KAPITEL 8 ✶ Die Ernte in Distrikt Fünf
Lorcán Perseus DeAvalon
Die Sonne hatte gerade den Entschluss gefasst, sich wieder hinter dem mit Hunderten von Windturbinen gespickten Horizont hervorzuwagen, während die Neonröhren im Keller des DeAvalon-Anwesens angestrengt vor sich hin surrten und den Trainingsraum mit unnatürlich grellem Licht erfüllten. Die meisten Bewohner von Distrikt Fünf schliefen um diese Zeit noch, schließlich wollten sie die wenigen freien Stunden, die sie bekamen, auch so gut es ging auskosten, doch Frühaufsteher gab es überall – ob sie nun wollten oder nicht.
Ein dumpfes Klatschen hallten von den hohen, mit blitzblank polierten Spiegeln verkleideten Betonwänden wider, als Lorcáns Sohle zielgenau auf das Polster traf, dann eine Drehung, perfekt abgepasst, und ein weiterer Treffer, diesmal von links mit dem Fußrücken. Das Knie war seitlich von seinem Körper gestreckt, der Unterschenkel angewinkelt, dann ließ er ihn nach vorn schnappen, und auch dieser Tritt erreichte genau die Höhe, auf der sein Großvater das Fokuspolster platziert hatte.
Ein zufriedenes Lächeln huschte über die Züge des alten Herrn, als er Lorcán das vereinbarte Zeichen gab, woraufhin dieser augenblicklich in seine Grundhaltung zurückwechselte; den Oberkörper leicht gebeugt, beide Fäuste schützend vor das Gesicht gehoben, und immer in Bewegung bleibend, er durfte keine Angriffsfläche bieten, nicht einmal in der Theorie.
Immer abwechselnd nahmen Lorcáns Fäuste Kontakt mit dem Polster auf, er spürte wie der abgenutzte, schweißnasse Stoff sich gegen seine Knöchel presste, doch seine Bewegungsabläufe blieben fließend, präzise und elegant, jeder Schlag ein Instinkt, tief in sein Muskelgedächtnis eingebrannt.
Ein auffordernder Ruf seines Großvaters unterbrach Lorcáns Taktik, ließ ihn innerhalb von Sekundenbruchteilen umdenken, die Polsterfläche zeigte nun nach unten, und er holte zum Haken aus, erst rechts, dann links, und dann wieder rechts. Eine einzelne, weiße Haarsträhne, die aus seinem Dutt gerutscht war, peitschte ihm ins Gesicht, während noch weitere Schläge und Tritte folgten, bis ein unmissverständliches Nicken letztendlich verkündete, dass es für heute genügte.
Als hätte man sämtliche Spannung geradewegs aus seinen Gliedern gesaugt, sank Lorcán auf der Trainingsmatte zusammen und ließ den Kopf erschöpft in seinen Nacken fallen. Kaum hatte er damit aufgehört, wie ein fleischgewordener Tornado durch den Keller zu fegen, schien die kochende Hitze, die sein Körper absonderte, ihn regelrecht zu verschlingen, wie ein viel zu enger Anzug, der ihm erbarmungslos die Kehle zudrückte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, und sich die nassgeschwitzten Handschuhe von den Fäusten streifen konnte.
Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie sein Großvater sich ebenfalls neben ihm auf die Matte hockte, die Beine zu einem Schneidersitz verknotete, und ihm sowohl ein Handtuch, als auch eine Flasche Wasser reichte. Lorcán nahm beides dankbar an und leerte die Flasche in einem einzigen Zug, während sein Gegenüber lachend seinen Mundschutz ausspuckte.
»Das war keine schlechte Darbietung«, lobte er seinen Enkel und klopfte ihm dabei so kräftig auf die Schulter, dass Lorcán, vom Training noch immer ziemlich geplättet, sichtbar einknickte. »So lange hast du bisher noch nie am Stück ausgehalten, deine Ausdauer wird immer besser! Ich sag ja, die morgendlichen Laufrunden zahlen sich aus, das Tempo sollten wir auf jeden Fall beibehalten, wenn nicht sogar noch einen Schlag zulegen. Deine Technik war heute zwar ein bisschen wackelig, aber das ist jetzt wirklich Meckern auf ganz hohem Niveau. Dafür hast du dir auf alle Fälle ein schönes, ausgiebiges Bad verdient!«
Obwohl die Hitze, die die Anstrengung in ihm entfacht hatte, ihm gerade literweise Schweiß über den Rücken treiben musste, konnte Lorcán bei diesen Worten eine angenehme Wärme in seiner Brust aufflackern spüren, die auch ihm selbst ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte.
Trotz seines Alters war Perseus DeAvalon senior noch immer ein unheimlich eindrucksvoller Mann, dessen körperliche, sowie geistige Fähigkeiten man auf gar keinen Fall unterschätzen durfte. Hauptsächlich hatte er dies wohl seiner Friedenswächterausbildung zu verdanken, nach deren Abschluss er permanent in den Fünften Distrikt versetzt worden war. Lorcán war es eine Ehre, seinen Namen weitertragen zu dürfen, und auch wenn sein Großvater bereits seit Jahren im Ruhestand war, konnte man ihm den Stolz, die eiserne Disziplin und die Erhabenheit, die seinen Heimatdistrikt ausmachten, auch ohne die Uniform ansehen.
So jemanden ernsthaft zu beeindrucken war weiß Gott nicht einfach – deshalb konnte Lorcán heute auch besonders stolz auf sich sein!
Perseus hatte in der Vergangenheit schon mehrmals angedeutet, dass er sich diese Berufsrichtung auch für seinen Enkel vorstellen konnte. Mithilfe seiner zahlreichen Kontakte wäre es ihm ein Leichtes, an einen Ausbildungsplatz im Zweiten Distrikt zu kommen, und was seine körperlichen Defizite betraf, da würden sie sich schon irgendetwas einfallen lassen. Ein Schreibtischjob wurde beim Militär schließlich auch sehr ordentlich bezahlt.
Doch jedes Mal, wenn Lorcán darüber nachdachte, zog sich etwas in seinem Innern zusammen. Sicher war das eine Gelegenheit, die sich nur den allerwenigsten Bewohnern Panems bot, aber so eine Friedenswächterausbildung war schließlich auch mit einer ganzen Menge Erwartungen verbunden. Und Stress. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er an der Akademie niemanden kannte ... und Lorcán war sich ziemlich sicher, dass man es einem Außendistrikler dort alles andere als leicht machen würde, ganz egal, wer sein Großvater war.
Aber um das zu entscheiden, hatte er ja noch ein paar Jahre Zeit. Um das Geld brauchte er sich ohnehin keine Sorgen zu machen, seine Familie war bereits sehr wohlhabend und würde ihn garantiert auch in schwierigen Zeiten unterstützen, also war es eigentlich nur eine Frage des Interesses. Lehrer zu werden klang eigentlich ganz nett. Oder vielleicht Dozierender an der Universität, an der auch sein Vater lehrte. Wenn er nach seinem Abschluss dort studieren ging, konnte er sich auch gleich etwas mit dem wissenschaftlichen Arbeiten vertraut machen. Wenn er ehrlich war, dann hatte Lorcán sich schon immer lieber in seinen Büchern vergraben, statt sich mit irgendwelchen Verbrechern oder gar Rebellen herumzuschlagen ...
»Du bist deinen Altersgenossen bereits jetzt um ein Vielfaches voraus, was deine Ausbildung betrifft. Das ist dir bewusst, oder?«, riss Großvater Perseus ihn in diesem Moment wieder aus seinen Gedanken und Lorcán blickte stirnrunzelnd auf. »Und es wäre wirklich schade, wenn du mit dem ganzen Training, in das wir beide uns reingehängt haben, nichts anfangen würdest ...«
Da war es schon wieder.
Lorcán konnte spüren, wie der Knoten in seinem Magen sich enger zusammenzog, doch er ließ sich von seinem Unbehagen nichts anmerken und leckte stattdessen die letzten paar Tropfen aus seiner Wasserflasche.
»Bist du sicher, dass du dich nicht freiwillig melden willst? Deine Chancen stehen wirklich gut, und von einem Außendistriktler werden die meisten wohl kaum so viel Talent erwarten. Das könntest du wunderbar zu deinem Vorteil nutzen!«
Ein verheißungsvolles Zwinkern begleitete seine Worte und Lorcán lächelte zurück, auch wenn er sich im Augenblick nicht wirklich danach fühlte.
Dies war nicht das erste Mal, dass diese Frage in den vergangenen Wochen aufgekommen war. Und Lorcán konnte es ja auch irgendwo verstehen. Im Zweiten Distrikt war es etwas ganz Normales, dass die älteren Jugendlichen sich freiwillig für die Hungerspiele meldeten, die meisten dort trainierten ja sogar noch intensiver als er selbst, aber ...
Lorcán war weder so charismatisch, noch so widerstandsfähig wie diese Tribute. Er hatte von Geburt an mit einem schwachen Immunsystem zu kämpfen gehabt und als kleines Kind war er andauernd krank geworden, ganz egal, wie sehr seine Eltern ihn auch in Watte zu packen versucht hatten. Eine besonders aggressive Kehlkopfentzündung hatte sogar dafür gesorgt, dass er seine Stimme verlor, noch bevor er überhaupt das Sprechen hatte lernen können.
Was Lorcáns Kampfkünste betraf, mochte sein Großvater vielleicht sogar recht haben, aber wenn es um das nackte Überleben ging ... je nach Arenaterrain könnte ein solches Defizit sein Schicksal ein für alle Mal besiegeln. Perseus hatte immer versucht, den Körper seines Enkels mit regelmäßigem Training zu stählen, und ihn mithilfe eines Diätplans bei bestmöglicher Gesundheit zu halten, doch wenn das Fundament bereits wacklig war, dann half am Ende auch der beste Mörtel nichts mehr.
Lorcán hob die Hände vor seine Brust, sodass beide Handflächen nach oben zeigten, und ließ sie abwechselnd auf und ab wippen. »Vielleicht.« Um seinen Großvater jedoch nicht allzu sehr zu enttäuschen oder gar zu verärgern, verlor er sein Lächeln dabei zu keiner Sekunde. Dieser lachte bloß.
»Na gut, ich versteh schon. Theoretisch hast du ja auch noch zwei Jahre Zeit, um es dir zu überlegen.«
Das Bad und die große Tasse Tee, die Lorcán sich zum Frühstück genehmigt hatte, schienen zumindest in Ansätzen gegen das Unwohlsein zu helfen, das ihm seit dem morgendlichen Training so schwer im Magen lag. Vermutlich war wirklich bloß der Erntestress daran schuld. Kein Grund, sich Sorgen zu machen ... zumindest nicht mehr als sonst auch.
Kurz bevor Lorcán sich auf dem Ernteplatz zur Registrierung einreihte, unternahm sein Großvater noch einen allerletzten Versuch.
»Ich würde das garantiert nicht sagen, wenn ich nicht vollstes Vertrauen in dich hätte. Wie lange ist es jetzt her, dass der Fünfte Distrikt einen Sieger hervorgebracht hat? Bist du da überhaupt schon auf der Welt gewe-«
Doch bevor Perseus senior seinen Satz zu Ende führen konnte, bekam er von Lorcáns Mutter einen unsanften Ellenbogenstoß in die Seite.
»Mein Gott, Papa, jetzt lass den Jungen doch endlich in Frieden, wir sind hier nicht mehr in Zwei!«, zischelte sie in seine Richtung, auch wenn ihre angespannte Miene verriet, dass sie die Sache längst nicht so locker betrachtete wie ihr Vater.
»Ich hab's ja nur vorgeschlagen«, erwiderte dieser schulterzuckend und hob beschwichtigend seine Hände. »Im Endeffekt liegt die Entscheidung immer noch bei ihm.«
»Ganz genau! Also hör gefälligst auf damit, ihn beeinflussen zu wollen!«
»Ich motiviere ihn, Cora, das ist etwas völlig anderes ...«
Bevor Lorcán sich von seiner Familie trennte, damit diese sich in den abgesperrten Bereich am Rand des Ernteplatzes begeben konnte, bekam er noch mit, wie sein Vater über die Zankereien der anderen die Augen verdrehte und ihm aufmunternd zulächelte, was tatsächlich dafür sorgte, dass er sich ein klein wenig besser fühlte.
Zumindest für ein paar Sekunden.
Auf dem Weg zu seinem Block konnte Lorcán immer wieder spüren, wie ihn von allen Seiten fremde Blicke streiften, und er musste schlucken, den heißen Schauer, der ihm dabei über den Rücken lief, so entschieden wie möglich zu ignorieren versuchend.
Unweigerlich zog er die Ärmel seiner Lederjacke etwas weiter über seine Fäuste. Sie war verdammt warm und er hatte bereits vor einer halben Stunde zu schwitzen begonnen, aber sie war auch ein Geschenk seines Großvaters gewesen, das er ihm extra für die diesjährige Ernte hatte anfertigen lassen. Es war ja auch nicht so, dass sie Lorcán nicht gefiel, es war ein ungemein hochwertiges Stück, das sicher ein Vermögen gekostet hatte, aber ... das riesige Distriktwappen, das auf seinem Rücken prangte, war schon ein ziemlicher Blickfang. In Zwei gehörte bedingungsloser Patriotismus zum Alltag, und für die meisten Menschen dort waren die eigene Identität und das Distriktbewusstsein untrennbar miteinander verwoben, aber hier wirkte so etwas eher gewöhnungsbedürftig, um es vorsichtig auszudrücken. Was gab es in diesem staubigen, viel zu lauten Distrikt, der mehr Solarfelder als Einwohnerfläche besaß, denn schon, worauf man stolz sein könnte?
Andererseits durfte Lorcán aber auch nicht unhöflich sein. Und das Letzte, was er wollte, war seinen Großvater nach all der Zeit und dem Herzblut, das er in seine Ausbildung gesteckt hatte, zu enttäuschen.
Lorcán konnte es einfach nicht leiden, im Mittelpunkt zu stehen. Schlimm genug, dass er dank seines Albinismus jedes Mal angestarrt wurde, wenn er auf den Straßen unterwegs war, aber damit hatte er sich inzwischen wenigstens abgefunden. Im Notfall gab es ja immer noch lange Ärmel und Kapuzen. Und sobald er achtzehn war, würden seine Eltern ihm auch nicht mehr verbieten können, sich endlich die Haare zu färben.
Die Betreuerin, die dem Bürgermeister gerade mit griesgrämiger Miene Löcher in den Rücken starrte, während dieser seine Eröffnungsrede zum Besten gab, war in diesem Jahr zum ersten Mal hier. Und so abfällig, wie sie ihre Umgebung musterte, schien der Fünfte Distrikt wohl auch nicht ihre erste Wahl für diesen Posten gewesen zu sein ... die armen Tribute konnten einem wirklich leidtun. Wenn diese Frau schon jetzt kaum Interesse an ihrem Job zeigte, dann würde sie die Vorbereitung wahrscheinlich auch nicht sonderlich ernst nehmen.
Zumindest schien sie die ganze Sache, so wie die meisten Leute hier, lieber früher als später hinter sich bringen zu wollen, und verschwendete keine Zeit, bevor sie endlich auf die Loskugel zustöckelte und sich den ersten Zettel schnappte.
»Yolanda Aktavia!«, schnitt ihre Stimme durch das angespannte Schweigen, das sich über dem Ernteplatz ausgebreitet hatte, und wie jedes Mal, wenn ein Jugendlicher an diesem Tag seinen metaphorischen Totenschein in die Hand gedrückt bekam, schien die Welt für ein paar Sekunden vollkommen stillzustehen. Eine kühle, unbehagliche Erwartung lag in der Luft, vielleicht ein Hauch von Erleichterung, den all jene Mädchen verspürten, die heute verschont geblieben waren, doch niemand war wirklich in der Stimmung, sich darüber zu freuen.
Manchmal brauchten die Auserwählten eine Weile, um überhaupt zu realisieren, dass sie aufgerufen worden waren. Und so schien es auch Yolanda zu gehen.
Das Mädchen, das sich nun endlich dazu aufgerafft hatte, zur Bühne hinaufzuschreiten, musste ungefähr in seinem Alter sein. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre Augen waren unbeirrt nach vorn gerichtet, während das mit dezenten, floralen Stickereien geschmückte Kleid geradezu anmutig hinter ihr her wehte. Als sie an Lorcáns Block vorbeihastete, glaubte er für einen kurzen Moment, eine Narbe auf ihrer Wange aufblitzen zu sehen. Von irgendwoher erklang das Schluchzen eines Kindes.
Natürlich gab es Menschen, die Yolanda vermissen würden ...
Lorcán glaubte keine Sekunde lang, dass ihre Ziehung sie tatsächlich so kalt ließ, wie sie die Menge mit ihrer unerschütterlichen Miene glauben lassen wollte. In solch einem Moment die Ruhe zu bewahren war mit Sicherheit nicht einfach, doch irgendwie schaffte sie es, und wenn er ehrlich war, dann konnte er auch nicht so recht sagen, ob er sie dafür bewundern oder bemitleiden sollte.
Auf der Bühne angekommen wurde Yolanda größtenteils von ihrer Betreuerin ignoriert, die bereits nach dem nächsten Zettel kramte, und so weit er das von seiner Position aus erkennen konnte, schien sie zumindest einigermaßen sportlich gebaut zu sein. Wenn sie sich darauf konzentrierte, unauffällig zu bleiben und den Karrieretributen aus dem Weg zu gehen, dann könnte sie es vielleicht sogar schaffen, sich beim Füllhorngemetzel aus dem Staub zu machen und ... warte. Dachte er sich hier gerade wirklich eine Strategie für ein Mädchen aus, das er noch nicht einmal kannte? Na, wunderbar. Genau das brauchte sie jetzt wahrscheinlich. Realistisch gesehen konnte ihr jetzt sowieso nur noch ein Wunder helfen ...
»Lorcán Perseus DeAvalon!«
Die Zeit stand still. Zum zweiten Mal an diesem Tag.
Doch diesmal fühlte es sich an, als würde ein ganzes Jahrtausend an ihm vorüberziehen. Die Witterung ließ sein Fleisch verrotten, sein Blut versiegen, und seine Knochen zu Staub zerfallen, Regen und Schnee über ihn hinwegwaschen, Sand, Gestein und Erde, bis der Frühling eines Tages eine dichte, grüne Moosschicht über seine Überresten betten würde und sie endlich unter sich begrub.
Doch noch war es nicht so weit.
Noch stand er hier, auf dem Ernteplatz von Distrikt Fünf, noch war er am Leben, und jeder konnte ihn sehen, tausende Augenpaare mussten in diesem Moment auf ihn gerichtet sein, in der Hoffnung, eine Regung zu erhaschen, vielleicht sogar eine Träne, doch Lorcán konnte keinen einzigen Muskel rühren.
Es hatte schon beinahe etwas Komisches an sich. Er hatte sich so viele Gedanken über die Kommentare gemacht, mit denen sein Großvater ihn nach der Ernte löchern würde, dass ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, dass er ja auch einfach gelost werden könnte. Tesserasteine hatte er nie nehmen müssen. Aber wie es aussah, hatten die fünf Pflichtlose mehr als genügt, um Fortuna auf ihn aufmerksam zu machen.
Perseus DeAvalon senior platzte wahrscheinlich gerade vor Stolz. Und seine Eltern? Spielte das jetzt überhaupt noch eine Rolle? Lorcán hatte seinen Großvater niemals enttäuschen wollen. Und das hier war seine Chance, sich endlich für das erkenntlich zu zeigen, was er für ihn getan hatte.
Also setzte er sich in Bewegung.
Mit nahezu mechanischen Schritten und ohne eine Miene zu verziehen stieg er zur Bühne hinauf, die sich in diesem Moment wie ein Schafott vor ihm aufbaute. Die Blicke einer gesamten Nation bohrten sich unter seine Haut und er konnte spüren, wie der Knoten in seinem Magen sich abermals zusammenzog. Vor dem Podium angekommen wagte Lorcán es nicht einmal, sich der Menge zuzuwenden, sein Kopf fühlte sich auf einmal so leicht an, und seine Lider so unendlich schwer. Die Betreuerin musterte ihn zumindest ansatzweise interessiert, und er kam sich vor wie ein Tier im Zoo, sie sagte etwas zu ihm, doch er verstand kein Wort, alles begann sich zu drehen, er konnte das hier nicht, er wollte weg, weg von all den starren Blicken, den Leuten, den Gaffern ... und dann zerteilte endlich eine Stimme den Nebel, der ihn umfing. Wie die Klinge eines Schwertes.
»Wie wär's, wenn wir jetzt alle mal einen kleinen Schritt zurücktreten? Sie sehen doch, dass er von der Situation gerade ein bisschen überwältigt ist, oder?«
Es war Yolanda, seine Mittributin, die sich schützend vor ihn gestellt hatte und die geradezu empört dreinblickende Betreuerin mit ein paar raschen Handbewegungen davonscheuchte wie eine lästige Fliege.
Lorcán war noch immer ein wenig flau im Magen und sein Kopf versuchte verzweifelt, dem Chaos, das gerade in seinem Innern herrschte, irgendwie Herr zu werden, doch vergeblich.
Er sollte sich vermutlich bei ihr bedanken, oder? Doch als sie sich zu ihm umwandte, ein ungemein sanftes, wenn nicht sogar aufmunterndes Lächeln auf den Lippen, konnte er schon wieder keinen Muskel rühren. Ein paar Sekunden lang starrte Lorcán sie einfach bloß an, sein Atem zitterte noch immer ein wenig, bevor er ihr mit steifem Nacken zunickte, und von ganzem Herzen hoffte, dass sie es verstehen würde.
Yolanda hätte das hier nicht tun müssen. Spätestens in einer Woche würden sie sich in der Arena als Todfeinde gegenüberstehen. Und sie wollte doch mit Sicherheit genauso sehnlichst wieder nachhause zurückkehren wie er und die zweiundzwanzig anderen Kinder, auf die sie in wenigen Stunden treffen würden ...
Wie weit konnte man es überhaupt bringen, wenn man bereits vor Beginn der Spiele in jemandes Schuld stand?
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AN: Wenn ihr das hier lest, feiere ich gerade fleißig in meinen Geburtstag rein, also werde ich eure Kommentare wahrscheinlich erst morgen oder übermorgen beantworten können. ^^; All hail the Queue-Funktion!
xXClaire_chanXx: ENDLICH kommt dein erster Charakter vor. :DD Es hat echt lange genug gedauert ...
Ich hatte ja auch schon erwähnt, dass ich Lorcán an einigen Stellen abschwächen musste, damit er die anderen nicht zu sehr überschattet, und während ich seine Perspektive geschrieben habe, konnte ich es mir auch nicht verkneifen, ein paar lose Enden zu verknüpfen, die im Steckbrief herumgespukt haben. Ich hoffe, das ist alles trotzdem in deinem Sinne und dass ich dein Schnuckibärchen nicht allzu sehr verhunzt habe. ^^;
Kleine Erklärung, falls das nicht sofort ersichtlich geworden ist: Lorcán kann nicht sprechen und kommuniziert ausschließlich in Gebärdensprache. Wenn bei ihm etwas in Anführungszeichen und kursiv steht, dann bedeutet das, dass er es gebärdet hat. Ich nutze dafür als Referenz ASL, also American Sign Language, da es dafür einfach mehr Ressourcen gibt als für die deutsche.
Bisher hat er noch nicht so viel mit anderen gesprochen, aber dazu wird es später noch kommen, also nur noch mal zur Erinnerung. (8
Und Yolanda durfte hier von ihrer Persönlichkeit auch schon ein bisschen was zeigen! ;D
Das nächste Kapitel findet im Neunten Distrikt statt!
Wie immer vielen lieben Dank fürs Lesen und ich hoffe, es hat euch gefallen. <3
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