treppenhaus und die zahlreichen Stufen hinauf.
Die leeren Stellen an den Wänden, wo vorher reihenweise Gemälde gehangen hatten, sprangen mir förmlich ins Auge. Das Schiff wirkte auf einmal so leer.
Emily gab uns mir ihren langen Beinen ein ziemlich schnelles Tempo vor. So gelangten wir in gefühlt wenigen Sekunden zur Rezeption. Fridolin der Papagei kreischte auf. Ich schnappte verzweifelt nach Luft und Tristan lief auf Mr. Henry zu, der wie gewohnt gemütlich an der Rezeption stand und sich mit einem Gast unterhielt.
Tristan nahm auf den anderen Passagier keine Rücksicht.
„Wo ist Frau Hoffenmeier?", fragte er ohne Umschweife und Mr. Henry sah ihn verwirrt an.
„Tristan. Warte einen Moment. Ich unterhalte mich gerade mit einem Gast.", wies er ihn zurecht und Tristan schüttelte den Kopf.
„Bitte, Mr. Henry. Wo ist sie?"
Er runzelte die Stirn und wollte sich entschuldigend wieder der älteren Frau vor ihm, zuwenden, doch ich kam ihm zuvor.
„Es ist überlebenswichtig Mr. Henry. Sie müssen uns sagen wo Frau Hoffenmeier, Mia und das Ehepaar Stahl sind.", sagte ich energisch und Mr. Henry schien mehr und mehr verwirrt von unserem Verhalten.
„Mr. Henry, bitte.", flehte nun auch Emily. Alexander hielt sich im Hintergrund.
Sprachlos starrte der alte Mann zwischen Tristan, mir, Emily und Alex hin und her.
Die Frau, die sich mit ihm unterhalten hatte, legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Die jungen Leute scheinen mir sehr aufgebracht zu sein. Ich glaube du hilfst ihnen besser, Charles.", sagte sie und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, war vor Freude in die Luft zu springen, was ich natürlich sein ließ, gefolgt von dem zweiten Gedanken. Charles? Es hörte sich komisch an, aber ich hatte nicht gedacht, dass Mr. Henry einen normalen Vornamen trug, geschweige denn, dass er überhaupt einen Vornamen hatte. Für mich war er immer Mr. Henry, der Rezeptionist ohne Vornamen gewesen.
Mein Blick schnellte zu dem Mann, der ergebend nickte. Ich hätte die Frau neben uns am liebsten geküsst, so dankbar war ich ihr in diesem Moment.
„Wie kann ich euch helfen?", fragte er seufzend und Tristan übernahm wieder das Wort.
„Wir müssen wissen, wo Frau Hoffenmeier, Mia und das Ehepaar Stahl sind. Haben sie das Schiff schon verlassen?"
Mr. Henry tippte sich durch den Computer und schüttelte dann den Kopf.
„Die haben das Schiff, soweit ich das sehe noch nicht verlassen, aber ich glaube ich habe Frau Hoffenmeier eben auf einer der Kameras gesehen.", sagte er und ich zog scharf die Luft ein.
„Was geht hier vor sich? Ist etwas nicht richtig?" erkundigte sich der Rezeptionist.
Tristan warf die Hände in die Luft.
„Rufen Sie unten an und sagen Sie Bescheid, dass sie das Schiff auf keinem Fall verlassen dürfen. Unter gar keinen Umständen! Rufen Sie die Polizei und sagen Sie, dass sie so schnell wie möglich kommen sollen. Und sie sind bewaffnet!", gab Tristan nun die Anweisungen und Mr. Henrys Augen wurden immer größer und größer.
„Was geht hier vor sich, Tristan?" Mr. Henry tat mir in diesem Moment ziemlich leid. Der sonst so unerschütterliche Mann sah mehr als fassungslos aus.
„Ich erkläre es ihnen alles später, versprochen, aber jetzt müssen Sie das tun, was ich Ihnen sage."
Tristan war bereits auf dem Weg zum Ausgang. Ich folgte ihm und warf noch einen schnellen Blick über meine Schulter.
„Vertrauen Sie uns.", rief ich noch, da hatte sich Mr. Henry bereits an sein Telefon gehängt und sprach schnell hinein.
Ich konnte mich jedoch nur wenig darüber freuen, dass er uns glaubte. Zu stark war die Sorge, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen würden.
In diesem Augenblick war es meine einzige Sorge die vier Personen aufzuhalten und das größte Unheil abzuwenden.
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