10 | Ein Verdacht
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt. Wir hatten bereits viel aufs Spiel gesetzt, aber letztendlich schien es uns doch kein Stück weiter zu bringen.
Alles was wir wussten, war, dass zwei, wenn nicht sogar mehr Kriminelle an Bord ihr Unwesen trieben und sogar schon einen Diebstahl, der bis dahin auf verwunderlicher Weise immer noch nicht gemeldet worden war, vollzogen hatten. Tristan war jetzt ebenso gut klar wie mir, dass wir weitere Diebstähle verhindern mussten, ohne den Gästen dabei Angst einzujagen.
Die Listen der Passagiere hatten uns bislang kein Stück weitergeholfen. Wir hatten sie durchgelesen und auch schon einige Namen weggestrichen, die nicht für einen nächsten Diebstahl infrage kamen, aber bis zu diesem Augenblick war an Bord nichts mehr passiert. Allein dieser Fakt machte mich rasend. Ich wusste, dass etwas im Gange war. Jeder spürte es. Irgendwann musste etwas passieren, damit ich wusste, dass ich recht hatte und mir nicht alles nur ausgemalt hatte. Einzig und allein der Ring in meiner Kabine bezeugte, dass an der Geschichte etwas dran sein musste.
Niemand verlor einen fünfhunderttausend Euro teuren Ring, ohne dass ihm sein Verschwinden nach ein paar Tagen auffiel. Es machte einfach keinen Sinn.
Die einzige plausible Erklärung in meinem Kopf war, dass der Ring schon vorher gestohlen worden war und allein aus diesem Grund weiterhin ruhig auf meiner Kabine schlummern konnte.
Ich stopfte mir weiter mein Mittagessen in den Mund und hing meinen Gedanken nach. Das Kartoffelpüree schmeckte bei diesen Gedanken nicht mehr so gut wie zuvor und ich schluckte es einfach ohne weiter darüber nachzudenken herunter.
Ich schmeckte ohnehin nichts. Meine Nase war zu und das Nasenspray aus meiner hauseigenen Apotheke half auch nur sehr wenig. Ich seufzte. Ich war nicht einmal eine Woche an Bord und schon hatte ich mich erkältet, mit allem Drum und Dran. Dauernd war mir kalt und ich hatte Kopfschmerzen, die nicht wegzugehen schienen. Immerhin wurde es jetzt ein wenig besser. Ich stellte meinen leeren Teller zu dem dreckigen Geschirr und verließ die Kantine mit schlurfenden Schritten. Das Treppenhaus lag wie so oft verlassen vor mir, doch dieses Mal sollte ich gestört werden.
„Ich weiß, was ihr gesucht habt, Solea.", hauchte er mir ins Ohr und meine Nackenhaare stellten sich auf, weil mich die Begegnung an die dunklen Schatten erinnerten.
„Was?"
Empört schubste ich ihn ein Stück von mir weg, aber er grinste immer noch breit.
„Du musst dich nicht dafür schämen. Ich an deiner Stelle wäre auch neugierig, was sie da alles über mich schreiben.", sagte er und ich legte die Stirn in Falten. Wovon sprach er?
„Was redest du da?", fragte ich und wollte mich schon an ihm vorbeizwängen, als er die Stimme erhob.
„Von deiner Personalakte natürlich.", sagte er verschmitzt und mir klappte der Mund auf.
„Meine Personalakte?" Jackson lachte.
„Naja, es ist wirklich traurig. Natürlich wolltest du wissen, was da so alles über dich geschrieben steht. Niemand würde dir es verübeln, nachdem dein Vorstellungsgespräch schon nicht ganz optimal verlaufen ist." Er lachte und ich kniff die Lippen zusammen. Mein Vorstellungsgespräch war meiner Meinung nach gut verlaufen. Jacksons Worte ließen mich stutzen. Was versuchte er damit herauszubekommen? Den Job hatte ich ja letztendlich bekommen, also konnte es mir eigentlich egal sein. Nicht egal war mir allerdings, dass Jackson versuchte herauszufinden, was wir tatsächlich an der Rezeption gesucht hatten. Unsere Geschichte hatte er uns also doch nicht abgekauft.
„Aber natürlich muss der heilige Tristan dir dabei helfen. Das machen gute Freunde so."
Seine Stimme klang etwas bitter und ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Hände zu Fäusten ballten. Ich starrte den Jungen vor mir wütend an.
Erstens hatte er meine Personalakte durchgelesen, was sicherlich verboten und obendrauf ganz sicher illegal war. Ich war mir sicher, dass die Personalakten sicher verstaut waren, und zwar bei Mr. Henry an der Rezeption. Entweder war er in diesem Moment einfach unaufmerksam gewesen, was ich für unwahrscheinlich hielt, denn Mr. Henry sah alles, oder - und das war die wahrscheinlichere Version - Mr. Henry war einfach nicht dort gewesen.
Zweitens, und das ließ mich sogar noch wütender werden als die Sache mit meiner Personalakte, redete er schlecht über Tristan, was ich nicht einfach so stehen lassen konnte. Ich wusste zwar, dass er auf Tristan, aus welchen Gründen auch immer, nicht gut zu sprechen war, aber das befugte ihn nicht dazu in irgendeiner Weise schlecht von ihm zu reden. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen wütend an.
„Du hast keine Ahnung.", sagte ich und er lachte freudlos.
„Nein, du hast keine Ahnung. Aber wie solltest du auch. Woher solltest du wissen, dass Tristan und ich einmal beste Freunde waren und er mich dann fallen gelassen hat?"
Ich zuckte zusammen und starrte ihn sprachlos an. Mein Mund klappte förmlich auf. Ich schüttelte verbissen den Kopf. Jackson biss sich auf die Lippe.
„Woher sollte auch nur irgendwer davon wissen..."
Er trat einen Schritt zurück und gerade als ich mich an ihm vorbeizwängen wollte räusperte er sich.
„Du bist genau wie ich damals. Du siehst zu ihm auf und siehst in ihm einen guten Freund, weil er dich beachtet und Zeit mit dir verbringt."
Seine Stimme war auf einmal ganz ruhig geworden.
„Aber glaub mir, du bist in seinen Augen nicht besser als der Rest von uns, mit dem er sich den Sommer über rumschlagen muss."
Jacksons Worte hallten noch in meinem Kopf wider da war er schon um die nächste Ecke verschwunden. Meine Hände hatte ich immer noch zu Fäusten geballt und ich versuchte sie etwas zu entspannen. Ich hatte meinen Fingern das Blut abgedrückt und in dem Moment, wo ich sie etwas lockerließ, floss das Blut prickelnd durch meine Adern.
Meine Fingernägel hatten sich ebenfalls in meine Haut eingegraben und jetzt, da ich sie wieder entspannte schoss der Schmerz ebenso durch meine Hände wie das Blut. Ich verzog das Gesicht und schüttelte meine malträtierten Hände, um den Schmerz zu lindern.
Ich musste mir eingestehen, dass Jacksons Worte mich mehr mitgenommen hatten, als mir lieb war. Das Treppenhaus war an diesem Tag ziemlich verlassen. Ich vermutete, dass der Großteil der Personen auf dem Schiff den Tag sicher draußen verbrachten oder was hauptsächlich wohl für die Besatzung galt, auf ihren Kabinen und bei der Arbeit. Jedenfalls war die Chance, dass ich nur einem Menschen hier begegnete ziemlich gering, und doch begegnete ich gerade der Person, die etwas Licht in diese dunkle Welt bringen konnte. Tristan.
„Hey Solea, was-?" Ich hatte ihn wortlos zur Seite gezogen und verschränkte die Arme. Er sah mich mit hochgezogener Augenbraue fragend an.
„Alexander Jackson hat meine Personalakte durchgelesen.", sagte ich ohne Einleitung und Tristan schaute etwas überrumpelt, sagte aber nichts.
„Und er merkt, dass etwas im Gange ist und dass wir etwas damit zu tun haben und-"
„Okay, stopp!"
Tristan hatte die Hände erhoben und versuchte mir zu verdeutlichen, dass ich meine in Wut getunkte Stimme senken sollte. Unsicher sah ich mich in dem Treppenhaus um. Mein Blick glitt wieder zurück zu meinem Begleiter.
„Ich muss jetzt wirklich los. Ich muss meine Arbeit machen.", sagte er und meine Schultern fielen in sich zusammen.
„Aber er hat-"
„Solea!"
Tristan schloss einen Moment die Augen. Eigentlich wollte ich ihm gerade sagen, dass er auch über ihn schlecht geredet hatte und vor allem, was er ihm vorwarf, aber nun blieb ich stumm.
„Es tut mir leid. Ich muss jetzt wirklich gehen."
Meine Augen lagen wohl etwas verloren auf ihm, denn er seufzte tief und trat einen Schritt näher zu mir. Er legte sanft eine Hand an meine Wange und lächelte verhalten.
„Hör zu Solea, ich habe davon noch nichts mitbekommen, aber du kannst es mir später erzählen, in Ordnung? Ich muss jetzt weiterarbeiten.", sagte er und ließ mich verwirrt zurück. Ich atmete tief ein.
Erst überrumpelte Jackson mich mit Vorwürfen und seiner Vergangenheit und dann wurde ich auch noch von Tristan abgewimmelt, als ich ihm davon erzählen wollte.
Meine Füße trugen mich wie von selbst zur Rezeption zu Mr. Henry. Irgendwas hatte der alte Mann an sich. In seiner Nähe fühlte ich mich auf Anhieb geborgen und sicher. Vielleicht lag es auch an den kleinen Lachfältchen, die sich um seine Augen bildeten, wann immer er seine Zähne aufblitzen ließ. Er lächelte mich warm an.
„Hallo Solea!", begrüßte er mich und ich lächelte zurück.
„Hallo Mr. Henry."
„Wie geht es dir heute?", fragte er mich und ich lächelte sanft. Bei ihm hatte ich das Gefühl, dass er sich wirklich darum kümmerte, wie es mir ging und nicht nur aus purer Höflichkeit fragte. So wie ich es auch von Tristan geglaubt hatte, bevor er mich hatte abblitzen lassen natürlich.
„Alles wie immer. Und bei Ihnen?", stellte ich die Gegenfrage und aus irgendeinem Grund fing er schallend an zu lachen.
„Ich kann mich nicht beklagen.", sagte er und sein Blick glitt durch die Halle.
Sein Lachen erstarb abrupt und ich wandte mich um, sodass ich das sehen konnte, was ihm in diesem Moment vor Augen trat. Männer in schwarzer Kleidung, die an den Fensterflächen standen und mit unerkenntlichen Mienen den Raum durchscannten.
Ich schauderte. Es war offensichtlich, dass mit den Männern nicht zu spaßen war. Alle Blicke der Passagiere, die die Halle betraten, konnten ebenfalls nichts dagegen tun, als die Männer mit offenem Mund anzustarren.
„Zumindest sage ich das immer.", sagte der alte Mr. Henry bitter.
Seine Gesichtszüge lagen fast schon angewidert auf den Männern und ich runzelte die Stirn. Mr. Henry schien sie jedenfalls nicht sehr zu mögen und das musste schon etwas heißen. Mr. Henry mochte jeden. Selbst gegen Jackson hatte er nie auch nur ein böses Wort verloren.
„Was geht hier eigentlich vor sich?", fragte ich Mr. Henry neugierig im Flüsterton. Ich stützte mich auf dem Tresen auf, sodass meine Beine einen Moment in der Luft schwebten.
Mein Blick glitt weniger unauffällig zu den Männern in schwarzen Uniformen. Die Passagiere und die Crew schienen die Männer dabei allerdings weniger zu kümmern. Sie starrten stur geradeaus und würdigten die Menschen um sie herum keines Blickes.
Ein weiterer Mann, der mir wage als einer der Männer bekannt vorkam, die sich bei der Vollversammlung zu Beginn vorgestellt hatten, kam auf sie zu und winkte sie mit sich.
Die Stille, die die Männer mit sich brachten, hielt auch noch einige Sekunden lang an, da hatten sie die Rezeptionshalle schon längst hinter sich gebracht. Dann wurden die Stimmen laut. Wie das Summen aus einem Bienenstock wurde es stetig lauter und lauter bis es gigantische Ausmaße erreicht hatte.
Überall wurde diskutiert, was es mit den Männern auf sich hatte. Da wurde von Tod und Mord erzählt, was mir gleich mehrere Schauer über den Rücken jagte. Wieder andere hielten die Männer für Bodyguards, die einen besonders berühmten Gast beschützten. Da ich die Listen der Passagiere jedoch alle gesehen hatte, konnte ich immerhin sagen, dass diese Behauptung schon einmal nicht zustimmte.
Die Kinder, die mit genau denselben kreativen Mutmaßungen durch das Foyer liefen, waren näher an der Wahrheit als mir lieb war. Sie glaubten, dass irgendetwas an Bord gestohlen worden war. In dem Punkt konnte ich ihnen leider nicht einmal im Stillen widersprechen. Mr. Henry hinter der Rezeption seufzte lautstark auf, was mich wieder in die Gegenwart zurückholte.
„Es hat einen Diebstahl gegeben.", sagte er nun und mein Herz rutschte mir in die Hose.
„Wie?" Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er nickte nur traurig.
„Anscheinend ist sehr wertvoller Schmuck abhandengekommen. Frau Hoffenmeier kam zu mir und bat mich darum diese Gegenstände auf die Vermisstenliste zu schreiben.", sagte er.
Bei der Erwähnung von dem Hausdrachen zuckte ich zusammen. Sie hatte mich ins Unheil getrieben mit ihrer Aufforderung ich solle auf die Kinder der Gremperichs aufpassen. Mein Blick glitt wieder zu dem alten Mann vor mir. Er holte einen Zettel hervor, auf dem sich ein großes Bild von Schmuck befand. Ich schluckte schwer. Es waren mehrere Schmuckstücke. Ein Armband, eine Kette und noch ein kleinerer Gegenstand.
Ein silberner fein gearbeiteter Ring mit mehreren blauen Edelsteinen an den Seiten. Das war der Ring, den ich gefunden hatte.
Der Ring, der von zwei Personen hier an Bord gestohlen worden war. Der Ring, der gerade in diesem Moment sicher verstaut unter meiner Matratze in meiner Kabine lag. Meine Augen wurden groß bei der Betrachtung des Bildes und mir war, als würde mir mein Herz schwer werden. Ich versuchte meine Miene äußerst neutral zu halten, sodass Mr. Henry, von dem ich zurecht behaupten konnte, dass seine Menschenkenntnis über die eines Hochgelehrten ging, hoffentlich keinen Verdacht schöpfen konnte. Ich hatte leider die Vermutung, dass man meine Gefühle wie ein offenes Buch lesen konnte. Die Blicke des Mannes waren allerdings ebenfalls auf das Blatt in seinen Händen gerichtet. Er schaute es traurig und gleichzeitig sehnsüchtig an. Ich kratzte mir den Hinterkopf.
Mr. Henry runzelte plötzlich die Stirn.
„Haben du und Tristan mir nicht einmal von einem Ring erzählt?", fragte er und meine Augen wurden groß.
Als ich Tristan von dem Ring erzählt hatte, hatte er auch Mr. Henry nach dem Schmuckstück gefragt. Ich biss mir auf die Lippe und hoffte, dass es nicht so reuevoll rüberkam, wie ich mich gerade fühlte. Ich rang mit meinen Händen.
„Ja, also nein... der Flurfunk.", fiel mir zum Glück Tristans Ausrede wieder ein und der Rezeptionist seufzte tief.
„Dann hatte der Flurfunk dieses Mal wohl recht gehabt.", sagte er bedauernd und ich biss mir erneut auf die Lippe. Ich hasste es zu lügen. Vor allem bei dem gutmütigen Mann vor mir tat es mir besonders leid.
„Und was passiert jetzt?", fragte ich ihn schnell und sein Blick richtete sich wieder auf mich. Er lächelte gequält.
„Die Männer, die du eben gesehen hast, sind von der Security. Eigentlich haben sie an Bord wenig zu tun, es sei denn, die Passagiere verlassen das Schiff oder wollen wieder drauf, aber bei solchen Angelegenheiten kommen sie ebenfalls ins Spiel.", erklärte er mir und ich runzelte die Stirn.
„Bei solchen Angelegenheiten? Heißt das hier sind schon mehrere Diebstähle passiert?", fragte ich und meine Stimme wurde ein wenig hoffnungsvoll.
Mr. Henry seufzte und senkte die Stimme.
„So etwas passiert immer mal wieder. Aber es kommt nur sehr selten vor.", sagte er und ich meine Augen drohten mir schon aus dem Kopf zu fallen so schockiert starrte ich ihn an.
„Aber, wie? Ich habe nie gehört, dass-"
Der Rezeptionist winkte ab und ich verstummte.
„Das wirst du auch schwerlich irgendwo finden. Alles was hier an Bord passiert wird strengstens vertraulich behandelt. Selbst die Täter müssen sich später nur vor Gericht oder vor der Polizei äußern. Hier an Bord kann man sie wohl schlecht an den Pranger stellen. Meistens geschieht es nicht einmal mit Absicht. Sie finden etwas und vergessen es dann.", sagte er verbittert, doch dann lächelte er mich sanft an.
Er strich mir liebevoll über den Arm.
„Darüber musst du dir keine Gedanken machen, Solea. Dieses Schiff ist ein sicheres Schiff, wenn man über diese Zwischenfälle hinwegsieht.", fuhr er fort und ich nickte langsam.
„Die Männer werden die Kabinen durchsehen und dann wird sich schon zeigen, ob die Anschuldigungen eines Diebstahls stimmen oder ob der Schmuck einfach nur verloren wurde.", sagte er beiläufig, doch mir rutschte das Herz ein zweites Mal in die Hose.
„Sie machen was?" Meine Stimme überschlug sich fast und ich musste mich an der Rezeption festhalten, damit ich nicht umkippte. Meine Beine und Hände fingen leicht an zu zittern. Mr. Henry betrachtete mich neugierig.
„Sie werden die Kabinen der Crew durchsehen. Keine Sorge, du hast nichts zu befürchten. Das geht alles sehr schnell. Wahrscheinlich sind sie jetzt sogar schon fertig."
Mein Magen rumorte. Ja, die Security-Männer wären fertig und ich wäre tot, denn man würde den Ring unweigerlich unter meiner Matratze finden. Die beruhigenden Worte von Mr. Henry beruhigten mich leider keineswegs, sondern ließen meinen Puls schneller schlagen.
Ich zog scharf die Luft ein.
„Ich habe noch etwas vergessen!", rief ich laut aus und zog damit einige verwirrte Blicke von den Gästen inklusive Mr. Henry auf mich. Er hob eine Augenbraue in die Höhe und wollte noch etwas fragen, aber ich wandte mich so schnell dem Ausgang und dem Treppenhaus zu, dass er gar nicht mehr die Chance erhielt ein Wort zu sagen.
„Bis bald.", rief ich noch über meine Schulter und hastete gleich darauf an dem singenden Fridolin vorbei, die Treppe hinunter zu den Mannschaftsunterkünften. Wenn ich Glück hatte, war es noch nicht zu spät. Ich konnte das größte Unglück verhindern.
Meine Beine trugen mich so schnell die Treppe hinunter, sodass ich gar nicht bemerkte, dass ich am unteren Ende angekommen war. Ich blendete alles um mich herum aus. Ich hatte nur noch einen Gedanken. Ich musste den Ring verschwinden lassen, bevor einer der Security ihn finden konnte und wenn sie ihn doch vor mir fanden, brauchte ich eine wirklich plausible Erklärung dafür, dass er sich dort befand und das zählte nun wirklich nicht zu meinen Stärken. Eins war sicher, ich wäre am Ende, wenn ich es nicht rechtzeitig schaffen würde.
Ich würde auf ewig als Diebin dastehen und ich müsste vor der Polizei und einem Gericht aussagen müssen. Was wenn sie mich dafür in ein Gefängnis stecken würden?
Meine Schritte wurden immer schneller und schneller und ich ignorierte die anderen Crewmitglieder, die mir protestierend aus dem Weg sprangen, geflissentlich. Sie waren im Moment meine kleinste Sorge, deswegen konnte ich nicht anders, als allen die ich fast umrannte eine Entschuldigung zuzurufen und dann den Gang weiter zu hetzen. Ich hatte die letzte Ecke hinter mir gelassen und wusste bereits, dass ich verloren war. Die Männer machten sich gerade daran die Kabine vor Mias und meiner abzuschließen. Einen von ihnen machte sich bereits an unserer Kabine zu schaffen. Ich kam genau in diesem Augenblick nach Luft schnappend davor zum Stehen, als die Tür knarzend aufsprang.
„Das... ist meine... Kabine.", keuchte ich außer Atem und die Männer schauten mich befremdlich an.
„Keine Sorge, wir haben die Erlaubnis einen Blick hineinzuwerfen. Den Gerüchten eines Diebstahls müssen nachgegangen werden.", sprach mich einer von ihnen freundlich an. Insgesamt waren sie zu dritt.
Die anderen zwei machten sich bereits daran, Schränke und Schubladen aufzureißen und alles durcheinander zu wirbeln. Achtlos warf einer von ihnen das Bild mit meiner Familie an die Seite und ich protestierte lautstark.
„Hey!", rief ich aus und wollte dem Mann in meine Kabine folgen, aber der dritte versperrte mir den Weg mit seinem Arm.
Ich funkelte ihn böse an und er zuckte nur unbekümmert mit den Schultern.
„Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit, Miss."
Mein Blick glitt wieder in die Kabine. Immerhin waren sie noch nicht auf die Idee gekommen unter die Matratze zu schauen. So lange hatte ich nichts zu befürchten.
Doch das hätte ich wohl besser nicht gedacht, denn keine Sekunde später durchwühlte einer der Männer Mias Bett und machte Anstalten die Matratze meines Bettes in die Höhe zu heben. Ich wollte die Männer davon abhalten ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, als einer von ihnen schon etwas unter der Matratze hervorzog. Ich hielt den Atem an. Jetzt war es vorbei. Ich hatte es vermasselt, der Ring wurde gefunden und ich steckte bis zum Kopf im Schlamassel.
Ich würde wegen eines Diebstahls angeklagt werden, den ich noch nicht einmal begangen hatte und ich würde hochkant gefeuert werden. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, aber zu meiner Verwunderung blieb es einige Sekunden lang peinlich still, bis sich einer der Männer verlegen räusperte.
Der Mann hielt mir wortlos eine Box Tampons entgegen, die er gerade unter der Matratze hervorgefischt hatte und ich wurde schlagartig rot wie eine Tomate.
„Ich kann das erklären.", sagte ich ohne darüber nachzudenken.
Innerlich wollte ich meine Stirn gegen die nächste Wand donnern. Die Männer wussten bestimmt auch ohne meine nicht gerade hilfreichen Erklärungen, was sie da in ihren Händen hielten.
Ich wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch röter im Gesicht. Ich biss mir auf die Lippe und trat einen Schritt zurück.
„Ich lasse das einfach hier.", sagte der Mann mit der Box in den Händen und legte die Packung behutsam auf mein Bett. Ich nicke stumm. Er selbst konnte damit wohl schlecht etwas anfangen, oder? Sein Gesicht nahm ebenfalls eine rötliche Färbung an, dabei fragte ich mich, was ihm daran eigentlich peinlich war. Die Männer drängten sich schweigend an mir vorbei und setzten dann ihren Kontrollgang in den Mannschaftsunterkünften fort.
Ich atmete erleichtert aus. Mein Herzschlag musste sich jetzt erst einmal wieder beruhigen.
Nach dem ganzen Hin und Her und den Herzinfarkten, die ich dabei erlitten hatte, folgte jetzt jedoch die Ernüchterung.
Und die alles entscheidende Frage: Wo war der Ring?
Mit der Frage stieg auch die Panik in mir hoch. Ich hatte ihn sicher unter die Matratze getan, wie konnte er auf einmal weg sein? Meine einzige Befürchtung war, dass den Männern irgendjemand zuvorgekommen war. Allerdings wusste sonst niemand, dass ich den Ring hatte beziehungsweise wo sich meine Kabine befand.
„Scheiße.", leise fluchend machte ich mich an die Arbeit, mich auf den Boden zu legen und diesen nach dem Ring abzusuchen. Wenn er nicht unter der Matratze lag, musste er heruntergefallen sein. Das war die einzige einleuchtende Erklärung. Es konnte gar nicht anders sein. Irgendwo hier auf dem Teppichboden musste er liegen. Ich kroch unter den Schreibtisch und versuchte mir mit meiner Handytaschenlampe einen Überblick zu verschaffen. Das war bei der Größe der Kabine leichter gesagt als getan.
Den Schreibtischstuhl musste ich schließlich auch verschieben. Die Kabine sah mit der Vorarbeit der Security-Männer wahrscheinlich nicht mehr sehr bewohnbar aus.
Ich robbte noch etwas weiter unter den Schreibtisch, um auch die hintersten Ecken zu beleuchten, aber auch hier wurde ich bitter enttäuscht. Nichts.
„Na, suchst du was?" Die Stimme ließ mich abrupt zusammenschrecken und prompt stieß ich mir den Kopf an der Schreibtischplatte an.
„Autsch!", fluchend rieb ich mir den Kopf und kroch in den Bereich zurück, in dem ich wieder stehen konnte. Wütend funkelte ich die Person vor mir an.
„Du hättest mich ruhig vorwarnen können.", sagte ich anmaßend und Tristan lachte leise in sich hinein.
„Das wäre nicht halb so lustig gewesen.", sagte er und reichte mir eine Hand. Stöhnend ließ ich mich von ihm auf die Beine ziehen und stand ihm nun gegenüber.
„Tust du das eigentlich absichtlich und nur weil du mich so gerne ärgerst?"
Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann grinste er.
„Ja, das fasst das Ganze ziemlich gut zusammen." Sein unvergleichliches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Er zwinkerte verstohlen.
„Kommen wir zu meiner Frage zurück: Suchst du etwas?" Er zog die Augenbrauen in die Höhe und mein Herzschlag setzte einige Sekunden aus. Er würde mich eigenhändig köpfen, wenn ich ihm jetzt beichtete, dass der Ring verschwunden war. Ich seufzte, aber selbst bei meinem Gesichtsausdruck ließ sich Tristan nicht aus der Ruhe bringen. Ich kratzte mir am Hinterkopf.
„Eben ist etwas passiert.", fing ich an und Tristan nickte langsam. Er betrachtete mich aufmerksam.
„Eben waren Security-Männer hier, die alle Crewkabinen durchsuchen, um den Ring zu finden. Irgendjemand muss ihn wohl als vermisst gemeldet haben." Tristan machte keine Anstalten irgendeine Reaktion zu zeigen, sondern ließ mich ruhig ausreden. Ich seufzte erneut.
„Jedenfalls waren sie eben auch in meiner Kabine gewesen und ich dachte schon es wäre vorbei, aber dann..." Ich zögerte.
Ich hatte Angst vor seiner Reaktion. Jetzt würde er mich sicherlich hassen und mich innerlich verfluchen. Und sich selbst würde er auch verfluchen, weil er den Ring nicht gleich in seine Obhut genommen hatte. Ich war schuld daran, dass wir nun kein Beweisstück mehr hatten.
„Der Ring ist weg.", ließ ich die Bombe platzen und senkte den Kopf.
„Ich weiß nicht, wie es passiert ist, ich hatte ihn immer unter meiner Matratze und plötzlich ist er verschwunden." Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen.
Tristan war jetzt sicherlich schwer enttäuscht und ich konnte diesem Blick einfach nicht standhalten, ohne in verzweifelte Tränen auszubrechen.
„Es tut mir so leid.", sagte ich und meine Stimme kam nicht mehr als ein Flüstern hervor.
„Ich hätte besser aufpassen müssen.", sagte ich und wartete auf irgendeine Antwort.
Doch es kam nichts. In der Kabine war es vollkommen still. Es war sogar so ruhig, dass ich einen flüchtigen Blick nach oben warf. Tristan stand an derselben Stelle wie zuvor etwa einen Meter von mit entfernt, aber anstatt sauer auf mich zu sein, hatte er immer noch dieses unverwechselbare Grinsen auf dem Gesicht. Die Grübchen in seinen Wangen vertieften sich sogar. Ich ließ meine Hände langsam sinken.
„Wieso bist du nicht sauer auf mich? Du müsstest stinkwütend sein. Ich habe den Ring verloren und keine Ahnung, wo er ist.", stotterte ich verwirrt und Tristan lachte leise in sich hinein.
Ich konnte darauf nichts weiter erwidern, sondern ihn nur stumm anstarren. Was war den los mit ihm? Immer noch lachend griff er in seine Hosentasche und zog einen kleinen Gegenstand hervor.
„Suchst du vielleicht das hier?", fragte er triumphierend und hielt mir den Ring entgegen.
Mein Mund stand sperrangelweit offen so verdutzt war ich. Mein Blick glitt von dem silbernen Ring zu Tristan und wieder zurück.
„Aber wie-?" Ich konnte meinen Blick nicht mehr von Tristan nehmen. Sein Grinsen wurde zunehmend breiter. Er fasste mir unters Kinn und klappte meinen Mund zu.
„Mund zu, sonst können Fliegen rein.", sagte er und lachte und ich strich mir verwirrt durch die Haare.
„Ich verstehe nicht-" Ich war mit meinem Latein vollkommen am Ende. Wie kam Tristan plötzlich an den Ring? Wie hatte er das gemacht? Was passierte hier gerade? Tristan seufzte und legte seine Hand beruhigend auf meine Schulter.
„Beruhige dich erst einmal, Solea. Alles ist gut.", sagte er sanft. Mein Blick lag misstrauisch auf dem Ring und Tristan fuhr endlich fort mit seinen Erklärungen.
„Ich habe mitbekommen, was sie vorhatten und ich habe mir bereits gedacht, dass es, wenn du hier ankommen würdest schon zu spät sein würde. Deswegen bin ich sofort, nachdem ich von den Plänen gehört habe hier runter und habe den Ring gesucht.", sagte er und mein Mund klappte trotz aller Bemühungen erneut auf.
Tristan sah in diesem Moment unheimlich stolz auf sich aus. Und er hatte es nach dem ganzen Tumult auch verdient.
„Das Versteck unter der Matratze war übrigens nicht sehr einfallsreich. Wir müssen uns noch etwas Besseres ausdenken.", sagte er nachdenklich.
Meine Fragen waren jedoch noch nicht alle beantwortet.
„Wie bist du überhaupt in meine Kabine gekommen? Du hattest doch keinen Schlüssel?", stellte ich fest und das Lächeln auf seinem Gesicht wurde breiter.
„Das ist ein Vorteil dabei, wenn einem dieses Schiff einmal gehören soll. Ich habe einen Generalschlüssel.", sagte er und fuhr sich dann verlegen durch die Haare.
„Das heißt eigentlich sollte ich ihn gar nicht haben. Der Schlüssel ist im Schlüsseldepot, dorthin muss ich ihn auch später wieder zurückbringen, sonst wird Mr. Henry misstrauisch, wenn er ihn nicht findet.", sagte er und spielte in diesem Moment mit einem weiteren kleinen Gegenstand in seiner Tasche.
Er zog einen kleinen Schlüssel aus Messing hervor und hielt ihn mir entgegen. Ich betrachtete ich eingehend. Neben den modernen Scannern für die Bordkarten gab es an jeder Tür noch ein altmodisches Schloss wie dieses. Ich hatte immer gedacht, dass sie vor allem bei den Passagierkabinen nur zur Zierde dienten.
Da ich hier an Bord alle Gästekabinen mit meiner elektronischen Karte öffnen konnte, hatte ich bis jetzt keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, dass die altmodischen Schlösser im Geheimen immer noch gang und gebe waren. Zumindest was die Verwaltung betraf. Für meine Kabine hatte ich auch einen dieser altmodischen Schlüssel.
Ich hätte mir selbst gegen die Stirn schlagen können, als mir dieser Gedanke erst jetzt kam. Immerhin mussten die Security-Leute auch irgendwie in die Kabinen gelangen.
„Ach ja, und wenn du Double-M begegnest und sie Fragen stellt: Ich war nur hier, um dir dein Handyladekabel wieder auf die Kabine zu legen, weil ich meines nicht gefunden haben, okay?", sagte er noch und ich nickte.
„Sie hat dich gesehen?" Tristan nickte entschuldigend.
„Ja, eigentlich sah der Gang leer aus, doch plötzlich stand sie neben mir und hat mich gefragt, was ich in eurer Kabine wollte. Das war das erste was mir eingefallen war.", antwortete er und ich zog anerkennend die Augenbrauen in die Höhe.
Dafür, dass er improvisieren musste, war die Ausrede nicht einmal schlecht.
„Und das hat sie dir geglaubt? Einfach so?"
Meine Mundwinkel zogen sich amüsiert nach oben und er lachte.
„Sie wollte mir schon ihr Ladekabel andrehen.", sagte er dann und ich kicherte.
Ja, das war Mia. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie euphorisch sie in diesem Moment ausgesehen haben musste. Meine Gedanken glitten wieder zu der Kabine und mein Blick blieb an meinem Schrank hängen.
„Warte, aber du hast nicht durch die Schubladen geschaut, oder?", fragte ich nun und meine Augen verengten sich als Tristan mit einem Mal verlegen wurde. Bei dem Gedanken, dass er meine Unterwäsche gesehen hatte wurde mir schlagartig heiß und kalt. Das durfte doch wohl nicht wahr sein.
„Ich musste ja den Ring so schnell wie möglich finden, da habe ich wohlmöglich ein oder zwei Blicke hineingeworfen.", sagte er kleinlich und ich seufzte.
Jetzt, da er meine Unterwäsche gesehen hatte, konnte ich ihm nicht einmal mehr richtig in die Augen blicken. Bei der Unterwäsche handelte es sich nämlich noch vorwiegend um die, die mir meine Mutter immer gekauft hatte. Das hieß also, dass sie nicht besonders vorzeigbar war, gerade nicht vor einem Jungen. Ich hatte die mit Blumen verzierten Unterhosen und BHs noch nicht vergessen und ich schämte mich in diesem Moment in Grund und Boden.
Ich knirschte mit den Zähnen, aber ich konnte die Erleichterung darüber, dass Tristan mich erneut gerettet hatte, nicht verbergen.
Es war wirklich Rettung in letzter Sekunde gewesen.
Tristan griff unvermittelt nach meiner Hand und ich hob fragend eine Augenbraue in die Höhe. Die Wärme seiner Haut gegen meine kalten Finger irritierte mich ein wenig.
„Du wolltest mir doch noch erzählen, was mit Jackson los war.", erinnerte er mich und die Begegnung am Morgen kam mir wieder in den Sinn.
Und auch das, was er Tristan vorgeworfen hatte. Aus irgendeinem Grund konnte ich Tristan nun erst recht nicht mehr in die Augen blicken. Ich schluckte schwer.
„Ja genau... stimmt ja.", sagte ich schnell und legte meine Hand in den Nacken.
„Also dann los.", sagte er und zog mich mit sich.
„Wohin gehen wir?", fragte ich perplex.
„Du hast sicher Hunger.", stellte er fest und wie auf Kommando fing mein Magen an zu knurren, obwohl ich vor nicht einmal einer Stunde etwas gegessen hatte. Tristan lachte.
„Das hatte ich mir schon gedacht."
Zu unserem Glück war es schon später Nachmittag. In dem Speisesaal tummelten sich nur noch die Köche und Köchinnen und nur ein paar andere Crewmitglieder, die sich ein Stück Kuchen gönnten. Wir setzten uns ruhig in eine Ecke.
Ich hatte mir ebenfalls ein Stück Kuchen geholt, aber Tristan war wunschlos glücklich. Er grinste mich breit an, aber Jacksons Worte gingen mir nun einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich musste es jetzt einfach wissen.
„Tristan...", fing ich zögernd an und der Junge betrachtete mich aufmerksam.
Sein Blick lag ruhig auf mir und seine Augen strahlten. Seine Haare standen ihm wild vom Kopf ab, sodass ich eigentlich das Bedürfnis verspürte einmal durch seine Mähne zu wuscheln, aber das wäre in dieser Situation wohl kaum angebracht gewesen.
„Jackson hat etwas gesagt.", brachte ich zögernd hervor und ich sah wie Tristan schluckte. Seine Mundwinkel zogen sich minimal nach unten, allerdings unterbrach er mich nicht und so sprach ich einfach weiter.
„Er meinte ihr seid einmal Freunde gewesen und dann hast du ihn fallen gelassen." Ich senkte den Blick. Es war mir selbst unangenehm die Worte auszusprechen.
Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, wie er jetzt aussah, wo ich ihm diese Vorwürfe machte.
Tristan blieb einige Sekunden lang still und ich wagte es nicht meinen Kopf auch nur einen Millimeter zu heben. Ich hatte zu viel Angst davor, was mir begegnen würde und was ich in seinen Augen lesen würde. War er enttäuscht? Wütend? Wollte er jetzt vielleicht gar nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich Jacksons Anschuldigungen so leicht Glauben schenkte?
Eine Hand legte sich unter mein Kinn und hob es leicht an und ich sah endlich in Tristans warme Augen. Seine Augen strahlten nichts Enttäuschtes aus, auch nichts Wütendes. Das Einzige, was ich in seinen Augen lesen konnte war Verständnis. Er lächelte leicht.
„Es tut mir leid, dass du es so erfahren musstest.", sagte er leise und mein Mund war mal wieder schneller als mein Gehirn.
„Also stimmt es?", rutschte es mir heraus und meine Augen weiteten sich nur noch mehr, als Tristan langsam nickte.
„Wir waren Freunde, sogar beste Freunde. Fast so etwas wie Brüder.", sagte er und meine Kinnlade klappte förmlich auf. Tristan lachte kurz auf.
„Ich weiß, es ist unvorstellbar, aber so war es." Er faltete die Hände auf dem Tisch zusammen. Sein Gesichtsausdruck wurde unergründlich.
„Jedenfalls... ich habe dir doch von der Geschichte mit Pablo erzählt, richtig?"
Ich nickte.
„Der Diebstahl." Tristan biss sich auf die Lippe.
„Das war vor einem Jahr. Ich habe mich damals auf Pablos Seite gestellt und nicht auf Alex'."
Es war das erste Mal, dass ich Tristan so über Jackson reden hörte. So ruhig, fast schon etwas liebevoll. So hörte sich jemand an, der seinen besten Freund verloren hatte. Und es brach mir das Herz.
„Alex dachte ich würde Pablo mehr vertrauen als ihm. Er dachte, dass mir mehr an Pablo liegen würde als an ihm." Tristan schien einen Augenblick lang nachzudenken.
„Ich habe mich nie gefragt, wie er die ganze Geschichte sieht. Ich habe ihn nie gefragt, weil ich danach sowieso nicht mehr mit ihm geredet habe. Und er nicht mit mir." Der Junge neben mir senkte den Blick. Dann sah er mich von der Seite her an.
„Er muss mich wirklich hassen, wenn er dich so gegen mich aufhetzen will.", sagte er nachdenklich und ich schüttelte den Kopf.
„Er weiß ja gar nicht, wovon er redet.", versuchte ich ihn aufzumuntern, aber Tristan lachte freudlos.
„Er weiß es leider zu genau. Er war nicht umsonst mein bester Freund. Wir waren wie Brüder. Ich habe ihm alles gesagt und er konnte mir alles anvertrauen. Alles was er über mich sagt entspricht der Wahrheit." Ich legte meine Hand auf seine und ich strich ihm über die Haut.
„Jeder Mensch macht Fehler, davon kannst du dich nicht freisprechen.", sagte ich und Tristan atmete tief ein.
„Ich hätte nicht gedacht, dass er daraus so eine große Sache machen wird, aber da habe ich mich wohl getäuscht." Er seufzte.
„Habe ich ihn verraten?", fragte er unvermittelt und ich runzelte die Stirn.
„Wie meinst du das?"
Meine Hand berührte seine immer noch, nur dieses Mal fuhr Tristan mit seinen Fingern über meine Haut. Als würde ihn diese Berührung beruhigen. Er redete bedacht weiter.
„Wenn du an seiner Stelle wärst. Würdest du dich verraten fühlen?"
Ich sog scharf die Luft ein. Wie würde ich mich wohl fühlen? Ich zögerte. Ich wusste nicht, ob Tristan diese Worte hören wollte, aber ich glaube er musste sie einmal hören.
„Ich denke schon.", sagte ich flüsternd und Tristan seufzte.
„Er war dein bester Freund. Sicher hat er sich irgendwie verraten gefühlt. Du hast dich immerhin auf Pablos Seite gestellt, aber was hättest du sonst machen können?"
„Ich hätte mich auf seine Seite stellen können."
„Das würde aber heißen, dass du glaubst Pablo habe die Sachen wirklich gestohlen. Pablo wäre gefeuert worden. Tristan, deine Entscheidung war richtig. Durch dich hat Pablo seine Arbeit behalten."
„Aber seine Unschuld wird dadurch auch nicht bewiesen. Und ich habe meinen besten Freund verloren."
Tristan seufzte schwer. Diese Gedanken mussten ihn schon lange verfolgt haben.
Die nächsten Worte kamen nur schwer über meine Lippen. Ich sollte es nicht fragen, weil ich ihn als Freund betrachtete. Als einer der wenigen, denen ich wirklich vertrauen sollte.
„Bist du dir sicher, dass Pablo unschuldig ist?", fragte ich leise und Tristan spannte sich neben mir an.
„Solea, das-"
„Ich muss das fragen. Wenn du auch nur den Hauch eines Zweifels hast, müssen wir uns fragen, ob Pablo nicht irgendetwas mit den Diebstählen zu tun hat."
Tristan zog scharf die Luft ein. Aber er sah nicht sonderlich überrascht aus. Als wäre ihm dieser Gedanke auch schon gekommen.
Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich vertraue Pablo. Er war es nicht. Nicht damals und auch nicht dieses Mal.", sagte er überzeugt und ich nickte langsam.
Richtig zugetraut hätte ich es Pablo ohnehin nicht. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Dafür war er einfach zu sanftmütig. Sofern es sich denn nicht in Jacksons Nähe befand.
Als hätte er gespürt, dass wir über ihn geredet hatten, stand der Staatsfeind Nummer Eins plötzlich vor uns. Jackson starrte uns beide wütend an.
„Das ist alles eure Schuld.", sagte er vollkommen ohne Einleitung und wir schauten ihn verblüfft an.
Er stemmte seine Hände auf den Tisch. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verzogen.
„Wegen euch hat man die ganzen Kabinen durchsucht.", stellte er fest und mein Mund klappte auf.
Tristan blieb ruhig, während ich puterrot anlief. Vielleicht hatten die Worte, die er vor wenigen Sekunden noch ausgesprochen hatte, ihn irgendwie beruhigt. Ein Pech nur, dass Jackson diese Worte nicht mitbekommen hatte. Er wäre sicher nicht so aufgebracht gewesen, wenn er hörte, dass Tristan es bedauerte ihn als Freund verloren zu haben. Vielleicht hätten sie sich auch wieder vertragen. Aber das war reines Wunschdenken.
„Was willst du uns damit sagen, Jackson?"
Tristan fasste sich an die Schläfen, als würde er bei Jacksons Geschrei unter Kopfschmerzen leiden. Bei mir kündigten sich diese bereits an. Jackson zeigte mit seinem Zeigefinger abwechselnd auf mich und dann wieder auf Tristan.
„Ihr habt irgendetwas vor und ich werde schon noch herausfinden, was das ist."
Er verschränkte die Arme vor der Brust. Nach allem was Tristan mir jetzt über ihn erzählt hatte, konnte ich ihn allerdings nicht mehr feindselig anschauen, wie ich es vielleicht wollte und wie er es seinem Verhalten nach auch verdiente. Ganz im Gegenteil. Tristan zuckte gleichgültig mit den Schultern und Jacksons Gesichtsausdruck bereitete mir ein schlechtes Gewissen.
„Okay."
Jackson tat mir leid. Immerhin hatte er seinen besten Freund verloren für etwas was jetzt schon ein Jahr her war und er war offensichtlich immer noch wütend auf ihn. Eine Versöhnung der beiden war in nächster Zeit wohl nicht absehbar. Beide schienen damit den Umständen entsprechend zurechtkommen. Tristan atmete tief ein. Ich konnte nur ahnen, was gerade in seinem Kopf vorging. Auch Jacksons Kopf schien von den Geistern seiner Vergangenheit geplagt zu werden. Seine Wangen färbten sich rot vor Wut.
„Warum gehst du dann nicht direkt zu Mr. Henry und sagst ihm, was wir großartiges vorhaben?", fragte Tristan und mir liefen bei dem Gedanken tausende Schauer über den Rücken.
Tristan war ein guter Schauspieler. Bei seinen Worten schien auch Jackson ein wenig überrumpelt zu sein. Wahrscheinlich hatte er eher damit gerechnet, dass wir in Panik fallen würden oder dass wir ihm freiwillig erzählen würden, was hier an Bord geschah.
Tristan sah unbeteiligt in die Augen seines ehemals besten Freundes und zuckte nur mit den Schultern, als dieser nichts mehr erwiderte.
Wortlos nahm er sich eine Gabel und stahl mir ein Stück von meinem Kuchen, den ich bei diesem Wortewechsel vollkommen vergessen hatte. Ich erwachte aus meiner Starre und schlug ihm, ohne groß darüber nachzudenken gegen den Oberarm. Er lächelte zufrieden. Einen Moment schien er Jackson vergessen zu haben, aber dieser beugte sich noch ein letztes Mal zu uns nach vorne. Tristans Augen verengten sich.
„Du bist ein miserabler Schauspieler.", sagte er und blickte verächtlich zwischen uns hin und her.
„Alle anderen kannst du damit vielleicht täuschen, aber nicht mich, Tristan. Ich kenne dich. Und ich traue euch nicht.", sagte er und richtete sich wieder auf.
„Tu dir keinen Zwang an."
Ich fragte mich, wie Tristan so ruhig bleiben konnte, während ich innerlich mehrere Tode starb.
„Ich werde schon dahinterkommen, was ihr vorhabt."
„Wie gesagt, tu dir keinen Zwang an. Forsch so viel nach wie du willst."
Der Junge atmete tief ein und erhob den Zeigefinger erneut drohend in die Luft.
„Das werde ich, verlass dich drauf.", sagte er mit schneidend kalter Stimme, sodass mir bitter kalt wurde.
Jackson nickte in meine Richtung.
„Du hast da übrigens Kuchen auf deiner Bluse. Sieht nicht schön aus." Damit drehte er sich ohne ein weiteres Wort zu sagen zum Ausgang. Mein Blick schnellte nach unten und ich seufzte tief.
Das war einfach nicht zu fassen. Erst die Kaffeeflecken, die Torte auf meiner Hose und in meinen Haaren und nun auch noch Kuchen auf meiner Bluse. Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir. Tristan reichte mir hilfsbereit eine Serviette und ich nahm sie dankbar entgegen.
„Was war denn jetzt schon wieder mit dem los?", fragte ich und mein Blick glitt hinter dem aufgebrachten Jackson hinterher. Tristan zuckte nur mit den Schultern.
„Ich habe absolut keine Ahnung.", sagte er leichthin, doch irgendetwas an dem Verhalten des Jungen kam mir merkwürdig vor. Tristan kaute nachdenklich auf der Innenseite seiner Wange.
Jackson hatte zwar immer offen gezeigt, dass er ihn nicht ausstehen konnte und wie es dazu gekommen war, wusste ich jetzt auch, aber sein Verhalten erklärte das noch lange nicht.
Außerdem schien er uns für alles verantwortlich machen zu wollen. Auf diese Idee wäre er doch niemals gekommen, wenn er nicht in Wirklichkeit etwas wusste, was mit dieser ganzen Geschichte im Zusammenhang stand.
Ich konnte spüren, dass Tristan ebenso darauf brannte wie ich - wenn auch weniger euphorisch - diesen Geheimnissen an Bord auf die Spur zu kommen und wir grinsten uns gegenseitig an. Auch wenn das für die ernste Situation in dem Moment vielleicht unpassend war, wir konnten uns das Lachen nicht verkneifen.
„Vielleicht ahnt er, dass wir etwas wissen. Seit der Diebstahl bekannt geworden ist, ist die ganze Crew auf Hochtouren.", mutmaßte Tristan, aber da war noch ein anderer Gedanke, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging.
Warum regte er sich so sehr darüber auf? Hing er irgendwie in der ganzen Sache mit drin? Die Fragen wollten einfach nicht aufhören.
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