1 | Wie witzig das Leben doch sein kann
Der Tag hatte begonnen wie jeder andere auch. Ich war zu spät. Mein Wecker hatte an diesem Morgen nicht geklingelt und ich war dadurch erst um kurz nach sieben aus der Jugendherberge gelaufen, in der ich die Nacht verbracht hatte. Ich lief so schnell mich meine Füße trugen und so schnell es mit dem riesigen Koffer im Schlepptau überhaupt möglich war. Die Räder des Koffers sprangen mit solch einem Lärm über die Pflastersteine, dass ich mich innerlich inständig bei den Bewohnern entschuldigte, die ich mit diesem Krach wohlmöglich aus ihrem schönen Schlaf riss. An einem Samstag wie diesem würde ich auch lieber länger schlafen. Heute war ich allerdings dazu gezwungen so früh aufzustehen und das nur aus einem Grund. Mein neuer Job. Aushilfe auf einem Kreuzfahrtschiff. Und das war ganz sicher nicht meine Idee gewesen.
„Das ist der Ernst des Lebens." hatte meine Mutter gesagt, als ich mich am Vortag von ihr verabschiedet hatte. Mit dem Zug brauchte ich knapp sechs Stunden bis zum Hafen von Hamburg von wo aus der Kreuzfahrtgigant mit etwa eintausend Passagieren inklusive fünfhundert Crewmitgliedern wie mir an Bord seine Reise aufnehmen sollte. Meine Mutter war der Meinung gewesen, dass es an der Zeit war, dass ich arbeiten ging und für mich selbst sorgte. Also, dass ich anfangen sollte auf eigenen Beinen zu stehen. Als hätte ich das vorher nie getan. Als alleinerziehende Mutter hatte sie tagsüber nie wirklich die Zeit gefunden sich um meine Verpflegung zu kümmern, dafür hatte sie selbst einfach viel zu viel zu tun. Kochen konnte ich also ganz gut, meiner Meinung nach und auch das Wäschewaschen hatte ich perfektioniert.
Trotzdem hatte ich ihr mehrmals versichern müssen, dass alles gut gehen würde und dass ich die Zugfahrt und die anschließende Übernachtung in der Jugendherberge gut überstehen würde. So waren Mütter eben. Sie machten sich immerzu Sorgen, auch wenn es meistens unbegründet war.
Vor Aufregung hatte ich die meiste Zeit der Nacht nicht schlafen können und hatte darüber hinaus auch noch vergessen meinen Wecker zu stellen, den ich natürlich dringend gebraucht hätte, weil ich, nach einigem Umherwälzen, endlich in meine Tiefschlafphase gefunden hatte. Zum ungünstigsten Zeitpunkt, den man sich nur denken konnte.
Ich seufzte laut und die Frau, die mir mit ihrem Hund entgegenkam, schaute mich befremdlich an. Der Hund bellte und ich schreckte zurück, was meinen Koffer beinahe aus dem Gleichgewicht brachte.
„Ruhig, Lotta!", schallte die Frau ihren Hund und der Name passte leider überhaupt nicht zu ihrem haarigen Begleiter, einem kleinen Dackel. Das Gebelle überschlug sogar das Gepolter, das mein Koffer verursachte. Ich lief schnell weiter, weil ein Blick auf die Uhr mir einen mächtigen Schreck versetzt hatte.
Ein besonders gutes Zeit Management hatte ich noch nie zu meinen Stärken zählen können. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter, der es immer besonders peinlich war, zu allen möglichen Veranstaltungen und Familienfeiern zu spät zu kommen. Die gab es in unserer Familie selten genug. Ich hatte mir ohnehin nie groß etwas daraus gemacht. Ich fand, Familienfeiern waren nur dazu da vor seinen Verwandten wegen irgendetwas Unbedeutsamen zu prahlen. Da sich weder in der Schule noch in meiner Freizeit irgendetwas fand, in dem ich besonders gut war, waren mir die Verspätungen meistens recht. Gespräche über zukünftige Rechtsanwälte und Architekten waren zu diesem Zeitpunkt meistens schon beendet. Wenn meine Mutter ehrlich wäre, würde sie dasselbe sagen. Ein Glück für uns, dass nur meine Tante, die Schwester meiner Mutter, sich irgendetwas aus diesen Familienzusammenkünften zu machen schien. Sie war von ihrem Mann geschieden und lebte mit ihren zwei Kindern, Sebastian und Josephine in einem kleinen gemütlichen Einfamilienhaus. Meine Tante liebte es an jedem der zahlreichen Tische, die bei unseren Familienfeiern immer zusammengestellt wurden, aufzutauchen, von den hervorragenden Noten ihrer Kinder zu prahlen und zu fragen, wie es den eigenen Kindern ging, um noch einmal zu verdeutlichen, dass ihre Kinder in allem besser waren. Diesen Vorgang wiederholte sie dann den ganzen Abend, bis es auch jeder verstanden hatte. Selbst die Kellner blieben davon nicht verschont. Als ich kleiner war, habe ich mich nach diesen Treffen immer schlecht gefühlt, weil ich meine Mutter in keine unangenehme Situation bringen wollte. Mit den Jahren hatte ich aber herausgefunden, dass das Gehabe eigentlich nur eine Fassade war. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Nachdem ich ihre lieben Kinder rauchend bei dem Familienfest im letzten Jahr erwischt hatte und ich ihnen versprechen musste, es niemandem zu sagen, schienen mir ihre Bemühungen von der Familie akzeptiert zu werden, plötzlich etwas erbärmlich. Keine Familie war perfekt, das zeigte sich bei meiner Familie nur allzu deutlich. Manchmal deutlicher als überhaupt notwendig. Auch die Versuche meiner Mutter, mir einen halbwegs passablen Job zu besorgen, zeigten das.
Um mich herum wurde die Menge allmählich dichter und gehetzter. Ich konnte nicht einmal mehr mitzählen, wie oft ich mich bereits entschuldigt hatte, weil entweder ich oder mein Koffer, einem Passanten über den Fuß lief oder anrempelte. Ich konnte mich nicht weiter darauf konzentrieren, ich wollte, nein, ich durfte einfach nicht zu spät kommen. Das würde gleich ein schlechtes Licht auf mich und was noch viel schlimmer war auf meine Mutter werfen und das war wirklich das letzte was ich an meinem ersten Arbeitstag erreichen wollte.
Leider sah ich auch das herannahende Auto nicht, welches ich unbeabsichtigt und aus Zeitnot aus meinen Augenwinkeln verbannt hatte. Wer kannte ihn nicht den berühmten Tunnelblick.
Den Jungen, der mich kurz bevor es zu einem verheerenden Unfall kommen konnte, von der Fahrbahn zog, sah ich dadurch genauso wenig. Er hatte meinen Arm gegriffen und mit solcher Kraft zurückgezogen, dass ich mitsamt Koffer auf dem Boden landete. Meine Schulter erwischte ihn während dieser ganzen Ausweich-Stolper-Hinfall-Geschichte so ungünstig, dass er seinen Becher mit einer verdächtig nach Kaffee aussehenden Flüssigkeit kurzerhand über sein Hemd und meine Bluse verschüttete. Ich kam hart auf dem Boden auf und der Aufprall ließ die Luft schlagartig entweichen. Kleine Sterne tanzten vor meinen Augen, als ich plötzlich nicht mehr die Straße, sondern den strahlend blauen Himmel über mir betrachtete. Ein Schrei entfuhr mir erst, als die Gefahr schon längst hinter uns lag oder besser gesagt schon zehn Meter weiter gefahren war. Der Schrei entsprang einerseits durch den Schreck über den Beinahe-Zusammenstoß mit dem silbernen Auto und andererseits durch den Leider-wirklichen-Zusammenstoß mit dem Jungen, der durch das laute Hupen des Autofahrers jedoch kaum zu hören war. Außerdem folgte eine nicht so nette Handgeste des Beifahrers.
„Verdammt nochmal!" Ich hielt vor Entsetzen den Atem an. Der Junge mit den schnellen Reflexen, der wie ich jetzt bemerkte, einen sehr elegant aussehenden Anzug zu tragen schien, war zu einer Eissäule erstarrt und folgte dem langsam an seiner Kleidung heruntertropfenden Kaffee mit den Augen. Für den Autofahrer, der gerade um die nächste Ecke bog oder gar mich, die immer noch mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden saß, hatte er keinen Blick übrig. Der Schmerz von meinem Hinterteil, als ich mich aufrappeln wollte, durchfuhr mich mit einem sehr bitteren Stechen. Hoffentlich hatte ich mir jetzt nicht auch noch das Steißbein gebrochen. Da ich es beim zweiten Versuch jedoch schaffte mich auf die Beine zu ziehen, vermutete ich, dass dem nicht so war.
„Alles in Ordnung?", fragte ich den Jungen, während ich mir selbst den Dreck von der Kleidung strich. Meinen Koffer, der bei dieser Aktion hart auf dem Asphalt aufgekommen war, war glücklicherweise nicht aufgesprungen. Er sah lediglich etwas ramponiert aus. Genauso wie das Hemd meines Gegenübers. Er fluchte und versuchte seine Stimme nicht einmal ansatzweise zu senken. Eine alte Dame, die an uns vorbeiging, riss erschrocken die Augen auf, als sie die Worte des Jungen hörte und ich senkte automatisch den Blick. Besagter Junge war immer noch damit beschäftigt den Kaffee oder das gröbste davon mittels Taschentücher von seiner Kleidung zu entfernen. Jedenfalls das was davon noch zu retten war. Zu unseren Füßen bildete sich bereits eine kleine, aber ansehnliche Pfütze der braunen Flüssigkeit. Der Kaffeestrahl hatte ihn echt gut getroffen. Auf meiner Bluse waren nur ein paar wenige, dafür aber auch große Kaffeespritzer, zu sehen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte man denken können, dass sein Hemd wirklich karamellfarben war. Ich holte nun ebenfalls ein paar Taschentücher aus meiner Jackentasche hervor und hielt sie dem Jungen schüchtern entgegen. Er ergriff sie ohne zu Zögern. Helfen tat es nicht besonders viel, da das Einzige, was er so von seiner Kleidung entfernte, die bereits nassen Taschentuchfetzen waren. Ein Überbleibsel seiner vergeblichen Rettungsversuche.
„Ist dir eigentlich klar, wie teuer das Hemd ist?", bemerkte er verbissen.
War das das Wichtigste was ihn kümmerte? Sein Hemd?
„Es tut mir leid.", sagte ich zögernd. Seine Augen trafen zum ersten Mal meine eigenen, und zwar mit einer solchen Härte, dass ich augenblicklich zusammenzuckte, als hätte mich ein Blitz getroffen.
„Kannst du mir sagen, was du da vorhattest?" Seine Augen funkelten so, als wollte er mich auf der Stelle erdolchen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich, wie jedes Mal, wenn man die Stimme gegen mich erhob und ich trat einen Schritt zur Seite. Die Fußgänger bahnten sich genervt einen Weg um uns herum, aber das schien dem Jungen nicht weiter aufzufallen. Oder es kümmerte ihn schlichtweg nicht. Sein durchdringender Blick lag immer noch auf mir.
„Wolltest du dich etwa umbringen?"
Seine Stimme wurde immer lauter. Ich schluckte schwer. Mein Gehirn schaffte es geradeso die Informationen der letzten Minute zu verarbeiten. Ich wäre beinahe in ein Auto reingelaufen. Das Auto hätte mich angefahren und ich hätte mich schwer verletzen können. Im schlimmsten Fall wäre ich vielleicht gestorben. Oder ich hätte meinen Aufenthalt in Hamburg um einen Krankenhausbesuch erweitert.
Der Junge redete sich immer weiter in Rage, während das Adrenalin in meine Blutlaufbahn gepumpt wurde und ich anfing unkontrolliert zu zittern, weil ich mich ebenfalls immer weiter in die Situation hineinsteigerte. Ich hätte tot sein können. Hätte der Junge mich nicht von der Fahrbahn gezogen, würde man jetzt die Krankenwagensirene auf ihrem Weg hierhin hören.
Mir wurde schlecht.
„Das war nicht mit Absicht, ich-" Ich stockte und der Junge hielt mitten in der Bewegung inne. Er schaute mich erschrocken an.
„Sag mir bitte nicht, dass du dich jetzt übergeben musst. Das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.", sagte er und ich versuchte das miese Gefühl, dass sich in meinem Magen ausbreitete und seinen Weg nach draußen suchte, in seinem Keim zu ersticken.
„Mir geht's prima. Absolut perfekt."
Ich spürte, wie sich mein Magensaft bedrohlich nach oben drückte. Ich legte eine Hand auf meinen Bauch und stütze mich hilfesuchend auf meinen Koffer.
Der Gesichtsausdruck des Jungen war auf einmal weich, vielleicht auch eine Spur panisch geworden.
„Hey, alles klar?"
Ich nickte stumm. Ich wollte mein Glück in diesem Moment nicht herausfordern. Das, was drinnen war, sollte auch drinnen bleiben. Der Junge bemerkte meine zitternden Hände und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Atme tief ein, okay? Konzentrier dich."
Ich versuchte mich irgendwie auf meine Atmung zu konzentrieren, aber vor meinem inneren Auge tauchten immer wieder die Szenen der letzten Minuten auf. Das Auto, das laute Hupen, das in meinem Kopf immer weiter zu einem bedrohlichen, tiefen Ton, der dem eines knurrenden Tigers ähnelte, anschwoll. Meine Augen huschten nervös hin und her, als meine Atmung immer schwerer wurde und eine Panikattacke kurz bevorstand.
Auch der Junge bemerkte, dass es mit dem Atmen nicht so richtig funktionieren wollte und legte seine zweite Hand auf meine Schulter.
„Sieh mich an. Und atme.", sagte er erneut und meine Blicke huschten zu seinen Augen. Seine Blicke waren überraschend sanft.
„Sieh mich an und konzentrier dich darauf. Ein- und Ausatmen."
Ich ließ meinen Blick nicht von seinen Augen weichen, die mich ebenfalls aufmerksam beobachteten. Er hatte helle braune Augen, die die Wärme eines vor sich hin prasselnden Feuers ausstrahlten. Sie passten nicht ins Bild, dass ich in den letzten Minuten von dem Jungen gehabt hatte. Jemand der schreit und laut war. Seine Augen waren das komplette Gegenteil. Sanftmütig und ruhig.
Als ich in dieser Position seine Augen studierte, fiel das Atmen mir mit jedem Luftzug leichter. Mein Puls beruhigte sich und auch das komische Gefühl in meiner Magengegend verebbte.
Dann wurde ich mir unserer Position bewusst. Er hatte mich förmlich eingekesselt und ich war zwischen den Armen meines unbekannten Retters gefangen.
Ich räusperte mich laut, als ich sichergehen konnte, dass es mir wieder besser ging und lief natürlich prompt dunkelrot an.
„Danke.", sagte ich leise. Der Junge ließ seine Hände sinken und in seinen Jackentaschen verschwinden. Mit seinen Händen verflog auch die Schwere.
„Geht's wieder?", fragte er und ich nickte.
„Ja, danke. Es ist nur, ich... danke." Aus irgendeinem unerfindlichen Grund brachte ich keinen vollständigen Satz mehr hervor. Schnell wies ich mit der Hand auf sein Hemd.
„Das mit deinem Hemd... Das tut mir leid.", sagte ich und ich konnte erneut spüren, wie das Blut in meinen Kopf schoss.
Er seufzte.
„Es ist zwar ein teures Hemd... aber es ist nur ein Hemd.", sagte er dann und seine plötzlich verständnisvolle Stimme verwirrte mich. Wo war der wütende Unterton in seiner Stimme geblieben? Perplex reichte ich ihm ein neues Taschentuch, welches er nun mit einem kurzen Kopfnicken entgegennahm. Auch dieses Taschentuch zerfiel in kurzer Zeit in seine Einzelteile.
„Ich glaube nicht, dass-"
„Ich seh's."
Ergeben ließ er die Reste des Papiertaschentuchs in einen Mülleimer fallen und fuhr sich durch seine sowieso schon zu allen Seiten abstehenden Haare.
„Besser wird es nicht mehr.", sagte er leise.
„Es tut mir wirklich leid.", sagte ich zerknirscht, aber meine Entschuldigung schien nicht wirklich bei meinem Gegenüber anzukommen. Ich hätte auch gegen eine Wand reden können. Er wurde auf einmal wieder unausstehlich und zog arrogant eine Augenbraue in die Höhe.
„Schön, dass es dir leidtut. Das macht es leider auch nicht besser. Ich habe Termine, verdammt!"
Ich konnte nicht anders als ihn aus großen Augen anzustarren. Ich hätte gerne den Jungen von vor ein paar Sekunden zurück. Mit dem konnte man besser reden.
„Tut mir leid."
Der Junge verdrehte die Augen.
„Wie oft willst du dich noch entschuldigen? Das macht es auch nicht ungeschehen."
Ich schluckte schwer und mein Blick glitt unauffällig zu meiner Armbanduhr. Anscheinend aber nicht unauffällig genug.
„Tja, aus meinen Terminen wird jetzt auch nichts mehr."
Ich blickte ihn reuevoll an. In seinen Augen blitzte es vor Wut. Der sanfte Gesichtsausruck war vollkommen verschwunden. Ich biss mir auf die Lippe.
„Danke, dass du mich von dem Auto weggezogen hast. Ich war so in Gedanken... ich habe es einfach nicht gehört."
Der Junge schnaubte.
„Es tut mir wirklich leid-"
„Das sagtest du bereits. Mehrmals. Langsam geht mir das auf die Nerven."
Vielleicht sollte ich einfach gar nichts mehr sagen. Dem Kerl konnte ich anscheinend überhaupt nichts recht machen, egal ob ich mich nun bei ihm bedankte oder entschuldigte.
Ich scharte mit den Füßen nervös über den Boden. Mit jeder verstrichenen Sekunde entfernte ich mich weiter von meinem eigentlichen Ziel. Und zwar zum Schiff zu gelangen.
„Es tut mir wirklich unsäglich leid.", sagte ich noch einmal und mein Gegenüber verdrehte nur die Augen. Ich suchte in der Zwischenzeit Geld aus meiner Tasche zusammen. Als ich den 50 Euroschein gefunden hatte, hielt ich ihm diesen wortlos entgegen. Er starrte mich an, als wäre ich verrückt geworden und hätte ich ihn gerade um etwas Unmögliches gebeten, für das ich ihn jetzt bestechen wollte. Wenn man seinen Augen traute, ging es um bewaffneten Raubüberfall. Mindestens.
„Was? Glaubst du, ich kann mir keine Reinigung leisten?"
Mein Blick blieb an seinem Anzug und den immer noch tropfenden Klamotten hängen. Sie sahen teuer aus.
„Ich schätze schon?"
Der Junge schnaubte belustigt.
„Sehr richtig" Er sah mich aus funkelnden Augen an und ich starrte aus großen Augen zurück. Das Geld hielt ich immer noch in der Hand.
„Was? Hab ich noch irgendetwas im Gesicht oder warum starrst du mich so an?"
Ich schluckte schwer.
„Es tut mir leid, dass du böse bist.", sagte ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, so eingeschüchtert hatte der Junge mich bereits. So oft wie an diesem Tag hatte ich mich noch nie entschuldigt. Er seufzte.
„Könntest du das bitte mal lassen? Dieses ständige Entschuldigen bringt jetzt auch nichts mehr. Es ist vorbei, okay?", bemerkte er und ich reichte ihm den Geldschein.
„Hier. Es ist nicht viel, aber ich hoffe es reicht.", sagte ich und mit einem Mal, war es der Junge, der mich aus großen Augen anschaute. Ich hatte ihm den Geldschein einfach in die Hand gedrückt.
„Noch einmal danke. Wirklich. Ich bin dir sehr dankbar." Bevor er es sich anders überlegen konnte, griff ich nach meinem Koffer und zog ihn scheppernd über den Boden. Ein Rad musste sich bei meinem Sturz gelockert haben, denn er fuhr nicht mehr so flüssig, wie noch vor zehn Minuten.
Als ich um die nächste Gebäudeecke bog, kam es mir so vor, als würde eine schwere Last von mir fallen. Jetzt, da der Junge mich nicht mehr mit scharfen Blicken beobachtete und mit seinen feurigen Blicken umbringen wollte, fiel mir das Atmen um einiges leichter. Selbst nach der Atemübung hatte ich immer noch einen Kloß im Hals gespürt.
Beim nächsten Fußgängerüberweg schaute ich gleich mehrmals links und rechts, ob ein Auto kam. Ich schaffte es ungeschoren zu meinem Ziel. Tatsächlich war ich noch gut in der Zeit. Ich hatte noch einmal eine falsche Straße genommen und war dadurch fünf Minuten später an meinem Ziel angelangt, aber der Weg war auf dem Stadtplan weiter entfernt, als er in Wirklichkeit war. Ich hatte also noch genügend Zeit.
Der Eingang des Kreuzfahrzentrums sprang mir förmlich entgegen, als ich um die Ecke in Richtung Hafenanlage steuerte. So eine prunkvolle Architektur hatte ich noch nie zuvor gesehen. Das lag vielleicht auch daran, dass ich bis auf die jährlichen Besuche bei meinen Großtanten, wohl kaum ein Leben führte, das man als abenteuerlustig oder reisefreudig ansehen konnte.
Wohin ich auch blickte, sah ich nun Schiffe, Segelboote und große Containerschiffe, die am Hafen angelegt hatten und gerade beladen wurden.
Ich steuerte, so schnell das mit meinem immer noch schmerzenden Hinterteil und meinem leider nicht mehr so gut laufendem Koffer gehen konnte, direkt auf die Rezeption zu. Herein hatte ich es ohne Probleme geschafft, da ich am Eingang einfach nur meinen Personalausweis hatte vorzeigen müssen. An der Rezeption saß ein junger Mann, der mich freundlich anlächelte, als ich nähertrat. Außer mir waren nur wenige Menschen in der Halle. Ein paar Menschen, die wohl schon die ersten Gäste waren, hatten sich in die Mitte und am Rand auf die wenigen Sitzmöglichkeiten niedergelassen. Sie redeten fröhlich miteinander und lachten herzhaft. Es war bestimmt großartig, eine Kreuzfahrt zu machen, ohne dabei arbeiten zu müssen, aber woher sollte ich das schon wissen. Die Bahnfahrt nach Hamburg war meine bislang längste Reise und die Stadt war mein entferntestes Reiseziel.
„Guten Morgen.", begrüßte mich der Rezeptionist und beim Klang seiner enthusiastischen Stimme hätte ich beinahe stark zusammengezuckt.
Ein guter Morgen sah bei mir jedenfalls anders aus. Weniger Beinahe-Unfälle, mehr Schlaf und Faulenzerei. Ich erwiderte den Gruß jedoch tapfer.
Als der Junge meine Bluse mit den Kaffeeflecken sah, grinste er verschmitzt.
„Das kenn ich.", sagte er lachend und ich runzelte verwirrt die Stirn.
„Wie bitte?"
Er winkte ab.
„Schwamm drüber. Sie sind von der Crew, oder?", fragte er und ich nickte perplex.
„Gut, andernfalls hätten Sie noch eine Weile warten müssen. Das Einchecken für die Gäste beginnt erst in einer Stunde.", informierte er mich und ich blickte verwirrt auf die Menschen, die bereits in der Halle saßen.
„Das hat denen aber anscheinend keiner gesagt.", murmelte ich und der Mann tat sein Bestes es zu ignorieren und nicht laut loszulachen.
„Manche Gäste sind sehr motiviert ihre Reise anzutreten und kommen viel zu früh.", bemerkte er und ich nickte erneut. Dann kramte ich meine Unterlagen aus meiner Tasche, die meine letzten Erlebnisse zum Glück unbeschadet überstanden hatten.
„Das hier sind meine Unterlagen.", sagte ich und reichte sie dem Mann über den Tresen hinweg. Er legte sie auf einen Stapel neben sich.
„Ich werde sie sofort bearbeiten. Ich muss nur schnell diese Dokumente hier fertig machen. Stellen Sie ihr Gepäck ruhig dazu."
Erst jetzt bemerkte ich, dass vor ihm bereits ein Stapel Papiere lag. Der Stapel sah genauso aus, wie mein eigener, nur das einige Lücken schon durch den Mann ausgefüllt waren. Ein anderes Mitglied der Crew musste mir zuvorgekommen sein. Sein Gepäck hatte es an der Rezeption stehengelassen, ein Stück versteckt hinter den Tresen, worauf der Junge nun zeigte.
„Sie können sich gerne setzen. Aber es wird nicht lange dauern." Der Mann lächelte mich noch einmal an, bevor er sich wieder seinen Papieren zuwandte und ich machte mir nicht die Mühe mich hinzusetzen. Zwischen dem Ausfüllen der Papiere wandte er das Wort an mich.
„Sind Sie das erste Mal dabei?", fragte er und ich nickte.
„Sie können mich ruhig duzen. Und ja, das ist das erste Mal.", brachte ich mit leiser Stimme hervor. Der Mann lächelte.
„Dito."
Er reichte mir über den Tresen hinweg die Hand.
„Tom."
„Solea."
Wir schüttelten unsere Hände und Tom wandte sich wieder dem Papierstapel zu. Dieses Mal nahm er meinen in die Hände.
„Solea. Schöner Name."
„Hab ich zum Geburtstag bekommen.", sagte ich, was Tom zum Lachen brachte.
„Das wird sicher lustig mit dir auf dem Schiff.", plauderte er weiter und ich schaute ihn neugierig an.
„Bist du auch ein Crewmitglied?", fragte ich, doch zu meiner Enttäuschung schüttelte er den Kopf.
„Nein, ich werde leider zu schnell seekrank und bin auf dem Wasser nicht zu gebrauchen. Ich kümmere mich aber um alles außerhalb. Auf festem Boden versteht sich. Ankunft und so etwas."
Ich nickte traurig. Es wäre schön gewesen, schon jemanden an Bord zu kennen.
„Ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Ich bin noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs gewesen, geschweige denn dass ich darauf gearbeitet habe."
„Keine Sorge. Wenn du Fragen hast, frag einfach. Keiner wird dich verurteilen, nur weil du neu bist.", erklärte er und ich nahm seine Zuvorkommenheit als gutes Zeichen, dass jetzt nur noch alles besser werden würde. Natürlich hatte ich wieder einmal den schwarzen Peter gezogen. Tom blickte auf und grinste breit.
„Alles erledigt? Hatte die Wäscherei schon auf? Ich hab deine Unterlagen fertig. Du könntest schon rein. Oder du leistest meiner neuen Freundin Solea und mir ein wenig Gesellschaft."
Neben mir tauchte plötzlich eine groß gewachsene Gestalt auf. Er trug einen Anzug. In seiner Hand hielt er ein weißes Hemd, das an einigen Stellen braun verfärbt war. Mein Herz sackte mir in die Hose. Ich ahnte schlimmes und als ich seine Stimme hörte bekam ich eine Gänsehaut.
„Sehr witzig. Das war das beste Hemd, das ich hatte. Vater wird mich umbringen.", sagte er und ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien, denn es war genau das, was mein Inneres tun wollte. Schreien und ganz schnell, ganz weit weglaufen.
„Mach dir um ihn keine Sorgen. Er wird dich sowieso nicht vor Ende der Reise sehen und dein Onkel wird's schon verstehen. Einmal in der Reinigung und das Ganze ist gegessen.", antwortete Tom und warf mir einen schnellen Blick zu. So schnell, dass er wahrscheinlich gar nicht bemerkte, dass ich nicht besonders begeisterst aussah.
„Alles nur wegen diesem verrückten kleinen Mädchen. Aber wahrscheinlich hast du Recht. Na, immerhin hab ich jetzt 50 Euro.", gab der Junge schulterzuckend nach. Dass er mich als klein bezeichnete, ließ mich beinahe empört nach Luft schnappen.
Als er seine Reisetasche fallen ließ, zuckte ich zusammen. Tom hatte sich über meine Papiere gebeugt und zeigte nun mit seinem Kugelschreiber abwesend auf mich. Ich kniff die Augen zusammen, vorahnend, was nun kommen würde.
„Tristan, das ist Solea. Solea, das ist Tristan. Ihr werdet euch auf dem Schiff wohl öfter begegnen. Obwohl ihr euch sicher schon kennt.", sagte er lachend.
Das hatte er also gemeint, als er bei meinem Anblick mit der kaffeebefleckten Bluse anfing zu grinsen. Er hatte Tristan mit seinem Kaffee-Hemd schon vor mir mit der dazu passenden Kaffee-Bluse gesehen. Toms Worte führten dazu, dass der Mann sich das erste Mal zu mir umdrehte, als hätte er erst jetzt bemerkt, dass er nicht allein an der Rezeption stand.
Ein überraschter Laut entfuhr seinem Mund und er seufzte gleich darauf, gefolgt von einem leisen Fluch, woraufhin Tom den Kopf hob.
„Lass das nicht deinen Vater hören.", sagte er mahnend, doch Tristan hörte ihn gar nicht. Ein fieses Grinsen, das alles andere als freundlich war, schlich sich auf sein Gesicht.
„Na sowas. So schnell sieht man sich also wieder."
Mein Gesicht fing augenblicklich Feuer, als ich niemand geringerem als dem Jungen entgegenblickte, der mir vor nicht einmal einer halben Stunde das Leben gerettet hatte.
„Wie witzig das Leben doch sein kann."
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