12 | Alarmglocken
Musste immer alles im Chaos enden? Seit ich auf dem Schiff war, hatte ich keine einzige freie Minute gehabt und die letzten Tage waren nicht besonders leicht für mich gewesen. Konnte es nicht stattdessen wieder bergauf gehen? Wieso wurde es immer komplizierter?
Es war der sechste Morgen an Bord und ich musste feststellen, dass die Zeit doch schneller verging, als ich dachte. Vor einer Woche war ich zum ersten Mal in meinem Leben in das Schiff getreten und hatte noch nicht einmal ansatzweise geahnt, was auf mich zukommen würde. Nun saß ich unruhig auf meinem Stuhl und überlegte, wer an Bord für die kriminellen Machenschaften verantwortlich war.
Ich hatte nicht nur verschlafen, sondern fand in der Küche auch keinen einzigen Sitzplatz und keinen einzigen meiner Freunde. Ich nahm mir letztendlich einfach ein Brötchen auf die Hand, um es auf dem Weg zu den Kabinen zu essen und winkte Mia, die bereits schwer zu schaffen hatten kurz zu. Sie sah mich nicht einmal, so gestresst war sie. Obwohl wir in ein und derselben Kabine lebten, sah ich sie nur selten. Wir schienen uns immer kurz zu verpassen. Wenn ich mich schlafen legte, war sie noch nicht da und wenn ich morgens aufstand, war sie meistens schon wieder verschwunden. Ich fragte mich so langsam, ob sie überhaupt in die Kabine kam, um zu schlafen oder ob sie überhaupt keine freie Minute hatte.
Als hätte der Tag nicht schon schlecht genug begonnen, begegnete mir auf dem Weg zu meiner Schicht auch noch Frau Hoffenmeier, die mich regelrecht zur Schnecke machte. Sie meinte ich würde den guten Boden mit meinem Brötchen voll krümeln. Erstens stimmte das nur minimal, weil ich höllisch aufpasste nichts zu verdrecken und zweitens war der gute Boden, von dem sie sprach, nur der billige Linoleumboden, über den ich später sowieso wischen musste. Sie hätte also getrost darüber hinwegsehen können. Aber Frau Hoffenmeier wäre nicht Frau Hoffenmeier, wenn sie nicht jede Chance nutzen würde mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich musste mein Brötchen in meine Tasche packen und aus dem nächsten Putzschrank, Besen und Kehrblech hervorholen. Der Hausdrache wich mir keine Sekunde von der Seite, sondern wartete bis ich auch wirklich den letzten Dreck entfernt hatte. Danach ging sie, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Francesco und Pablo hielten mich nach dieser Begegnung mit ihrer ausnahmsweise unerschütterlich guten Laune ein Stück weit über Wasser.
Sie klopften mir beruhigend auf die Schulter oder sagten, dass man meine Augenringe nicht so schlimm sah, wenn man nicht genau hinsah. Das beruhigte mich leider kein Stück. Es zeigte mir nur, dass die beiden Cousins miserable Lügner waren. Meine Augenringe waren nämlich schon aus weiter Entfernung zu sehen. Das konnten sie gar nicht abstreiten.
Beinahe wortlos brachten wir unsere Arbeit hinter uns und ich war froh, dass uns währenddessen keine einzige Menschenseele begegnete. Weder von der Crew noch von den Gästen. Zumindest den Gästen hätte ich dann nämlich vorspielen müssen, dass ich bei bester Laune war und darauf konnte ich an diesem Tag wirklich verzichten.
Der Tag wurde und wurde einfach nicht besser. Draußen hingen dunkle Wolken am Himmel, die meine Laune nur noch weiter in die Tiefe drückten. Bald würde es anfangen zu regnen. Ich konnte es spüren. Dicke dunkelblaue Regentropfen würden auf die Decks klatschen und das Meer würde so aufgewirbelt werden, dass kleine bedrohlich wirkende Strudel entstehen würden, in dessen Anblick man sich leicht verlieren konnte.
Später am Tag sollten wir am Hafen von Oslo anlegen. Mit einem großen Kreuzfahrtschiff hätten wir die gleiche Strecke in weniger als der Hälfte der Zeit hinter uns gebracht. Es war der erste Halt, seit wir die Reise begonnen hatten. Es war also etwas Besonderes.
Ebenso für die Verbrecher, die an Bord ihr Unwesen trieben. Das war ihre Chance ihr Diebesgut - was auch immer das sein sollte - nach draußen zu schaffen. Tristan und ich hatten uns den Kopf darüber zerbrochen, worum es neben dem Schmuck gehen konnte. Natürlich malte ich mir die abenteuerlichsten Geschichten aus, als wäre ein Verbrechen nicht schon schlimm genug. Jede meiner Ideen war unglaubwürdiger als die andere und wir mussten einsehen, dass wir immer noch im Dunkeln tappten. Das Licht am Ende des Tunnels war noch lange nicht in Sicht.
Ich hoffte nur, dass Tristan vielleicht in der Zwischenzeit weitergekommen war als ich. Ich kam mir jedenfalls ziemlich erfolglos vor. Nicht einmal der Flurfunk hatte etwas aufgeschnappt und auf den war normalerweise immer Verlass. Zumindest was die Gerüchteküche anging.
Vielleicht war ich deswegen bei der Arbeit nur wenig motiviert. Ich machte alles eher halbherzig und ohne meine Lippen auch nur einmal zu einem Lächeln zu verziehen. Vielleicht war das auch der Fehler. Wer konnte schon glücklich sein, wenn er in erster Linie gar nicht versuchte, glücklich zu sein und nur darauf hoffte, dass einem alles in den Schoß fiel? Natürlich fiel meine schlechte Laune auch Pablo und Francesco auf und sie warfen sich nur ab und zu bedeutungsschwere Blicke zu, die ich gekonnt ignorierte.
In den Mannschaftsunterkünften war es ruhig. Als hätten wir nicht genug zu tun, hatte die Hausdame uns auch noch aufgetragen die Gänge der Besatzung und ihre Kabinen zu überprüfen. In den Gängen der Crew sah es ihrer Meinung nach so abscheulich aus, dass man die ganze Geschichte des Schiffes damit in den Dreck ziehen konnte. Und natürlich gab es niemand anderen vom Housekeeping, der diese Aufgabe an unserer Stelle übernehmen konnte.
Frau Hoffenmeier schien wirklich etwas gegen uns zu haben. Nicht nur gegen die Cousins oder mich im Einzelnen, sondern gegen uns alle drei zusammen. Von uns konnte bei ihr anscheinend niemand so richtig landen, also mussten wir uns wohl oder übel ihrem Willen beugen. Die Arbeit verteilten wir wie schon auf den Kabinen der Gäste. Die Kabinen waren schnell erledigt, da die meisten Crewmitglieder eine genaue Ordnung einhielten. Sie wussten, wenn sie auch nur etwas Unordnung hatten und dann an einem Morgen etwas suchten, würde ihnen das nur Stress bereiten. Also machten sie von Anfang an einfach keine Unordnung, sondern hielten ihre Kabinen schön und übersichtlich. Wir warfen meist nur einen kurzen Blick hinein, tauschten die dreckigen Handtücher gegen saubere ein und hakten die Kabinen dann auf unserer Liste ab. So konnten wir schnell wieder auf unser Deck verschwinden.
Die beiden Cousins brachten die dreckige Wäsche zur Wäscherei und ich machte mich daran den Gang von Staub zu befreien. Ich hoffte, dass das laute Ächzen und Stöhnen des Staubsaugers die Passagiere nicht verärgern würde und hing sonst meinen Gedanken nach.
Hier hatte alles angefangen. Hier hatte ich den Ring gefunden und dem Gespräch des Gaunerpärchens gelauscht. Manchmal wünschte ich mir fast, es wäre gar nicht erst dazu gekommen und ich hätte nicht gehört, was der Mann und die Frau besprochen hatten. Manchmal wünschte ich mir einfach unwissend zu sein.
Aber wie immer machte mir das Glück und die dämliche Fügung des Schicksals einen Strich durch die Rechnung.
Mein eigentlich langweiliges Leben war nun gar nicht mehr so langweilig.
In meiner Zeit auf dem Schiff versank ich öfter in meinen Gedanken als früher. Das stellte sich bereits als eine nervige Angewohnheit heraus, weil ich einfach nicht bei der Sache war. Ich saugte nun schon zum dritten Mal über die gleiche Stelle, ohne, dass es mir auch nur aufgefallen war und ich merkte erst recht nicht, wie sich eine Person von hinten an mich heranschlich.
Genau aus diesem Grund konnte ich auch nicht verhindern, dass ein erschreckter Aufschrei meinen Hals verließ, als sich unvermittelt eine Hand auf meine Schulter legte. Mit einem spitzen Aufschrei stellte ich den Staubsauger ab und starrte mir geweiteten Augen in das ebenfalls erschrockene Gesicht Tristans.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Seitdem ich von den Verbrechern an Bord wusste, regte ich mich über jede Kleinigkeit auf. So auch jetzt. Mein Herz war von einer Sekunde auf die nächste in die Höhe geschnellt und pochte schmerzhaft gegen meinen Brustkorb.
Tristan schaute über seine Schulter und vergewisserte sich, dass wir ungestört waren.
„Du magst es echt mich zu Tode zu erschrecken, oder?", fragte ich und schüttelte seine Hand ab. Es war ein Wunder, dass ich noch nicht an Herzrhythmusstörungen litt. Es war ein wahres Wunder.
„Wir müssen reden.", sagte er gedämpft und ich zog eine Augenbraue in die Höhe. Das hörte sich ernst an. Seine steinharte Mimik besänftigte mich auch nicht wirklich. In seinen Augen blitzte es. Eine Energie, die vorher noch nie dagewesen war und die seine Augen nun zum Glänzen brachten.
„Es ist wichtig, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst.", sagte er drängend und ich nickte verwirrt. Er tat so, als ginge es gerade um die Rettung der Menschheit. Mindestens. Seine Augen huschten hektisch hin und her. Mein Herzschlag hatte sich immer noch nicht beruhigt und wollte sich bei Tristans dringlicher Stimme auch nicht beruhigen lassen. Ich schluckte schwer. Hatte er etwas herausgefunden?
„Hör zu, Solea!"
Er packte mich energisch an den Schultern und drückte mich in eine Nische in der Wand. Der Putzwagen verbarg uns einmal mehr vor neugierigen Blicken. Ich schnappte nach Luft.
„Bei dem Ganzen ging es nie um den Schmuck. Keine einzige Sekunde lang. Wir hatten Recht", raunte er und ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
„Wir hatten Recht?", fragte ich verblüfft. Auch wenn ich mit allem gerechnet hatte, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Tristan atmete scharf ein.
„Der Schmuck war nur als Ablenkungsmanöver gedacht, um von dem eigentlichen Diebesgut abzulenken"
Er schwieg und ich schaute ihn abwartend ab. Als ich es nicht mehr aushielt nickte ich ihm auffordernd zu.
„Ja und weiter?"
Alles was er sagte ergab in meinen Ohren überhaupt keinen Sinn.
Tristan seufzte und packte mich fester, als würde er nicht glauben, dass ich es immer noch nicht verstanden hatte.
„Es geht um die Gemälde!", rief er aus.
„Shh!!", zischte ich ihn an und warf einen Blick zurück in den Gang. Er war leer.
Obwohl wir uns gerade in der Nische versteckten, konnten wir nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass wir auch wirklich allein waren. Das hatte ich schließlich selbst erfahren müssen.
Nicht alles was man sah oder eben auch nicht sah, musste auch wirklich der Wahrheit entsprechen. Hinter jeder Ecke konnte sich in diesem Moment ein neugieriges Mädchen verstecken, so wie ich es damals gewesen war und unserer Konversation lauschen. Mit Schrecken würde es feststellen, dass wir gerade über Diebstähle und weitere kriminelle Machenschaften redeten und genauso wie ich würde sie im ersten Moment vollkommen hilflos sein und nicht wissen, wem sie sich anvertrauen konnte. Genauso gut konnte uns auch in dem Moment jemand zuhören, der uns ganz und gar nicht freundlich gesinnt war, und das machte mir weitaus mehr Sorgen.
Augenblicklich breitete sich in meiner Magengegend ein unangenehmes Ziehen aus und ich fühlte mich mit einem Mal beklommen in dieser dunklen Nische. Mein Blick blieb an Tristan hängen. Er schaute mich immer noch mit diesen glühenden Augen an, der mir sagte, dass er es vollkommen ernst meinte. Ich schluckte.
„Die Gemälde?", wiederholte ich leise und er nickte langsam.
Er ließ seine Arme von meinen Schultern sinken und augenblicklich konnte ich wieder freier atmen.
„Die Gemälde, die hier überall im Schiff hängen sind Millionen wert. Manche würden schon allein einen fünfstelligen Betrag auf die Waage bringen und bei dem richtigen Bieter sogar noch mehr. Es ging von Anfang an nur um die Gemälde.", sagte er energisch und ich schüttelte den Kopf. Es machte einfach keinen Sinn.
Die Gemälde ungesehen nach draußen zu schaffen war doch viel schwieriger als ein paar kleine Ketten und Ringe.
Wenn mein Ring schon eine halbe Millionen Euro wert war, dann konnte man mit diesen kleinen Metallstücken doch viel mehr erreichen als mit schweren Gemälden in ihren dicken Holzrähmen. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass der Schmuck im Endeffekt wertlos war. Ich wollte ebenso wenig wahrhaben, dass der Ring, den ich wie meinen Augapfel gehütet hatte, eigentlich gar nicht Bestandteil des Plans gewesen war.
„Der Schmuck-", setzte ich an, doch Tristan unterbrach mich.
„Der Schmuck war nur das Ablenkungsmanöver. Ein Bonus obendrauf. Nur ein nichtiger Betrag." Ich schnaubte. Das war ja eine schöne Umschreibung für eine halbe Millionen Euro. Tristan fuhr unbeirrt fort.
„Die drei Schmuckstück, die als gestohlen gemeldet wurden – wir wissen ja noch nicht einmal, ob er wirklich existiert, bis auf den Ring – das sollte einfach nur von dem wahren Schatz ablenken. Das alles hätte prima von den Gemälden abgelenkt, die in der Zeit von Bord geschafft werden sollten.", erklärte Tristan weiter und meine Augen wurden groß wie Teller.
„Die Gemälde sind ein Vermögen wert."
„Woher weißt du das von den Gemälden?", fragte ich und Tristan fuhr sich in einer hastigen Bewegung durch die Haare. Das tat er immer, wenn er nervös war und er schien es gar nicht zu bemerken. Seine Haare standen ihm wild vom Kopf.
„Ich war unten in den Lagerräumen, da wo eigentlich immer die Vorräte gelagert werden. Eigentlich sollte ich nur einen Kontrollgang für die Küche machen, durch die Gefrierfächer und so weiter, aber dann habe ich Lärm gehört und habe mich weiter umgesehen. Da unten geht sonst niemand her, es sei denn von der Küche, um die Lebensmittel zu überprüfen. Also bin ich weitergelaufen und kam zu einem Container."
Er stockte. Der Schock über seine Entdeckungen lag ihm anscheinend immer noch in den Knochen. Jemand war dort unten bei ihm gewesen, hatte ihn vielleicht sogar beobachtet. Ich schnappte erschrocken nach Luft. Was, wenn derjenige nun wusste, was Tristan herausgefunden hatte?
Gestresst ließ der Junge seinen Blick hin und her schweifen, um sich zu vergewissern, dass wir unter uns waren.
„Ich habe mir zuerst nichts dabei gedacht, aber der Container war bereits voll mit Gemälden. Hübsch verpackt in Luftpolsterfolie. So wie es sich gehört. Das sind keine einfachen Diebe. Das sind Profis.", sagte er nun und ich schlug die Hände entsetzt vor dem Mund zusammen. Nun kam mir noch ein Gedanke.
„So etwas ist doch schon einmal passiert. In den 70ern. Damals ging es auch um die Gemälde."
„Die Geschichte wiederholt sich. Wer weiß. Vielleicht sind es dieselben Täter wie damals. Auf jeden Fall wissen sie ganz genau, wo sie hinmüssen und welche Gemälde von Bedeutung sein würden.
Tristan sah sich plötzlich um.
„Lass uns lieber wo anders hingehen. Hier könnte uns sonst wer zuhören.", bemerkte er ein wenig verunsichert und mein Blick huschte schreckhaft durch die Gegend. Alles war ruhig, aber das konnte sich bereits in dem Bruchteil einer Sekunde ändern. Über Verbrechen an Bord redete man besser nicht mitten auf dem Gang.
Es sollte niemand in Hörweite sein. Pablo und Francesco waren noch nicht von ihrem Gang zur Wäscherei zurückgekehrt. Sie würden es auch nicht bemerken, wenn ich für ein paar Sekunden verschwand.
Tristan griff nach meiner Hand.
„Meine Kabine ist am nächsten.", sagte er und ich nickte. Wir huschten ungesehen durch das Treppenhaus zu den Mannschaftsunterkünften. Mit einer schnellen Bewegung hatte Tristan seine Kabinentür aufgeschlossen und drückte mich hinein. Ich ließ mich kraftlos auf dem Schreibtischstuhl nieder, während er sich an den Schrank lehnte und gleichzeitig die Tür hinter sich schloss.
„Wir hatten Recht. Wir hatten sowas von Recht.", sagte ich, während ich regungslos vor mich hinstarrte. Der Junge nickte bedrückt.
Die Gemälde. Es ging immer nur um die Gemälde. Die Gemälde mit ihren goldverzierten Rahmen, die hier bestimmt an jeder Ecke hingen. So genau hatte ich nicht auf sie geachtet. Erst recht nicht, wenn ich selbst so im Stress war, dass ich nur durch die Gänge lief. Selbst in den Mannschaftsunterkünften hatten welche gehangen.
Die einzige Frage, die immer noch ungeklärt war, war, wer hinter der ganzen Aktion steckte.
„Was machen wir jetzt?" Die Frage war an Tristan gerichtet.
„Sollen wir zu Mr. Henry und ihm von den Gemälden erzählen?", fragte ich und Tristan schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Was würde uns das bringen? Wir müssen die Diebe auf frischer Tat ertappen, sonst bringt es uns gar nichts. Der Container könnte jedem gehören."
„Aber er muss doch auf irgendwen ausgeschrieben sein, oder nicht?" Ich suchte verzweifelt nach einer Lösung, die nicht gefunden werden wollte. Wie eine Nadel im Heuhaufen. Tristan schüttelte erneut den Kopf.
„Der Container ist mit einer Nummer versehen. Wem auch immer der Container gehört hat einen Abholschein, den er vorzeigen muss. Erst dann bekommt er den Container ausgehändigt. So gesehen muss der wahre Verbrecher noch nicht einmal mit dem Schiff gereist sein. Er bräuchte nur seine Mittelsmänner an Bord, die das alles organisieren.", sagte er und ich nickte verstehend.
„Das heißt wir müssen entweder darauf warten, dass jemand den Container mitnimmt, oder..." Ich brach ab und mein Blick glitt zu meiner Uhr. Wir hatten nicht mehr viel Zeit.
„Oder wir müssen die Bande hier an Bord finden und den Abholschein bei ihnen sicherstellen.", sagte ich langsam.
„Dafür haben wir nicht einmal mehr vier Stunden Zeit. Dann legte das Schiff am Hafen an und wir können alles vergessen."
Tristan verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vier Stunden.
„So eine scheiße!", fluchte er und im Stillen pflichtete ich ihm bei. Das war eine große scheiße, in die wir da herein geraten waren. Im Endeffekt hätte ich darauf sehr gut verzichten können. Irgendwie aber auch nicht.
Ich stöhnte und hielt mir den Kopf. Wenn die Informationen jetzt immer so schnell auf einmal kommen würden, hätte ich erstens keine freie Minute mehr, die ich so gesehen jetzt auch schon nicht hatte und zweitens würde mein Kopf vor zu viel neuem Wissen regelrecht platzen, weil ich nicht damit zurechtkam.
„Ich muss wieder los. Pablo und Francesco fragen sich sonst noch, wo ich bin.", sagte ich leise und Tristan nickte. Ich klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter.
„Wird schon alles gut werden.", blieb ich zuversichtlich, aber meine eigenen Worte schienen mich selbst schon nicht zu überzeugen, wie konnten sie dann den Jungen vor mir von ihrer Wahrheit bezeugen? Es war nahezu hoffnungslos. Vier Stunden! Tristan ließ ich wahrscheinlich mit denselben düsteren Gedanken auf seiner Kabine zurück.
Auch während der weiteren Arbeit hingen meine Gedanken nur noch bei seinen Worten. Wir hatten nur noch vier Stunden, um irgendetwas herauszufinden. Ein beinahe unmögliches Unterfangen, aber was hätten wir sonst tun können? Wenn wir in drei Stunden immer noch nichts herausgefunden hatten, mussten wir zu Mr. Henry, um ihm das wenige zu berichten, was wir nun wussten.
Er könnte dann die Polizei rufen, damit die Täter abgefangen wurden, wenn sie den Container abholen wollten. Oder die Polizisten oder wer auch immer kam, würden auf das Schiff kommen und den Abholschein schon ausfindig machen. Das wäre jedenfalls Beweis genug, um das Verbrecherpaar an Bord auffliegen zu lassen. Sollten es noch andere geben, die in der Sache mit drinhingen, würden sie auch auffliegen. Spätestens, wenn man dem Pärchen eine geringere Strafe zusprechen würde. Sehr weit reichte die Loyalität der Verbrecher sicherlich nicht.
Meine Arbeit zog sich unnötig in die Länge. Francesco und Pablo waren auf ihren Kabinen verschwunden und ich hatte mich freiwillig gemeldet, um den Putzwagen zur Abstellkammer zu bringen. Die Neuigkeiten über die Gemälde drückten meine gute Laune merklich in die Tiefe.
Francesco und Pablo hatten ebenfalls schon bemerkt, dass sie mich besser nicht ansprachen und sie hatten sich zu ihrem Glück an ihre guten Vorsätze gehalten. Nur wenn ich etwas machen sollte, hatten sie mich mit kurzen Worten darauf aufmerksam gemacht. Ich hatte stumm genickt, was den beiden als Antwort ausreichte. Solange ich meine Arbeit erledigte, konnte jeder zufrieden sein.
Ich schob den Wagen mit einem leisen Ächzen in die Kammer und hielt mich dann an dem Regal neben mir fest. Jetzt musste ich den Wagen nur noch neu befüllen. Ich seufzte. Das nächste Mal würde ich diese Aufgabe wieder Pablo und Francesco überlassen. Ich griff nach den kleinen Shampoo-Flaschen und den Handtüchern. Es lagen nur noch wenige Handtücher in der Kammer und ich würde bald für Nachschub sorgen müssen. Ich machte mir eine kleine Notiz auf meinen Block, auf dem wir jede geputzte Kabine vermerkten.
Ich unterbrach meine Arbeit nur, weil ich wieder Stimmen auf dem Gang hörte. Stimmen, die mich bereits in meinen Alpträumen heimsuchten, weil sie von Diebstählen sprachen. Ich hielt den Atem an und mein erster Instinkt war es die Tür zur Kammer hinter mir zuzuziehen und keinen weiteren Ton mehr von mir zu geben. Die Tür fiel mit einem kaum hörbaren Klicken in ihr Schloss. Mit einer schnellen Bewegung schaltete ich das Licht der kleinen Abstellkammer aus. Ich konnte nicht herausfordern, dass man das Licht durch die Tür hindurch sah und man mich so überführen konnte.
Warum musste ich den Verbrechern immer allein begegnen? Warum konnte es nicht stattdessen einmal Tristan so ergehen? Warum war immer diejenige, die die brisanten Gespräche belauschte? Nicht, dass mir das etwas ausmachte. Immerhin liebte ich Geheimnisse über alles, aber ein Kunstraub stand nicht unbedingt auf meiner Liste, der Dinge, die ich gerne erleben wollte. Mein Puls schnellte in die Höhe und ich befürchtete, dass man meinen Herzschlag aus mehreren Metern Entfernung hören konnte, so laut schien es gegen meinen Brustkorb zu hämmern. Ich hatte ein ungutes Gefühl, das sich wenige Sekunden später bewahrheitete.
Wie durch ein Wunder platzierten sich die zwei Personen genau vor meiner Abstellkammer. Und mit genau meinte ich auch genau. Wäre die Tür nicht im Weg müsste ich nur die Hand ausstrecken, um das Verbrecherpaar berühren zu können.
Ich hielt meine Hand vor den Mund, damit keiner der draußen stehenden auf die Idee kommen könnte, dass ich in der Kammer versteckt war und jedes einzige Wort hören konnte, was sie da draußen sprachen. Mein Herz raste und tief in mir verspürte ich das nagende Bedürfnis, die Tür aufzureißen und den Dieben endlich ins Gesicht zu sehen. Sie waren da. Keine zwei Meter von mir entfernt. Ich war so kurz davor herauszufinden, wer hinter der ganzen Aufregung steckte, aber ich konnte mich keinen Millimeter bewegen. Ich wagte es nicht einmal einen Schritt näher auf die Tür zuzugehen, mein Ohr an das Holz zu legen, um die Stimmen besser zu hören. So groß war die Angst entdeckt zu werden.
Die Stimmen wurden wieder lauter und ich hielt den Atem an.
„Es kann nicht sein, dass alles schief geht.", sagte die Frauenstimme scharf.
Ich hatte sie definitiv schon einmal gehört, aber ich konnte sie einfach nicht zuordnen. Ich konnte keinen rationalen Gedanken fassen, aber vielleicht lag das auch an den Waschmaschinen, die im Hintergrund so laut waren. Die Wäscherei lag genau unter uns.
„Ich habe alles versucht, um die beiden aus der Sache herauszuhalten. Ich habe versucht, dass sie nicht weiter forschen. Aber sie waren einfach zu neugierig.", sagte der Mann.
Die Frau seufzte. „Dieses dumme Mädchen. Solea Müller.", sagte sie und mir stockte der Atem, als ich meinen Namen so deutlich hörte. Ich schluckte schwer.
„Tristan wäre auch früher oder später auf die Idee gekommen.", sagte der Mann und ich unterdrückte den Drang mein Ohr an die Tür zu drücken.
Die beiden redeten über Tristan und mich. Das hieß, dass wir ihnen schon sehr nah gekommen sein mussten, wenn wir so eine Gefahr für sie darstellten. Und wir mussten ihnen irgendwo schon einmal begegnet sein, sonst hätten sie wohl kaum so einen Aufruhr daraus gemacht.
Meine Hände fingen an zu zittern. Wenn sie jetzt auch nur auf die Idee kamen die Tür zur Abstellkammer zu öffnen, war es vorbei für mich. Ich würde zwar wissen, wer die beiden Verbrecher waren, aber ich würde auch den nächsten Tag sicher nicht mehr erleben.
„Das Mädchen kam mir schon immer komisch vor.", sagte die Frau.
Es war merkwürdig andere über einen reden zu hören, wenn man noch nicht einmal wusste, wer da überhaupt sprach. Ich biss mir auf die Lippe.
„Wenn sie nur nicht so verdammt neugierig gewesen wäre.", zischte die Frau und mein Mund klappte auf.
Mit einem Mal wusste ich, wer da draußen stand und ich konnte die Überraschung einfach nicht verbergen. Wie konnte ich die Stimme nicht erkennen? Die Stimme die mich schon so oft herumkommandiert hatte. Die mich so oft zum Kinderdienst geschickt hatte. Die Frau, die mich so oft aus ihren bernsteinfarbenen Augen höhnisch gemustert hatte.
Es war Frau Hoffenmeier! Der Drache, die böse Stiefmutter höchstpersönlich. Die ganze Zeit. Jetzt wo ich weiter darüber nachdachte, lag es einfach auf der Hand. Sie kannte sich hier auf dem Schiff so gut aus wie Tristan. Sie musste jeden Winkel kennen, denn immerhin war sie auch dafür zuständig, dass alles an Bord sauber blieb. Sie hatte nicht den Schmuck eines Gastes als vermisst gemeldet. Es war ihr Schmuck, den sie genutzt hatte, um alle an Bord von der Kunst abzulenken. Wahrscheinlich war der Plan nur improvisiert, weil sie den Ring verloren hatten.
Was brachte sie dazu zu solchen Mitteln zu greifen? Verdiente sie nicht gut genug? Was war es, dass die Frau zu einem Raub animierte?
Ich hatte sie zwar immer mit der bösen Stiefmutter und der bösen Hexe verglichen, aber ich hätte nie geahnt, dass sie diejenige war, die hinter den Verbrechen stand. In meinen Augen, und obwohl ich erst seit einer Woche hier war, gehörte Frau Hoffenmeier für mich schon zum festen Inventar der MYSTERY. Auch Tristan hatte nie zu bedenken gegeben, dass er der Frau nicht vertraute. Er musste sie schon sein Leben lang kennen.
Jetzt stellte sich nur die Frage, wer ihr männlicher Gegenpart war.
Die Hausdame schien jedenfalls ziemlich aufgebracht zu sein und ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich der Grund dafür sein sollte. Ich war mindestens genauso schockiert wie sie.
Ich atmete ruhig ein und aus, als die nächste Herzattacke kam.
„Jackson! Du solltest dafür sorgen, dass alles glatt verläuft. Nur dafür solltest du den Ring bekommen."
Mein Mund klappte ein zweites Mal auf. Das war die nächste Überraschung für diesen Tag. Jackson? Wie um Himmels Willen war der Junge in die Sache hineingeraten? Das konnte doch nicht wahr sein! Gab es wirklich niemanden an Bord, dem man vertrauen konnte?
Jackson ahnte nichts von meinem Dilemma, keine zwei Meter von ihm entfernt. Er schnaubte verächtlich.
„Der Ring ist verschwunden. Nicht einmal die Suche der Security hat etwas gebracht. Irgendein Volltrottel vom Housekeeping plant sich sicher ein schönes Leben.", stellte er verbittert fest und ich hörte wie Frau Hoffenmeier leise lachte.
„Dass der Ring weg ist, hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber darum geht es nun nicht."
Die Stimme der Frau war nur noch ein Flüstern und ich musste mich anstrengen, dass ich sie verstand. Ich wage es mein Ohr lautlos an die Tür zu pressen. Das Rütteln und Dröhnen der Waschmaschinen gaben mir Sicherheit.
„Alles was du tun musstest war das Mädchen und deinen Freund davon abzuhalten herumzuschnüffeln.", sagte sie und ich konnte nicht verhindern, dass ich scharf die Luft einzog. Zu meinem Glück waren die Waschmaschinen gerade in ihren letzten Zügen und wirbelten die Wäscheberge besonders kräftig umher. Wenn das Schiff anlegte, durfte nur der Motor laufen. Ich musste mich anstrengen die Worte hinter der Tür zu verstehen.
„Tristan ist nicht mein Freund.", sagte Jackson bitter. Frau Hoffenmeier ging gar nicht darauf ein.
„Das ist nicht mein Problem. Du solltest dich darum kümmern und hast es nicht geschafft.", sagte sie und Jackson lachte freudlos.
„Ohne mich wären Sie wohl kaum so weit gekommen, oder? Ich weiß alles.", sagte er und einige Sekunden lang bleib es still. Bedrohte er sie gerade etwa? Ich hielt den Atem an. Das wurde immer spannender und spannender. Wie ein Drama im Fernsehen, nur dass das hier mein wahres Leben war. Ich konnte nicht einfach auf die Stopp-Taste drücken und später weiterschauen. Ich konnte nicht weglaufen.
„Du musst dich entscheiden. Entscheidest du dich dafür. Gut. Entscheidest du dich dagegen, bist du draußen. Ja oder nein. Eine ganz einfache Frage.", stellte sie dem Jungen ein Ultimatum.
Auf dem Gang blieb es still. Frau Hoffenmeier seufzte.
„Das sollten wir lieber in der Waschküche besprechen.", sagte sie.
„In der Waschküche?" Jackson klang verwirrt.
Die Frau schnalzte mit der Zunge.
„Natürlich in der Waschküche.", herrschte sie ihn an und die Stimmen entfernten sich langsam.
Auf meiner Haut breitete sich einen Gänsehaut aus. Mein Gesicht brannte vor Aufregung. Langsam ließ ich die Luft, die ich in den letzten Sekunden unbemerkt angehalten hatte, entweichen. Mit einem Mal kam es mir so vor, als würde ich nach minutenlangem Tauchen endlich wieder an die Wasseroberfläche gelangen. Ich sah nicht mehr verschwommen, sondern endlich klar. Frau Hoffenmeier und Jackson waren Teil dieser ganzen Verschwörung und ich konnte es einfach nicht fassen. Die ganze Zeit über war ich davon ausgegangen, dass es zwei Menschen aus der Crew waren, die ich nicht kannte. Daran, dass Frau Hoffenmeier, geschweige denn Jackson irgendetwas damit zu tun hatten, hatte ich nicht einmal im Traum gedacht. Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Auch wenn Jackson Dreck am Stecken hatte, traute ich ihm so eine Aktion nicht zu. Selbst, wenn er sich die meiste Zeit wie ein Arsch verhalten hatte.
Mein Herz raste immer noch. Ich ließ mich nach hinten fallen und stieß gegen einen Putzwagen. Der Lärm, der dabei entstand, ließ mich jedoch kalt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit dem neuen Wissen umgehen sollte.
Nur eine Sache wusste ich ganz genau. Ich musste unbedingt Tristan finden.
Langsam legte ich mein Ohr an die Tür und lauschte. Ich konnte keinen Ton hören, also ging ich davon aus, dass der Gang leer war. Wer immer sich auch da draußen aufhielt war zumindest allein. Meine Hand legte sich auf das kalte Metall des Türknaufs und ich drückte ihn langsam nach unten. Ich musste mich ein wenig gegen die Tür stemmen, damit sie überhaupt aufschwang, aber als ich dann hektisch durch den Gang blickte, war niemand zu sehen.
Ich atmete erleichtert aus.
„Wenigstens einmal in meinem Leben habe ich Glück.", murmelte ich leise vor mich hin und schloss die Abstellkammer wieder.
Meine Hände zitterten immer noch ein wenig. Ich steckte sie in meine Hosentasche und versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen, was in meinem Zustand eher schleppend voranging. Die neuen Informationen in meinem Kopf waren immer noch nicht verarbeitet und sie würden es auch eine Zeit lang nicht werden. Es war zu viel auf einmal.
Wie war Jackson bloß in diese Sache hineingeraten? Ich fand ihn zwar nie besonders nett, aber immerhin war er einmal Tristans bester Freund gewesen. Tristan war – ausgenommen meiner ersten Begegnung mit ihm - die Gutmütigkeit in Person. Das müsste Jackson doch auch bemerkt haben. Wie konnte er ihn dann so hintergehen? Und die Hausdame schien auch nicht ganz in das Bild zu passen. Angeblich sollte sie doch schon so lange auf dem Schiff arbeiten, woher kam also der plötzliche Sinneswandel, der sie dazu veranlasste, alles was sie je gekannt hatte hinter sich zu lassen?
Es war wirklich zum Mäusemelken. Kaum kam man der Lösung des Rätsels einen Schritt näher, wurden neue Fragen aufgeschmissen, die noch viel schwieriger waren als die Vorherigen.
Ich streifte durch die Gänge und wusste dabei eigentlich nicht, was ich überhaupt tat. Ich sollte Tristan suchen, aber irgendwie kam mir keine Idee, wo ich ihn zuerst suchen sollte. Wie in Trance irrte ich durch das Schiff und konnte dabei keinen richtigen Gedanken fassen. Mein Kopf befand sich wieder unter Wasser. Ich hielt die Luft an und alles um mich herum schien still zu stehen. Alles geschah in Zeitlupe. Auch die leeren Wände, an denen vorher sündhaft teure Gemälde gehangen hatten, registrierte ich nur halbwegs. Es war wie ein Traum. Ich wusste, dass es ihn gab, bekam ihn jedoch nicht richtig zu fassen. Was sich vor ein paar Sekunden noch so lebhaft in meinem Kopf befunden hatte, wurde wenige Augenblicke bereits wieder in den Hintergrund gedrängt.
„Solea! Da bist du ja!"
Emilys laute Stimme ließ mich beinahe an die Decke springen. Ich fasste mir an mein sowieso noch schnell schlagendes Herz.
„Himmel, erschreck mich nicht so.", sagte ich und fuhr mir durch die Haare, die bestimmt schon einem Vogelnest Konkurrenz machten. Emilys Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Der Schock, von dem ich nicht genau wusste, woher er stammte, stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie umarmte mich stürmisch.
„Was-?" Das Mädchen atmete schwer gegen meine Schulter und sie drückte mich fest an sich.
„Ein Glück dir geht es gut.", sagte sie und ich hielt sie verwirrt ein Stück von mir weg.
„Natürlich geht es mir gut, was dachtest du denn?", sagte ich, obwohl mein Herz in meiner Brust immer noch schmerzhaft gegen meine Rippen pochte und hämmerte.
Emily schluckte schwer.
„Tristan hat mir alles erzählt.", sagte sie. Meine Augen wären mir beinahe aus dem Kopf gesprungen, so verdutzt starrte ich sie an.
„Er hat was?", rief ich schon fast und Emily versuchte mich zu beruhigen.
„Es ist alles gut. Aber er hat dich nicht gefunden. Du warst über eine Stunde lang nicht auffindbar und als er mich gesehen hat, hat er mich natürlich gefragt, ob ich wüsste, wo du wärst. Als ich ihn dann so verzweifelt gesehen habe, musste ich ihn natürlich fragen, ob es dir gut geht und er hat mir alles erzählt.", sagte sie und ich atmete schwer.
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du da mit hineingezogen wirst.", sagte ich und Emily schüttelte hektisch den Kopf.
„Entschuldige dich nicht, Solea. Wir müssen Tristan suchen. Er macht sich höllische Sorgen.", sprach sie weiter und ich nickte ergeben. Mein Kopf fühlte sich schwer an. Als bestünde er aus Watte. Meine Gedanken waren dumpf und glitten mir immer wieder aus den Fingern.
Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie Tristan reagieren würde, wenn ich ihm von meinen Entdeckungen erzählen würde. Ich schluckte schwer. Wie würde er wohl reagieren, wenn er erfuhr, dass sein bester Freund an der Sache beteiligt war?
Emily wirkte gehetzt. Sie zog mich an meiner Hand strebsam auf ein Ziel zu, dass ich noch nicht kannte. Aber es sollte mir auch egal sein. Alles ging wie ein Rauschen an mir vorbei. Ich merkte gar nicht, wie wir von einem Ende des Schiffes zum anderen gelangten. Lediglich eine Stimme blieb mir im Gedächtnis.
„Solea!" Kaum hatte ich seine Stimme gehört, hatte er mich bereits in seine Arme geschlossen. In seinen Armen fühlte ich mich sofort geborgen und mein Herzschlag beruhigte sich langsam. Neben der Erleichterung mischte sich nun auch Wut in seine Stimme. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich ein wenig.
„Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Ich habe mir solche Sorgen gemacht." Ich lächelte gerührt.
Damit, dass er sich solche Sorgen um mich gemacht hatte, hätte ich nicht gerechnet. Ich sah ihn entschuldigend an und das schlechte Gewissen kroch an die Oberfläche. Wie würde er auf das, was ich im Begriff war ihm zu eröffnen, reagieren? Immerhin ging es um seinen besten Freund. Auch wenn sie im Streit auseinander gegangen waren - es ließ ihn bestimmt nicht kalt, was ihm passierte oder was in seinem Leben vorging. So schätzte ich ihn jedenfalls ein.
Ich biss mir unbeholfen auf die Lippe.
„Du wirst mir nicht glauben, was ich herausgefunden habe.", fing ich an und Tristans Augen weiteten sich einen Moment fragend. Mit gedrückter Stimme und einem dicken Kloß im Hals begann ich zu erzählen.
Zwischen einigen ungläubigen Kopfschütteln, einigen überraschten Ausrufen und noch viel mehr sprachlosen Minuten, war ich schließlich am Ende meiner Entdeckungen, dass die Hausdame und Jackson in die ganzen Machenschaften an Bord verstrickt waren, angelangt.
Die Luft schien um uns herum eine Zeit lang still zu stehen und Tristans Mund klappte ein paar Mal auf und zu, als würde er etwas sagen wollen, es sich aber in letzter Sekunde anders überlegt haben.
„Also war es von Anfang an Frau Hoffenmeier und dieser Jackson?" Emily klang erschüttert und ich rief mir ins Gedächtnis, dass sie nun ebenfalls über alles Bescheid wusste. In den letzten Minuten hatte ich nur Augen für Tristan gehabt. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er sich in diesem Moment fühlte. Ich nickte müde.
„Sieht ganz danach aus.", sagte ich langsam und fuhr mir über die Stirn. Tristan neben mir zuckte zusammen.
„Das sieht ihm gar nicht ähnlich.", flüsterte er leise. Sein Blick war starr geradeaus auf die Wand geheftet und ich legte eine Hand auf seine Schulter. Er schüttelte noch einmal den Kopf, bevor er fortfuhr.
„So kenn ich ihn gar nicht.", sagte er. Ich seufzte.
„Und du bist dir sicher, dass es Jackson war?" Seine Augen lagen hilflos, aber auch hoffnungsvoll auf meinen. Das braun seiner Augen schimmerte beinahe mit kindlichem Vertrauen. Zögernd nickte ich.
„Ich habe seine Stimme erkannt und Frau Hoffenmeier hat seinen Namen gesagt. Ich habe keine Zweifel daran, dass er es war.", sagte ich und Tristan vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Er war mein bester Freund. Wie kann er mir so etwas antun?"
Seine Schultern sackten in sich zusammen. Meine Hand fuhr langsam über seinen Rücken.
„Damit konnte niemand rechnen. Du weißt nicht, was in ihm vorgeht.", sagte ich und Emily nickte.
„Wer weiß schon, was er sich dabei gedacht hat." Sie lächelte Tristan sympathisch an, doch dieser schien es gar nicht zu bemerken. Sein Blick war undurchdringlich.
Es war als würde er seinen besten Freund ein zweites Mal verlieren. Mein Herz wurde schwer. Ich konnte es nicht leiden, wenn er traurig und so niedergeschlagen war. Ich konnte es nicht mit ansehen.
„Jetzt nicht verzweifeln. Wir werden jetzt ganz in Ruhe nachdenken, was wir als Nächstes tun werden.", sagte ich ruhig. Emily zog die Augenbraue in die Höhe.
„Wir gehen zu Mr. Henry oder nicht?", fragte sie und Tristan runzelte die Stirn.
„Hast du nicht etwas von einer Waschküche gesagt?" Er schaute mich fragend an und ich nickte überrascht.
„Ja, habe ich, aber-"
Eigentlich wollte ich ihn fragen, warum das so wichtig sein wollte, aber Tristan hatte seinen eigenen Kopf. Er machte sich zielstrebig auf den Weg zu den Mannschaftsunterkünften.
„Hey!" Ich war ebenfalls aufgesprungen und sprintete ihm hinterher. Warum musste er so endlos lange Beine haben? Er war schon fast am Treppenhaus angelangt, als ich ihn bei der Schulter erwischte und zurückhielt.
„Was glaubst du eigentlich, was du da gerade machst?", fragte ich ihn aufgebracht.
„Nach was sieht es denn aus? Ich gehe jetzt zur Wäscherei und rede mit Jackson.", sagte er und ich seufzte. Das konnte doch nicht sein Ernst sein.
„Das kannst du nicht machen. Das war nicht der Plan.", versuchte ich ihn zu überzeugen, doch Tristan rollte nur mit den Augen.
„Das war alles nicht geplant, Solea."
„Wir gehen jetzt zu Mr. Henry. Er kann die Polizei rufen und dann wird alles aufgeklärt, so wie wir es von Anfang an wollten.", sagte ich. Der Junge stöhnte. Seine Augen waren unlesbar. Er blieb stur.
„Und was ist, wenn du dich verhört hast?", fragte er und dieses Mal war es an mir die Augen zu verdrehen.
„Ich habe mich nicht ‚verhört'.", sagte ich und malte Anführungszeichen in die Luft.
„Ich weiß, was ich gehört habe, okay?", sagte ich schnippisch. Ich wusste, was ich gehört hatte. Und ich wusste, dass er nur so unentschlossen war, weil er nicht wahrhaben wollte, dass sein Freund ihn so hintergehen würde.
„Hör zu. Ich weiß, was ich mache.", sagte er und wandte sich wieder dem Treppenhaus zu. Ich hielt ihn erneut zurück. Emily gesellte sich nun auch zu uns und schaute mit verschränkten Armen zwischen uns hin und her. Sie schnalzte mit der Zunge.
„Also was ist hier los?", fragte sie und ich kratzte mich am Hinterkopf. Ich nickte zu Tristan. Sollte er ihr erklären, was vor sich ging, immerhin war er auch derjenige, der all unsere Pläne über den Haufen rannte. Tristan schloss die Augen.
„Ich sage ja nur, dass wir noch mit ihm reden können. Er wird uns zuhören.", sagte er und ich schüttelte vehement den Kopf.
„Das ist eine schlechte Idee, eine ganz miese Idee, Tristan.", sagte ich eindringlich.
„Warum glaubst du immer, dass du weißt, was am besten ist? Du weißt es nicht!"
Ich hob abwehrend die Hände in die Höhe.
„Ich habe nie gesagt, dass ich es weiß, aber du entscheidest gerade einfach aus einer Laune heraus."
„Das ist keine Laune, Solea. Ich weiß, was ich mache." Seine und auch meine Stimme wurde immer lauter, sodass sie schon durch das Treppenhaus schallte.
Emily schlug uns beide.
„Seid ihr noch ganz dicht? Seid verdammt noch mal leise.", herrschte sie uns an und wir starrten sei einfach nur an. Noch nie hatte ich sie so gebieterisch erlebt. Sie konnte angsteinflößend sein, wenn sie wollte.
Das Mädchen atmete hörbar aus und legte einen Finger an ihre Schläfe.
„Ihr könnt hier noch weiter darüber reden, was ihr machen wollt, aber das bringt uns nicht weiter.", sagte sie und ich senkte den Kopf.
„Ich werde jetzt auf meine Kabine gehen und etwas überprüfen. In der Zeit überlegte ihr euch was und ich werde nachkommen. Ist das klar?" Sie hob eine Augenbraue in die Höhe und Tristan und ich nickten unisono. Was wollte sie überprüfen? Wir wagten es nicht ein weiteres Wort zu sagen und diese Frage zu stellen.
Emily nickte zufrieden.
„Also dann, bis später.", sagte sie und lächelte überschwänglich. Gleich darauf war sie schon verschwunden.
„Wow." Tristans blickte ihr mit offenem Mund hinterher und ich nickte. Nach ein paar Sekunden in dieser Stille räusperte sich Tristan. Er sah mich entschuldigend an.
„Ich will nur versuchen mit ihm zu reden.", sagte er fast lautlos und ich biss mir auf die Lippe. Mein Kopf kippte wie von selbst in meinen Nacken und ich starrte an die Decke. Ich wusste nicht mehr, was falsch und was richtig war. Ich konnte noch nicht einmal entscheiden, ob das, was wir gerade taten überhaupt in irgendeiner Weise richtig war. Wir waren auch nur durch Zufall in diese Geschichte hineingeraten, weiter nichts.
„Tristan, ich-"
„Der Teppich hier ist aber sehr rutschig" Die laute Stimme im Gang ließ Tristan und mich abrupt stumm werden. Das Ehepaar kam aus einem Gang getreten. Frau Stahl schien mit ihrem Mann zu reden, der seine Hände wortlos in seinen Taschen vergraben hatte und nicht weiter auf die Worte seiner Frau einging. Er bemerkte uns und seine Augen lagen forschend auf Tristan und mir.
Als die Frau uns entdeckte wurde allerdings auch sie leise. Beide starrten uns aus großen Augen an und ich biss mir auf die Unterlippe.
„Oh, das ist aber ein Zufall.", sagte Frau Stahl und lächelte. Ihre Augen lagen auf mir.
„Ach, wir kennen uns ja bereits. Geht es Ihnen gut?", fragte sie und ich nickte schnell. Ich räusperte mich.
„Ja, danke... mir geht es sehr gut.", stotterte ich.
„Und wie geht es Ihnen?"
Ich hoffte inständig, dass man die Spannung in meiner Stimme nicht heraushörte. Entweder funktionierte es ganz hervorragend oder sie ignorierten es einfach, denn die Frau belächelte uns gutmütig.
„Uns geht es wundervoll, meine Liebe. Wissen Sie, der Teppich ist etwas rutschig. Ich wäre fast hingefallen.", sagte sie mahnend, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Ich kümmere mich darum.", sagte ich leise. Mein Blick glitt zu Tristan. Er kniff die Lippen aufeinander.
Das Lächeln auf Frau Stahls Gesicht vertiefte sich, als sie sich zu ihrem Mann drehte.
„Am besten wir gehen Jakob. Wir stören, glaube ich", sagte sie augenzwinkernd.
„Sie stören ni-"
„Aber, aber. Alles ist gut, Liebes.", sagte sie und winkte ab. Sie nahm ihren Mann an der Hand und zog ihn hinter sich die Treppe hinunter.
Mein Blick glitt dem Ehepaar verwirrt hinterher, bis mir wieder einfiel, warum wir überhaupt in diesem Gang standen.
Tristan hatte die Stirn in Falten gelegt.
„Ich halte es immer noch für eine schlechte Idee.", sagte ich leise und Tristan ließ die Schultern hängen.
„Ich werde es so machen. Du kannst mich nicht davon abhalten.", sagte er in derselben Tonlage.
Er war von seiner Idee nicht abzubringen und es widerstrebte mir seinen Plänen zuzustimmen. Irgendwas tief in mir ließ meine Alarmglocken laut schrillen. Andererseits sah er so niedergeschlagen aus. Ich schwankte zwischen meiner Vernunft und dem Teil in mir, der Tristan diesen einen Wunsch erfüllen wollte.
Ich seufzte.
„In Ordnung.", sagte ich und Tristans Kopf schnellte in die Höhe.
„Wirklich?"
Ich nickte bloß. Wenn er meinte, dass das der richtige Weg war, musste ich ihm wohl oder übel vertrauen. Ein zweites Mal würde ich mich nicht von ihm trennen. Man sah ja, was in dem Fall passierte. Nichts Gutes. Hoffentlich hielt unser Glück an.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro