KAPITEL 42 ✶ Painkiller
Lorcán Perseus DeAvalon ⌠ Distrikt Fünf ⌡
Als Lorcán seine Augen öffnete, war es draußen bereits hell – oder zumindest so hell, wie es in den moosigen Nischen dieses Nebelmeeres werden konnte. Er erinnerte sich daran, gestern Abend sofort eingeschlafen zu sein, kaum dass sie einen halbwegs trockenen Unterschlupf gefunden hatten, doch aus irgendeinem Grund fühlte er sich trotzdem wie gerädert. Jacke und Pullover hatte er wie immer Yolanda überlassen, weshalb sein Rücken nun von dem harten Untergrund schmerzte, und auch das Pochen hinter seiner Stirn schien nur schlimmer zu werden, je länger er wach war.
Zumindest hatte er bis auf ein paar blaue Flecken keine ernsthaften Verletzungen vom gestrigen Kampf davongetragen. Es hätte ihn wahrscheinlich auch deutlich schlechter treffen können.
Wenn Perseus DeAvalon senior ihn jetzt sehen könnte, würde er wahrscheinlich beide Hände über dem Kopf zusammenschlagen ... wobei. Er konnte Lorcán ja tatsächlich sehen. Genauso wie jeder andere Bewohner Panems, der ein funktionierendes Fernsehgerät besaß. Der Gedanke allein ließ ihn frösteln und sorgte dafür, dass Lorcán sich aufsetzte, vielleicht ein klein wenig schneller, als seine Kopfschmerzen es ihm erlauben wollten. Er konnte sie spüren; die Blicke, jeden einzelnen von ihnen, wie Nadeln, die sich unter seine Haut bohrten.
Genauso wie sie es immer taten.
Jeder konnte ihn sehen, aber er selbst sah niemanden.
Lorcán zog eine Grimasse, rieb sich die Lider zwischen Daumen und Zeigefinger, und wartete darauf, dass das Hämmern hinter seiner Stirn sich wieder ein wenig beruhigte. Seine Hände fühlten sich steif an, kalt wie Eiswürfel, und es fiel ihm erschreckend schwer, sie zu bewegen.
Aber es nützte nichts, sich zu beschweren. Ändern konnte er an seiner Situation ohnehin nichts, und sein Großvater hatte ihm stets eingebläut, dass Nörgler es niemals zu etwas brachten. Wenn einem die eigene Situation nicht gefiel, dann musste man sie entweder ändern, was nur in den seltensten Fällen eine Option war, oder lernen, damit zu leben. Einen Mittelweg gab es nicht.
Ein guter Soldat führte jeden Befehl aus, mit dem er betraut wurde, und überließ das Denken seinem Vorgesetzten. So hatte jeder seine eigenen Pflichten zu erfüllen. Und dazu gehörte auch, dass man nicht unnötig herumjammerte.
Lorcán hatte diesen Pfad nie wirklich einschlagen wollen, wenn er jetzt so darüber nachdachte. Hauptsächlich deswegen, weil er nicht konnte. Weil sein zerbrechlicher Körper trotz Training keiner Musterung standhalten würde und sein Kreislauf bereits unter der kleinsten Abweichung litt.
Er hatte schon immer gewusst, dass er dem Wunsch seines Großvaters nicht folgen können würde, und er war ... irgendwie erleichtert darüber gewesen.
Eine Bürde weniger, die auf ihm lastete.
Zumindest hatte er das geglaubt, bis ihm klargeworden war, dass er dieses Defizit nun auf irgendeine andere Art ausgleichen musste.
Soldat oder nicht, Lorcán hatte nicht das Recht dazu, sich über seine aktuelle Situation zu beschweren. Nicht so lange es Menschen gab, die deutlich mehr darunter litten als er selbst!
Als seine Augen sich endlich einigermaßen an das graue Mittagslicht gewöhnt hatten, konnte Lorcán draußen vor ihrem Versteck eine Gestalt auf den Felsen hocken sehen. Der Schulterbreite nach zu urteilen handelte es sich um Lucas. Noch einmal streckte er seine schmerzenden Glieder aus, rieb sich die Ellenbogen, und rappelte sich schließlich so weit auf, dass er zu seinem Verbündeten herüberkriechen konnte.
Falls Lucas ihn bemerkt hatte, schien er es nicht für nötig zu halten, Lorcán zu begrüßen, oder ihm zumindest irgendein Zeichen der Kenntnisnahme zu schenken. Er saß einfach bloß da, die Beine zu einem Schneidersitz verknotet, und mit grimmer Miene auf den Topf starrend, den sie gestern Abend zum Regensammeln nach draußen gestellt hatten. Lucas' Shirt war dunkel und klamm vom Schweiß, seine Arme von Kratzern und Blutergüssen übersäht, und auch wenn seine Beine inzwischen wieder unter dem dicken Jeansstoff verborgen lagen, konnte Lorcán sich noch gut an die bläulich-violette Färbung erinnern. Sein Gang wies bereits ein deutliches Hinken auf.
Er selbst hatte seine Hand gestern Abend verbunden. Längst nicht so schnell und präzise, wie er es während des Trainings hinbekommen hatte, aber ordentlich genug, um die verbrannten Hautreste, die davon abgeblättert waren, keinem erhöhten Infektionsrisiko auszusetzen.
Die Mutation hatte ihn ganz schön übel zugerichtet.
Wirklich über die Sache geredet hatten sie bisher noch nicht. Sie alle waren erschöpft gewesen, durcheinander, und viel zu sehr damit beschäftigt, einen sicheren Schlafplatz zu finden. Auch die Tatsache, dass Lucas sie ja eigentlich hatte wegschicken wollen, war nicht noch einmal zur Sprache gekommen.
Die bandagierte Hand lag fest zur Faust geballt in seinem Schoß. Er brauchte die Worte nicht auszusprechen, damit Lorcán verstand, dass er jetzt lieber allein sein wollte. Aber das konnten sie sich im Augenblick einfach nicht leisten!
Vorsichtig streckte Lorcán seine eigene Hand aus, um Lucas' zu berühren, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, doch der andere zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und schüttelte ihn unsanft von sich.
»Mir geht's gut«, knurrte er wenig überzeugend und ohne Lorcán länger als eine Sekunde mit seinem Blick zu würdigen. »Mach dir um mich keine Sorgen, klar? Und schleich dich beim nächsten Mal nicht so an.«
Zwischen Lorcáns Brauen bildete sich eine tiefe Furche, ehe er sich schließlich zu einem knappen Nicken durchringen konnte. Offensichtlicher konnte eine Lüge wohl kaum sein, und auch wenn es ihm nicht gefiel, die Konversation noch länger herauszögern zu müssen, gab es im Augenblick tatsächlich Wichtigeres, worum sie sich kümmern sollten. Selbst wenn er bezweifelte, dass dies auch Lucas' Intention gewesen war.
Lorcán warf einen Blick ins Innere ihres Versteckes und wies mit einer auffordernden Kopfbewegung hinein. Auch Lucas folgte der Geste und seine Miene verhärtete sich abrupt. Mittlerweile hatte Lorcán nicht mehr das Gefühl, einem Siebzehnjährigen gegenüberzusitzen, sondern einem alten, verbitterten Greisen – was eventuell auch das Ziehen in seinem Magen erklären könnte, jedes Mal, wenn er ihn ansah. Doch selbst Lucas schien einzusehen, dass es keinen Zweck hatte, einsam weiterzubrüten, und folgte ihm mit einem schweren Seufzen zurück in die Nische.
Yolanda lag bis zum Kinn in Lucas' Schlafsack eingewickelt auf einem Bett aus Jacken und Pullovern, und atmete schwer, doch sie schien noch zu schlafen.
Obwohl sie sich in den letzten paar Tagen augenscheinlich erholt hatte, sah sie mittlerweile genauso fertig aus wie am ersten Abend, wenn nicht sogar noch schlimmer. Ihr Gesicht war so grau wie das einer Leiche, glänzte vor Schweiß, und war permanent von der Anstrengungen verzerrt. Aber das war noch gar nicht das Besorgniserregendste ...
Unter ihrem linken Auge waren ein paar auffällig dunkle Verfärbungen zu erkennen. Wie dicke, hervortretende Adern, die sich unter ihrer Haut wölbten, als würde sie etwas verstopfen oder ... als würde ihr Inneres sie vergiften.
Lorcán konnte spüren, wie sich ein Knoten in seinem Magen zu bilden begann, und wieder fand sein Blick den seines Partners, welcher mindestens genauso erschrocken aussah, wie er sich gerade fühlte. Normal war diese Entwicklung mit Sicherheit nicht! Irgendetwas musste über Nacht mit Yolanda passiert sein, sie hätten doch besser Wache halten und ein Auge auf sie werfen sollen, aber nach dem Kampf gegen diese Mutation waren sie einfach so verdammt müde gewesen ...
»Das sieht nicht gut aus«, fasste Lucas nach einer Weile endlich das Offensichtliche zusammen, und Lorcán hatte sich noch nie so sehr zusammenreißen müssen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sein Verbündeter streckte die unverletzte Hand nach Yolanda aus, hielt dann jedoch innere, ballte sie zur Faust, und ließ sie anschließend wieder sinken. »Scheiße. Wir ... ich denke, wir sollten ... ähm ...«
Bevor er noch weiter herumdrucksen konnte, entschloss Lorcán sich kurzerhand dazu, den unangenehmen Teil selbst zu übernehmen. Er schluckte den Kloß in seinem Hals entschieden herunter, und machte sich daran, den Reißverschluss des Schlafsackes so behutsam wie möglich zu öffnen.
Was sich ihnen unter dem dicken Isoliermaterial offenbarte, ließ ihm beinahe den Atem stocken – hauptsächlich wegen des Gestankes, der ihm entgegenwehte, und ihn unweigerlich würgen ließ.
Irgendetwas roch verdorben, mit einem Hauch von Süße, ein bisschen wie Obst, das man zu lange draußen in der Sonne hatte liegenlassen. Oder ...
Yolandas linker Arm, der zum Großteil unter einem klatschnassen Ärmel hervorschaute, war kaum noch als solcher wiederzuerkennen. Er wirkte sehr viel dünner als der Rest ihres Körpers, unproportional und geradezu ausgemergelt, als wäre sämtliches Fett zwischen ihren Muskeln einfach über Nacht geschmolzen, und auch hier traten ihre Adern und Knochen ungewöhnlich stark hervor. Man konnte jede einzelne davon bis hinauf zu ihrem Hals und schließlich in die entsprechende Gesichtshälfte hinein verfolgen. Ihre Haut war schwarz angelaufen, wirkte wie abgestorben, vertrocknet, und die oberste Schicht begann bereits abzublättern, während sich überall haarfeine Risse durch die Oberfläche zogen ... es mochte vielleicht ein merkwürdiger Vergleich sein, aber irgendwie erinnerte sie Lorcán an ein Stück Holzkohle.
Genauso wie die kranken Bäume, die sie gestern gesehen hatten.
»Die Mutation muss sie mit irgendetwas infiziert haben.« Wieder war es Lucas, der seine Gedanken in Worte fasste, nachdem er Yolandas Arm trotz des scheußlichen Gestankes näher unter die Lupe genommen hatte. »Diese Wunde ... vielleicht hat sich das ja irgendwie in ihr Blut gemischt?«
Lorcán gab es nur ungern zu, aber das klang gar nicht mal so unwahrscheinlich. Die Verletzung, die eine der Wurzeln gestern in ihrem Arm hinterlassen hatte, war noch immer mit Bandagen umwickelt, doch diese waren inzwischen völlig durchnässt und hingen regelrecht in Fetzen. Es war offensichtlich, dass die Infektion sich in der Nacht von diesem Punkt ausgebreitet hatte. Woher sollten sie überhaupt wissen, wie stark ihr Kreislauf bereits davon betroffen war? Womöglich mussten sie ihr den Arm sogar amputieren ... aber vielleicht war es dafür auch längst zu spät.
Allein die Vorstellung schnürte Lorcán den Atem ab, und er musste ein Stück Richtung Ausgang rücken, um dort frische Luft schnappen zu können. Ihm war speiübel und seine Gedanken schwammen regelrecht. Okay, keine Panik, er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Ganz sicher war es noch nicht zu spät, um Yolanda zu retten. Er musste bloß einen kühlen Kopf bewahren, und sein Ekel hatte an dieser Stelle ohnehin keinen Platz.
»Was sollen wir jetzt machen?«
Lucas sah nicht einmal zu ihm herüber. Versuchte dieser Kerl überhaupt, sich mit ihm zu verständigen, oder hoffte er einfach, dass er seine Gebärden so lange ignorieren konnte, bis er aufgab?!
Lorcán atmete tief durch, tippte ihm energisch auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und wiederholte seine Frage, diesmal darauf achtend, dass er sie möglichst langsam stellte. Seine faulen Ausreden konnte Lucas sich sonst wohin stecken, sie mussten die Sache jetzt verdammt noch mal klären!
»Yolanda braucht unsere Hilfe. Wir müssen irgendeinen Weg finden, um sie zu heilen, und das so schnell wie möglich! Hast du eine Idee?«
Diesmal schien Lucas ihm wenigstens zuzuhören, doch er sagte nichts, sondern runzelte lediglich die Stirn, fuhr sich durch die völlig zerzausten Locken, und zog die Beine erneut zu einem Schneidersitz an.
»Was ist mit eurem Mentor?«, schlug er letztendlich vor. »Du hattest beim Einzeltraining doch eine ziemlich gute Punktzahl, oder? Sponsoren stehen auf so was, hat unser Betreuer immer gemeint. Wenn du deine Leute direkt um Hilfe bittest, könntest du Glück haben, schließlich wäre es das erste Mal ... wobei das natürlich auch bedeuten könnte, dass ihr gar keine Sponsoren habt.« Lucas zog eine Grimasse, die ziemlich deutlich machte, welche der beiden Möglichkeiten er für wahrscheinlicher hielt. »Aber einen Versuch ist es wert, oder? Vielleicht hilft es ja schon, wenn du ein bisschen auf die Tränendrüse drückst. Du weißt schon, was ich meine ...«
Lorcán presste nervös die Lippen aufeinander, und obwohl ihm die Art, wie sein Partner den Vorschlag präsentierte, nicht gefiel, musste er doch zugeben, dass er recht hatte. Die Sponsoren, die Yolanda und er während der Vorbereitungszeit hoffentlich gesammelt hatten, waren im Augenblick ihre einzige Chance. Und außerdem war er seiner Distriktpartnerin noch immer etwas schuldig, nachdem sie bereits ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt hatte.
Also kroch Lorcán abermals aus ihrem Versteck hervor und kniete sich auf den Felsvorsprung, an dem er vorhin Lucas angetroffen hatte, beide Hände in seinem Schoß gefaltet, und den Blick gen Himmel gerichtet. Eine unendlich weite, aschfahle Leere starrte von oben auf ihn herab, wie das enttäuschte Gesicht eines Gottes, der seine Gebete bereits satt hatte, noch bevor sie überhaupt über seine Lippen gekommen waren.
Was für eine merkwürdige Vorstellung. Einfach ins Nichts hineinzubitten, und zu hoffen, dass irgendjemand sie erhören und ihnen helfen würde. Die meisten Menschen dort draußen interessierten sich doch überhaupt nicht dafür, was aus Yolanda wurde, sie wollten niemandem etwas Gutes tun, sondern lediglich eine aufregende Show geboten bekommen! Er konnte sich bloß an sie wenden, weil sie Geld hatten, massenhaft Geld, im Gegensatz zu ihnen ... oder im Gegensatz zu seinen Verbündeten.
Es war schon eine bittere Pille, dass das Vermögen seiner Familie hier drinnen auf einmal nichts mehr wert war. Daheim im Fünften Distrikt hatte er nie Hunger leiden müssen, das Anwesen der DeAvalons war größer als so mancher Wohnblock im Arbeiterviertel, und Medikamente oder Privatärzte waren nie ein Problem für sie gewesen.
Und jetzt sollte er auf einmal betteln?
Sein Großvater schämte sich in diesem Moment sicher in Grund und Boden.
Wie begann man überhaupt so eine ... Fürbitte?
Im Grunde genommen war es ja nichts anderes als das, oder? Ein verzweifeltes Schäfchen trug sein Leiden irgendeiner allmächtigen Entität jenseits der Nebelwand vor, von der es noch nicht einmal wusste, ob sie überhaupt existierte, und hoffte, dass diese genügend Mitleid mit ihm haben würde, um sich seiner zu erbarmen.
Tatsächlich fühlte es sich etwas weniger demütigend an, wenn er es sich einfach als Gebet vorstellte.
Lorcán schluckte sein Zögern herunter, knetete seine steifen Finger ein paarmal durch, und hoffte von ganzem Herzen, dass seine Worte irgendetwas in diesen Menschen berühren würden.
»Fermio, wenn du das hier siehst, dann versteh bitte, dass wir ... nein, dass Yolanda dringend deine Hilfe braucht. Du hast gesehen, wie krank sie ist, und ich bin wirklich nicht naiv genug, um zu hoffen, dass sie hier draußen einfach von allein wieder gesund wird. Sie hat Schmerzen, Fermio. Und das schon so lange. Vom ersten Tag an hat sie einen Schlag nach dem anderen einstecken müssen, ist für uns in die Bresche gesprungen, ganz egal, in welche Gefahr sie sich auch begeben musste, und jetzt ... jetzt ist es endlich an der Zeit, dass wir ihre Loyalität erwidern.«
Lorcán konnte spüren, wie seine Hände allmählich auftauten, je mehr er mit ihnen sprach, und mit der Kälte schmolzen auch seine Hemmungen dahin.
»Ohne Yolanda wären Lucas und ich nicht mehr am Leben. Sie war immer für uns da, wenn wir Hilfe gebraucht haben, und sie verdient es ebenso, dass wir uns um sie kümmern. Einfach tatenlos dabei zusehen zu müssen, wie sie sich quält, ist für mich unerträglich, und wenn sie jetzt sterben würde, dann ... dann könnte ich mir das niemals verzeihen. Also bitte ich dich, wer auch immer das hier sieht: bitte lass mich ihr helfen. Bitte gib mir eine Chance, ihr Leben zu retten, so wie sie meines gerettet hat. Yolanda verdient es, weiterkämpfen zu dürfen. Sie verdient es, zu ihrer Familie zurückkehren zu können. Sie verdient es, zu gewinnen.«
Die letzten Worte flossen einfach aus seinen Gesten heraus, noch bevor Lorcán so richtig über sie hatte nachdenken können. Er bereute sie weder, noch war es eine Lüge gewesen. Seine Entscheidung diesbezüglich hatte er längst getroffen, also konnte er sie jetzt auch offen zugeben.
Der argwöhnische Blick, den Lucas ihm von der Seite aus zuwarf, bestätigte seine Befürchtung nur, doch das war ihm egal. Wahrscheinlich hatte er die Hälfte von dem, was Lorcán soeben gebärdet hatte, noch nicht einmal verstanden.
Ein paar unendlich zähe Sekunden lang war es vollkommen still im Wald. Beinahe unnatürlich still. Als hätten die Spielmacher sämtliche Hintergrundgeräusche buchstäblich ausgeschaltet, um den Fokus noch stärker auf Lorcáns Appell zu rücken, aber vielleicht bildete er sich das in seiner Nervosität auch bloß ein. Seine Kehle fühlte sich trocken an, und der Knoten in seinem Magen zog sich immer enger zusammen ... bis dann endlich die erlösende Melodie ertönte.
Ein Fallschirm war auf dem Weg zu ihnen.
Wie aus dem Nichts hatte er sich aus dem ebenso silbrig schimmernden Nebel herausmaterialisiert und segelte nun wie ein Herbstblatt zu Boden, wo Lorcán ihn auffangen und das Paket mit vor Aufregung zitternden Händen auspacken konnte. Es war weder besonders groß, noch besonders schwer, aber so viel wog eine Packung Tabletten schließlich auch nicht, oder?
Lorcáns Herz machte einen regelrechten Sprung in seiner Brust, als er im Innern der Verpackung tatsächlich ein kleines, braunes Medikamentfläschchen vorfand, ebenso wie einen leeren Notizblock samt Stift, und einen zusammengefalteten Zettel.
Ich wünschte, ich könnte mehr für euch tun, aber das ist leider alles, was ich zusammenbekommen habe. Auf diese Weise kannst du ihr die verbleibende Zeit zumindest etwas angenehmer gestalten.
Es tut mir wirklich leid.
– Fermio
Lorcán konnte den letzten Funken Hoffnung in seinem Innern buchstäblich zerspringen spüren, als er das Fläschchen aufhob und einen Blick auf das Etikett warf. Es war ein starkes, flüssiges Analgetikum.
Kein Gegengift. Keine Heilung.
Nur Schmerzmittel.
Das ... das konnte er nicht akzeptieren. Das war einfach nicht fair! Yolanda brauchte diese Medizin, verdammt noch mal, Fermio konnte ihm doch nicht ernsthaft weismachen wollen, dass kein einziger von diesen stinkreichen Mistkerlen sich dazu erbarmen wollte, einem todkranken Mädchen das Leben zu retten! Was für die meisten Distriktbewohner eine unvorstellbare Summe war, stellte für diese Leute doch kaum einen Bruchteil ihres Vermögens dar, wahrscheinlich würden sie noch nicht einmal bemerken, wenn etwas davon fehlte.
Alles, was sie tun müssten, wäre sich von ihrem Sofa aufzuraffen und einen einzigen Anruf zu tätigen. Wobei es im Kapitol wahrscheinlich sogar Möglichkeiten gab, gleich im Liegen eine Zahlung abzuwickeln.
Yolanda hätte es getan. Tausendmal und noch öfter, sie half ja jetzt schon jedem, dem sie über den Weg lief, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit zu nehmen. Sie verdiente all diese Reichtümer eine Million mal mehr als das verfluchte Kapitol!
Lorcán sprang auf, pfefferte das Paket so energisch vor sich auf den Boden, dass das Fläschchen gefährlich klirrte, und schlug mit der Faust gegen die Felswand hinter ihm. Das Brennen seiner aufgeschürften Knöchel ignorierte er verbissen, sein Inneres schien regelrecht zu glühen, und seine Kehle war wie zugeschnürt, doch selbst das konnte den Zorn, der gerade unter seiner sichtbar geröteten Haut schwelte, nicht abkühlen.
Sein Großvater hatte sich als Junge freiwillig für diese Spiele gemeldet. Er und noch tausend andere Jugendliche aus dem Zweiten Distrikt, früher ebenso wie heute, und Malorie und Kane waren noch immer irgendwo da draußen, vereinten in sich dieselben Träume, dieselben Ideale, und dasselbe Training, dem sich auch Perseus senior seinerzeit unterzogen hatte.
Er hatte immer gewollt, dass Lorcán genauso wurde wie er. Sogar seinen Namen hatte er ihm anvertraut.
Aber er hatte versagt.
Hätte er sich jemals verzeihen können, wenn er freiwillig in diese Arena gegangen wäre, im vollen Bewusstsein, dass er hier töten und vielleicht sogar sterben würde? Dass er anderen das Leben nahm, nicht aus Furcht oder Notwendigkeit, sondern einfach bloß, weil ihn jemand dazu aufgefordert hatte?
Nein.
Er konnte es ja kaum ertragen, dabei zusehen zu müssen, wie der Körper seiner Freundin langsam verfaulte.
Ein Soldat durfte sich nicht beschweren und musste jedem Befehl seines Vorgesetzten gehorchen – aber woher wusste er überhaupt, auf welcher Seite sein Anführer stand? Er könnte sein Leben lang einem Tyrannen dienen, Körper und Geist einer Lüge verschrieben haben, der Unterdrückung Unschuldiger, und er würde es niemals erfahren, weil er niemals nachfragte.
Er hatte gar nicht erst nachfragen müssen. Es geschah doch direkt vor seinen Augen!
Nichts davon war eine Entschuldigung.
›Unwissenheit schützt vor Strafe nicht‹, hatte sein Großvater immer zu sagen gepflegt. Hauptsächlich dann, wenn Lorcán wieder irgendwelche Trainingseinheiten verpasst oder sie im Fernsehen von gescheiterten Rebellenaufständen berichtet hatten. Dabei müsste das doch ebenso für ihn selbst gelten.
Es müsste für alle gelten.
Wer im Kapitol lebte, der brauchte niemals zu fürchten, dass die eigenen Kinder in den Spielen ihr Leben ließen. Diese Menschen wussten nicht, was es bedeutete, andere über sich selbst zu stellen, oder hilflos dabei zusehen zu müssen, wie ein Freund um den letzten Atemzug kämpfte. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, jemanden die ganze Nacht lang in seinen Armen zu halten, und nur noch hoffen zu können, dass die Erschöpfung sie irgendwann endlich einschlafen lassen würde.
Wer im Kapitol lebte, den ging nichts hiervon wirklich etwas an.
Sie konnten etwas spenden oder nicht. Für sie machte es keinen Unterschied.
Und Lorcán war genauso gewesen wie sie. Er hatte seine Augen vor dem verschlossen, was er nicht hatte sehen wollen, und einfach nicht darüber nachzudenken versucht.
Ignoranz schützt vor Strafe nicht.
Aber wieso ... wieso musste jetzt ausgerechnet Yolanda für seine Feigheit büßen?!
»Komm schon«, riss Lucas' Stimme ihn so abrupt wieder aus seinen Gedanken, dass Lorcán sich beinahe an seinem eigenen Atem verschluckt hätte. Hastig fuhr er zu seinem Partner herum, als dieser gerade dabei war, das Medikamentfläschchen vom Boden aufzuheben. Seine Miene wirkte schon wieder so kalt. Auch wenn es diesmal eher nach Resignation, als nach Gleichgültigkeit aussah. »Sehen wir zu, dass sie ihre Schmerzmittel bekommt.«
Unweigerlich ballte Lorcán seine Hände zu Fäusten, doch etwas anderes als zu nicken blieb ihm wohl kaum übrig. Ein Teil von ihm wollte viel lieber weiter hier draußen auf und ab laufen und an der Umgebung seinen Frust auslassen, aber ihm war auch klar, dass Yolanda davon nicht wieder gesund werden würde. Sie mussten die Sache Schritt für Schritt angehen. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben!
Als die beiden in ihr Versteck zurückkehrten, war ihre Verbündete bereits wach. Ihr Atem glich noch immer einem Röcheln, und sie schien sich kaum vom Fleck bewegt zu haben, doch als sie die Jungs hereinkommen sah, schaffte sie es tatsächlich, sich ein kleines Lächeln abzuringen.
»Hey«, krächzte sie mit einer Stimme, die Lorcán im wahrsten Sinne des Wortes einen Schauer über den Rücken jagte, und unheimlich von den Felswänden widerhallte. »Und ich dachte schon fast ... ihr wärt ... abgehauen oder so.«
Auch wenn Lorcán nur mutmaßen konnte, dass dies ein Scherz gewesen sein sollte, lächelte er zurück, als er sich neben sie kniete, und mit ganzer Kraft versuchte, nicht auf ihren nekrotischen Arm zu starren.
»Wie geht es dir?«
Yolanda zog eine gequälte Grimasse und gab ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus einem Räuspern und einem missglückten Husten klang. Er konnte es beinahe an seinen eigenen Rachenwänden kratzen spüren.
»Ganz ehrlich? Ziemlich ... ziemlich beschissen.« Es war das erste Mal, dass sie diese mehr als offensichtliche Tatsache selbst zugab. Eigentlich war das doch ein gutes Zeichen, oder? Sie wollte sich helfen lassen. Sie vertraute ihnen.
»Hast du Schmerzen? Können wir irgendetwas für dich tun?«
»Na ja, also ... es geht eigentlich.« Und da war auch schon die nächste Lüge. Manche Dinge änderten sich wohl nie. Aber vielleicht mussten sie ihr auch bloß ein wenig Zeit lassen. »Es ist nur, na ja ... irgendwie kann ich meine Arme nicht mehr bewegen? Der mit den blauen Flecken tut immer noch weh, aber der andere ... den spür ich eigentlich gar nicht richtig. Vielleicht hab ich heute Nacht irgendwie blöd drauf gelegen oder so.«
»Das wird es sein«, bestätigte Lucas wie aus dem Nichts, bevor Lorcán auch nur über eine Antwort nachdenken konnte. Er warf ihm einen raschen, aber eindeutig vorwurfsvollen Blick zu, doch sein Verbündeter ignorierte ihn wie immer geflissentlich. »Versuch einfach, dich nicht allzu sehr anzustrengen, dann ist das mit Sicherheit in ein paar Stunden verflogen.«
Was zur Hölle sollte das?! Wenn Yolanda ihren Arm nicht mehr spürte, dann war das ein verdammt großes Problem! Wobei das wahrscheinlich kein Wunder war, so hoffnungslos abgestorben wie dieser aussah, und wenn er ihr zumindest keine Schmerzen bereitete ... aber trotzdem. Hatte Yolanda kein Recht darauf, zu erfahren, wie es um sie stand? Wahrscheinlich würde sie das nur unnötig in Panik versetzen. Es reichte doch eigentlich aus, wenn Lucas und er sich darüber den Kopf zerbrachen.
»Du hast wahrscheinlich ziemlichen Durst, oder?«, fuhr Lucas fort, während er den vollen Wassertopf vor sich abstellte, und Yolanda verzog abermals das Gesicht.
»Könnte man so sagen ... ich glaub, ich vertrockne gleich.« Ihre Wortwahl ließ Lorcán sichtlich zusammenzucken, und er konnte bloß hoffen, dass sie davon nichts mitbekommen hatte.
Yolanda versuchte sich ein Stück weit aufzurichten, als Lucas den Topf an ihre Lippen führte, woraufhin Lorcán ohne mit der Wimper zu zucken aufsprang.
»Warte, lass mich dir helfen!«
Er rutschte weiter zu ihrem Kopfende herüber, und hob mit beiden Händen ihren Kopf an, um ihn ganz behutsam auf seinem Schoß abzulegen. Auf diese Weise lief sie zumindest weniger Gefahr, sich zu verschlucken oder die Hälfte des Wassers über ihrer Brust zu vergießen.
Yolanda fühlte sich so furchtbar zerbrechlich an. Wie ein Vogelei, unter dessen Schale sich gerade verzweifelt ein Küken hervorzukämpfen versuchte, sein Lebenswille eisern, und doch reichte bereits die kleinste Vibration aus, um sein zartes Genick zu brechen.
Sie trank ganz langsam, Schluck für Schluck für Schluck, und sie musste immer wieder eine Pause einlegen, um nach Atem zu schnappen, bevor irgendwann ein leises, aber doch unangenehmes Geräusch Lorcáns Aufmerksamkeit erregte. Ein sachtes, kaum hörbares Knacken. Wie ein Stück Kreide, das in der Mitte durchbrach.
Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass es Yolandas kleiner Finger gewesen war, der sich von ihrer Hand abgelöst hatte.
Er lag einfach neben ihr im Schlafsack. Kein Blut, keine Schmerzen, kein gar nichts. Yolanda schien es noch nicht einmal bemerkt zu haben. Und wenn man es nicht besser wusste, dann könnte man glatt meinen, es würde sich bei dem schwarzen Bröckchen um ein Stück Kohle handeln.
Nicht mehr lange, und der Rest ihrer Hand würde folgen.
Lorcán versuchte den Gedanken sofort zu vertreiben, kaum dass er sich in seinem Kopf gebildet hatte, doch er konnte nicht aufhören, wie in Trance auf den abgebrochenen Finger zu starren. Lucas war noch immer damit beschäftigt, Yolanda ihr Wasser zu geben, aber möglicherweise tat er auch bloß so, als hätte er es nicht mitbekommen.
Vielleicht hatte Fermio recht gehabt. Vielleicht war Yolanda wirklich nicht mehr zu retten. Ihr Arm schien kaum noch aus lebendigem Gewebe zu bestehen, er fiel ja buchstäblich auseinander, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Rest ihres Körpers von dieser Krankheit zersetzt wurde. Wenn sie Glück hatte, würde sie schon nichts mehr spüren, bevor es endgültig so weit war ...
Scheiße, nein, über so etwas durfte er überhaupt nicht nachdenken! Es war noch nicht zu spät. Es durfte nicht zu spät sein! Lorcán musste alles versuchen, ganz gleich, wie aussichtslos die Lage auch scheinen mochte, er durfte nicht aufgeben, das war er ihr verdammt noch mal schuldig!
Yolanda keuchte wie nach einem Marathonlauf, nachdem Lucas den leeren Topf endlich weggestellt hatte, und Lorcán runzelte nachdenklich die Stirn. Das waren sicher an die zwei Liter Wasser gewesen. Ein paar einzelne Tropfen rannen noch immer ihr Kinn herunter, und sickerten in das weiche Innenfutter des Schlafsackes. Lorcán konnte nicht anders, als mit dem Daumen sanft an ihrem Kiefer entlangzufahren, und die Tropfen fortzuwischen.
»Besser?«, fragte Lucas mit merkwürdig hohler Stimme, ohne ihren Blick dabei auch nur eine Sekunde lang fallenzulassen. Er starrte sie regelrecht nieder. Wahrscheinlich versuchte er auf dieser Weise, die verdorrte schwarze Masse in seinem Augenwinkel auszublenden.
Yolanda schien einen Moment lang über ihre Antwort nachzudenken, öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch unverrichteter Dinge wieder.
»Ich ... ich weiß nicht«, gestand sie letztendlich, ihre Worte noch immer hörbar aufgeraut. »Irgendwie hab ich noch immer Durst. Ich fühl mich so ... ausgetrocknet.«
»Kein Wunder, du hast diese Nacht auch ziemlich stark geschwitzt«, erwiderte Lucas ohne auch nur ansatzweise rot zu werden. »Da wirst du sicher einiges an Flüssigkeit verloren haben. Aber ich fürchte, mehr Wasser haben wir leider nicht.«
Er stieß ein trostloses Seufzen aus, ließ die Schultern hängen, und zog letztendlich doch das Fläschchen aus seiner Tasche. Kurz meinte Lorcán, etwas in seinen Augen aufblitzen zu sehen, als er sich das Etikett durchlas, ein flüchtiges Zucken seiner Braue, ein Verschmälern der Lippen, doch keine Sekunde später war es auch schon wieder verschwunden. Er schraubte den Deckel ab und roch probehalber am Inhalt.
Das blieb auch Yolanda nicht verborgen. Lorcán konnte spüren, wie sie in seinem Schoß ihren Hals zu recken versuchte, um die Flasche besser erkennen zu können.
»Was ist das?«
»Schmerzmittel. Wir haben noch etwas davon im Erste-Hilfe-Koffer gefunden, und dachten uns, vielleicht kannst du das gerade ganz gut gebrauchen.«
Lorcán wusste noch immer nicht, was er von dieser Lügerei halten sollte. Es kam ihm einfach nicht richtig vor. Eigentlich verdiente Yolanda es doch, die Wahrheit über ihren Zustand zu erfahren, oder? Schließlich war es ihr Leben, das in Gefahr schwebte. Aber wenn sie sich zu sehr stresste, könnte das alles nur noch weiter verschlimmern ...
Wieder zuckte ein Lächeln über ihre Lippen. »Na, so ein Zufall aber auch.«
»Wenn du es nicht willst, brauchst du es nur zu sagen.«
»Nein, ich ... ich dachte nur, vielleicht brauchen wir später noch was davon, man kann ja nie wissen, was noch so passiert ...«
»Du hast jetzt Schmerzen, oder? Und dafür ist das Zeug schließlich da. Ganz ehrlich, Yolanda, du hast dich wirklich lange genug gequält.«
Dagegen konnte nicht einmal das tapferste Mädchen, das Lorcán jemals kennengelernt hatte, etwas einwenden.
Wieder setzte Lucas die Flasche an ihre Lippen, wobei er sicherstellte, dass sie kleine Schlucke nahm und keinen Tropfen des kostbaren Medikaments verschwendete. Sein Blick war die ganze Zeit über fest mit ihrem verhakt, doch es war Lorcán, der ihr Kinn anheben und es mit seinen eigenen Händen stützen musste.
»So ist es gut. Trink alles aus, sonst spürst du die Wirkung nicht.«
Sie hatte die Flasche kaum geleert, da begann ihr Atem auch schon deutlich ruhiger zu werden und ihr Nacken entspannte sich spürbar. Es war beinahe unheimlich, wie schnell das Mittel wirkte. War so etwas überhaupt möglich? Für das Kapitol offenbar schon.
Lorcán wagte sich kaum vorzustellen, was ein einfacher Arbeiter aus dem Fünften Distrikt wohl für ein Fläschchen von diesem Wundermittel hergeben müsste. Ganz zu schweigen von dem tatsächlichen Heilmittel gegen diese Krankheit.
Man könnte glatt darüber lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre.
Es dauerte keine Minute, bis die schmerzstillende Wirkung sich auch im Rest von Yolandas Körper ausgebreitet hatte und sie ein langes, erleichtertes Seufzen ausstieß. Selbst Lorcán spürte den Effekt. Jetzt, wo ihr Gesicht nicht mehr von all der Anstrengung verzerrt war, konnte man auch erkennen, wie erschöpft sie in Wirklichkeit war. Selbst die Augen offenzuhalten schien ihr schwerzufallen.
»Es tut mir leid.«
Lorcán blinzelte irritiert, blickte sich um, und realisierte erst dann, dass Yolanda die Worte nicht an ihn, sondern an Lucas gerichtet hatte. Sogar der Angesprochene selbst schien nicht so recht zu verstehen, was sie ihm damit sagen wollte.
»Was ... was tut dir leid?«
»Dass wir uns gestern gestritten haben. Und dass ich dir vorgeworfen hab, dass du uns verlassen willst. Ich ... ich hab einfach überreagiert, schätze ich.« Sie presste die Lippen aufeinander und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Du versuchst ja auch nur irgendwie voranzukommen. Wahrscheinlich ist es wirklich meine Schuld gewesen, dass sie die Mutation auf uns gehetzt haben ... und das nur, weil ich mal wieder meine Klappe nicht halten konnte. Scheiße, ich hab doch nicht gewollt, dass irgendjemand verletzt wird! Ich bin euch ja schon vorher zur Last gefallen, aber jetzt ... jetzt kann ich's dir erst recht nicht mehr übelnehmen, dass du mich loswerden wolltest.«
Das dumpfe Geräusch von Lorcáns Faust, die gegen den Felsboden schlug, sorgte dafür, dass die beiden zusammenzuckten und sich beinahe erschrocken zu ihm umwandten. Die Gefühle, die gerade in seiner Brust aufkochten, brannten so scharf, dass er sich wirklich zusammenreißen musste, um nicht einfach aufzuspringen, und Yolandas Kopf damit auf den harten Untergrund fallenzulassen, doch er spürte die Hitze bis in seine Zehenspitzen hinein.
Das konnte sie doch unmöglich ernst meinen!
»Du entschuldigst dich? Bei ihm?!« Lorcáns Finger bebten geradezu, ebenso wie seine Lippen. »Nachdem er dich die ganze Zeit über wie ein Kollateralschaden behandelt hat, und nachdem er dir ins Gesicht gesagt hat, dass er glücklicher wäre, wenn du endlich gehen würdest? Bei diesem Typen entschuldigst du dich?! Wofür? Verdammt noch mal, er wollte doch selber abhauen, als diese Mutation uns angegriffen hat! Wenn überhaupt ist er derjenige, der sich bei dir entschuldigen sollte!«
Sowohl Yolanda, als auch Lucas starrten ihn nach dieser Ansprache nur fassungslos an, doch diesmal war Lorcán sich sicher, dass sie ihn beide verstanden hatten. Es gab einfach Dinge, die sich über jede Sprachbarriere hinwegsetzten. Er schüttelte den Kopf, schnaubte, und beugte sich zu Yolanda herunter, um sich direkt an sie zu wenden.
»Du bist nicht nutzlos, okay? Ganz im Gegenteil. Du hast mir das Leben gerettet, und das ist etwas, was ich dir niemals zurückzahlen können werde, ganz egal, wie sehr ich mich auch bemühe. Selbst Lucas wolltest du helfen, trotz der Art, wie er dich behandelt hat, und das obwohl dir niemand, wirklich niemand einen Vorwurf gemacht hätte, wenn du nur dieses eine Mal versucht hättest, dich selbst zu retten! Du bist unglaublich, Yolanda. Als Verbündete, als Kameradin, als Freundin. Und du bist ein verdammt noch mal besserer Mensch als wir alle zusammen!«
Sein Kopf schoss nach oben, um diesmal den Sechser mit seinen Blicken zu durchbohren, der Vorwurf darin brannte regelrecht unter seinen Lidern, doch Lucas knirschte bloß weiter schweigend mit den Zähnen und zog die Brauen zusammen, als ginge ihn das alles hier überhaupt nichts an.
Hatte er wirklich ernsthaft vorgehabt, ihre Entschuldigung einfach so hinzunehmen?
Besaß er denn noch nicht einmal den nötigen Anstand, um ihr zu antworten?!
»Ist schon gut, Lorcán.«
Yolandas Stimme jagte ihm einen Schauer über den Rücken, so müde und schwächlich war sie inzwischen, ihre Worte kaum mehr als ein Flüstern in der Kälte, und auch wenn der Klang seine Wut tatsächlich ein wenig abzukühlen vermochte, tat es weh, sie so zu hören. Yolanda war niemand, der sich die Dinge einfach so gefallen ließ. Der klein beigab und sich entschuldigte, obwohl er überhaupt nichts getan hatte, der Diskussionen aus dem Weg ging, und der vor allen Dingen Lucas das Feld überließ. Das hier passte einfach nicht zu ihr!
Dieses seltsam beschwichtigende Lächeln, das sie ihm schenkte, als er abermals zu ihr herabblickte, fühlte sich nicht ehrlich an. Das Schlimmste daran war jedoch, dass sie genau wusste, dass er es wusste.
Und sie hoffte, dass er mitspielen würde.
»Lasst uns nicht weiter darüber streiten, okay? Das bringt doch alles nichts ... und außerdem finde ich auch, dass du ein bisschen übertreibst. Wir sind doch Freunde, oder etwa nicht? Da hilft man sich eben gegenseitig. Das ist was ganz Normales.«
Lorcán wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
In einer perfekten Welt vielleicht, in der jeder seine Versprechen hielt und niemand jemals zurückgelassen wurde, weil alle sich umeinander kümmerten, aber ... in so einer Welt lebten sie nun mal nicht! Wollte Yolanda das nicht einsehen?
Oder war sie einfach so beschäftigt damit, eine solche Welt zu erschaffen, dass sie sich weigerte, so wie er den Kopf hängenzulassen?
Yolanda holte tief Luft und blinzelte, als würden Betongewichte an ihren Lidern hängen. »Hey, ich glaub, ich ... ich würd jetzt gerne noch ein bisschen schlafen.«
Lorcán nickte und zog den Reißverschluss ihres Schlafsackes wieder etwas nach oben. Er war sich selbst nicht ganz sicher, ob es nicht klüger wäre, frische Luft an ihre Wunden zu lassen, statt ihre Körperwärme zu speichern, doch er entschied sich für Letzteres. Im Moment sollten sie sich hauptsächlich darauf konzentrieren, die Infektion zu bekämpfen. Vielleicht konnten sie auf diese Weise ja sogar ein Fieber provozieren?
»Das klingt nach einer guten Idee«, meldete sich jetzt auch Lucas wieder zu Wort, das vorherige Thema offenbar nur zu gern in den Hintergrund rückend, und Lorcáns Blut begann abermals zu kochen, doch diesmal hielt er sich zurück. Es war Yolandas Wunsch gewesen, und er wollte sich auch nicht in ihrem Namen mit ihm anlegen.
Dazu würden sie noch genügend Zeit haben, nachdem sie wieder einigermaßen klar denken konnte.
»Du hast gestern echt einiges abbekommen. Ich bin sicher, ein bisschen Ruhe wird dir gut tun.«
Zum ersten Mal, seit Lorcán ihn kannte, erschien so etwas wie ein Lächeln auf Lucas' sonst so steinerner Miene. Es wirkte noch immer angespannt, aber zumindest bedeutete das, dass er sich Mühe gab, oder? Vielleicht war das ja einfach seine Art, sich zu entschuldigen.
Yolanda nickte müde und legte den Kopf auf die Seite.
»Danke, Jungs«, murmelte sie kaum hörbar und es klang fast so, als hätte das Aussprechen dieser Worte ihr eine enorme Last von den Schultern genommen. »Auch wenn ihr das vielleicht anders seht ... aber ich bin echt froh, euch beide hier getroffen zu haben.«
Niemand erwiderte etwas darauf. Lucas vermutlich nicht, weil er wusste, dass er sich mit einer weiteren Lüge nur noch tiefer in die Scheiße reiten würde, und irgendwo vielleicht doch so etwas wie ein Gewissen besaß, und Lorcán nicht, weil sie seine Antwort jetzt ohnehin nicht mehr sehen konnte.
Dabei hätte er ihr gern gesagt, dass er genauso fühlte.
Es verging kaum eine Minute, da war Yolanda, zumindest dem Klang ihres Atems nach zu urteilen, eingeschlafen. Sowohl die Wirkung ihrer Medikamente, als auch die Tatsache, dass sie in letzter Zeit so ziemlich jede Nacht wach gelegen hatte, mussten dafür gesorgt haben, dass ihr Körper endlich in den wohlverdienten Ruhezustand wechseln konnte.
Lorcán jedoch spürte von dieser Ruhe nicht das Geringste.
Erneut fixierten seine Blicke Lucas, der ihn ebenfalls ansah, doch sämtliches Mitgefühl, das er eben noch auf seinen Zügen zu erkennen geglaubt hatte, war endgültig verschwunden. Seine Miene wirkte schon wieder so ... kalt. Trotzig, ja beinahe genervt. Als hätte er die ganze Unterhaltung schon wieder völlig vergessen.
Als wollte er alles vergessen.
Doch das würde Lorcán ihm nicht durchgehen lassen.
Lucas öffnete den Mund, doch Lorcán schüttelte bloß energisch den Kopf, bevor er überhaupt zu einer Erklärung ansetzen konnte, während er mit der freien Hand nach dem Notizblock wühlte, den Fermio ihnen geschickt hatte. All die Dinge, die er seinem Verbündeten gerade am liebsten ins Ohr brüllen wollte, haarklein aufzuschreiben, statt es ihm einfach ins Gesicht zu gebärden, ging ihm zwar gewaltig gegen den Strich, aber diesmal durfte er ihm auf gar keinen Fall irgendwelchen Interpretationsfreiraum lassen.
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.
Er klickte den Kugelschreiber ein paarmal, krallte seine Finger um den kleinen Block, und begann zu schreiben.
»Was zur Hölle ist eigentlich falsch mit dir?!«
Kaum hatte Lucas die Frage zu Ende gelesen, riss Lorcán den Zettel auch schon wieder ab, zerknüllte ihn, und warf ihn seinem Gegenüber im wahrsten Sinne des Wortes an den Kopf, ehe er weiter kritzelte.
»Wie kannst du nach alldem einfach zulassen, dass sie sich bei dir entschuldigt?! Du wolltest uns doch von Anfang an loswerden! Das hast du selbst gesagt, und als die Mutation uns den Weg versperrt hat, hast du dich nicht mal nach uns umgesehen! Dir ist scheißegal gewesen, was aus uns wird. Hätte der Baum dich nicht als Ersten erwischt, wärst du längst über alle Berge gewesen! Dann wären Yolanda und ich jetzt tot. Oder zumindest einer von uns.«
»Lorcán, das ist doch lächerlich-«, begann Lucas irgendwann, wahrscheinlich zu ungeduldig, um jetzt auch noch auf seine Standpauke zu warten, doch dieser hob warnend eine Hand in seine Richtung, ohne auch nur von seinem Zettel aufzublicken.
»Und sie wusste das! Sie hat es doch gesehen! Sie war auch wütend, und trotzdem hat sie versucht, dir deinen undankbaren Arsch zu retten! Bist du überhaupt noch dazu fähig, dich zu schämen, oder hat dir dein beschissener Egoismus inzwischen vollkommen das Hirn vernebelt?!«
Nun war es Überraschung, welche die abweisende Kälte von Lucas' Zügen vertrieb, Unverständnis, wenn nicht sogar ein Hauch von Betroffenheit, und für einen kurzen Moment verspürte Lorcán beinahe so etwas wie Genugtuung. Wieder öffnete Lucas den Mund, als wollte er etwas erwidern, schien es sich jedoch anders zu überlegen, schüttelte den Kopf, und begann von vorn.
»Und warum soll das jetzt meine Schuld sein?«
Die Worte trafen Lorcán wie ein Schlag in die Magengrube. Und Lucas' Augen wichen zu keiner Sekunde von seinen.
»Was kann ich denn bitte dafür, wenn sie sich dazu entscheidet, mir zu helfen, statt sich selbst in Sicherheit zu bringen? Ich hätte es doch verstanden, wenn sie abgehauen wäre, ich meine, ich ... ich hätte höchstwahrscheinlich dasselbe getan. So läuft das nun mal in den Hungerspielen. Am Ende ist jeder nur für sich selbst verantwortlich. Und wenn ihr beide damit nicht klarkommt, entschuldige, aber dann kann ich euch auch nicht weiter-«
»Ist das so?«
»Was?«
»Hättest du es verstanden?« Lorcáns Hand bebte vor Erregung, und so auch seine Schrift. »Wärst du mit diesem Gedanken gestorben? Hättest du einfach mit den Schultern gezuckt, und dich damit abgefunden, dass ihr wohl nicht genug an dir liegt, um wenigstens zu versuchen, dir zu helfen? Hättest du deinen Tod in diesem Moment akzeptiert? Willst du mir das wirklich allen Ernstes weismachen, Lucas?«
Ein frustriertes Schnauben entkam seinem Gegenüber, als er wieder einmal nach Worten rang, doch Lorcán war noch nicht fertig.
»Selbst wenn du wirklich weiter daran festhalten willst ... Yolanda hat versucht, dir zu helfen, und damit schuldest du ihr etwas. Ein Gefallen für einen Gefallen. Ist das nicht ebenso das ›Gesetz der Hungerspiele‹ wie die Selbsterhaltung, an die du dich so sehr klammerst? Oder pickst du dir immer nur die Regeln heraus, die dir am besten in den Kram passen?«
»Ich muss mir das nicht weiter durchlesen-«
Lucas machte schon wieder Anstalten, einfach aufzustehen und zu gehen, und Lorcán schlug erneut mit der Faust auf den Boden, während er mit der anderen Hand eine weitere Papierkugel in seine Richtung pfefferte. Er hatte es so verdammt satt, dass dieser Typ ihm andauernd aus dem Weg zu gehen versuchte!
Lucas würde ihm zuhören. Und wenn er ihn am Ende dazu zwingen musste.
»Wieso weigerst du dich so vehement dagegen, eine Lösung zu finden? Ich werde dir sagen warum. Du hast Yolanda nämlich schon längst aufgegeben. Und zwar weil du schlicht und ergreifend keinen Bock darauf hast, Verantwortung zu übernehmen. Das hier ist deine gottverdammte Pflicht als Verbündeter, Lucas! Hast du eigentlich überhaupt keine Ehre?!«
Ein kaltes Auflachen hallte durch die Stille, und der Schatten, der sich nun über Lucas' Miene legte, schien Lorcáns Eingeweide regelrecht zu zerquetschen.
»Witzig, dass ausgerechnet du auf einmal über Ehre sprechen willst. War es nicht dein werter Herr Großvater, der seine gesamte Karriere darauf erbaut hat, mit Schlagstock und Gewehr durch euren Distrikt zu trampeln und jeden zusammenzutreten, der nicht vor dem Kapitol auf die Knie geht? Soweit ich weiß, können niedrigrangige Friedenswächter sich keine schicken Anwesen leisten, und ohne sich die Hände schmutzig zu machen, steigt in diesem Geschäft auch niemand auf, das kannst nicht einmal du leugnen. Ist das diese Ehre, von der du sprichst, Lorcán?«
In seiner Kehle begann sich schon wieder ein Kloß zu bilden, als er den Kugelschreiber erneut ansetzte, um eine Antwort zu formulieren, doch ... er wusste nicht, was er sagen sollte.
Wenn er Lucas recht gab, würde Yolanda das auch nicht weiterhelfen. Und außerdem ging es doch gerade überhaupt nicht um ihn! Seine Familie konnte man sich nicht aussuchen, Lorcán hatte es mittlerweile verstanden, auch er hatte Fehler gemacht, aber jetzt versuchte er zu helfen, jetzt gerade in diesem Moment wollte er ausnutzen, was er hatte, und-
»Ich habe keine Pflichten«, fuhr Lucas fort, seine Tonlage schon deutlich weniger anklagend als noch vor ein paar Sekunden, doch sie klang erschöpft, und die Art und Weise, wie er das Wort betonte, jagte Lorcán einen Schauer über den Rücken. »Hier nicht. Der Einzige, dem ich etwas schulde, bin ich selbst. Genauso wie du und Yolanda und all die anderen auch. Glaub mir, Lorcán, ich würde ja helfen, wenn ich könnte, aber ...« Er stockte, verzog das Gesicht, als hätte er auf eine schimmlige Zitrone gebissen, und presste die Lippen aufeinander. »Wir haben doch schon alles versucht. Es gibt kein Heilmittel für diese Krankheit. Und ohne das bleibt uns nichts anderes übrig, als sie gehenzulassen-«
»Nein!«
Daumen, Mittel- und Zeigefinger schnappten aufeinander wie das Maul eines Tigers, untermalt mit einen heftigen Kopfschütteln, wodurch das Pochen hinter Lorcáns Stirn nur noch schlimmer wurde, doch das war ihm egal.
»Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben! Es muss doch irgendeinen Weg geben, irgendetwas, was wir noch nicht versucht haben ... sie hätte das auch getan. Yolanda hätte weitergesucht, so lange, bis sie eine Lösung gefunden hätte, das weiß ich einfach. Wir sind ihr das verdammt noch mal schuldig!«
Ein hartes, blechernes Schluchzen unterbrach Lorcáns Schreibfluss, schmerzte in seinem Rachen, und ließ den Knoten in seinem Magen sich noch enger zusammenziehen, als seine Sicht nach und nach ebenfalls zu verschwimmen begann. Egal, wie sehr er es auch versuchte, er konnte die Verzweiflung nicht länger zurückhalten.
»Du musst aufhören, dir das einzureden.« Kalte, graue Resignation lag in Lucas' Stimme, aber kein Funken Mitleid. »Wir ... du hast alles getan, was du hättest tun können. Irgendwann kommt immer der Punkt, an dem man einsehen muss, dass es keinen Sinn mehr hat, an etwas festzuhalten. Es tut mir leid, Lorcán, aber du kannst sie nicht mehr retten.«
Und doch hatte sie ihn gerettet.
Lorcáns Kopf fühlte sich auf einmal so unheimlich schwer an. Nicht einmal seinen Blick konnte er heben, war stattdessen dazu gezwungen, auf Yolandas friedlich schlafendes Gesicht herabzustarren. Irgendwann würde die Wirkung des Schmerzmittels nachlassen. Und was sollten sie dann machen?
Wie in Zeitlupe streckte Lorcán die Hand aus, um eine lange, blonde Haarsträhne hinter ihr Ohr zu streichen, ganz behutsam, damit er sie nicht weckte. Seine Finger waren nach wie vor eiskalt, er konnte sie kaum spüren, doch Yolandas Haut schien regelrecht zu glühen. Das war ein gutes Zeichen, oder? Es musste bedeuten, dass ihr Körper gegen die Infektion anzukämpfen versuchte. Es war noch nicht zu spät! Verdammt noch mal, er konnte jetzt nicht aufgeben, sie waren doch auf dem richtigen Weg, er musste sich bloß etwas mehr ins Zeug legen, nur ein ganz klein wenig mehr-
Lorcán musste es versuchen. Auch wenn es zwecklos war.
Auch wenn es ihn sein eigenes Leben kosten würde.
Und vielleicht gerade dann.
Im selben Moment, in dem er diesen Entschluss fasste, erschütterte ein ohrenbetäubender Knall die Arena und ließ beide Jungs erschrocken zusammenzucken. Wie ein aufgescheuchter Hase wandte Lorcán seinen Blick in Richtung Wald, doch dort war nichts zu erkennen.
»War das gerade ...«, begann Lucas mit erstickter Stimme, dann verhakte sein Blick sich wieder mit Lorcáns, und seine Miene schien regelrecht zu gefrieren, bevor er den Gedanken endgültig in Worte fassen konnte.
Nein. Nein, das durfte nicht sein, nicht jetzt, es waren noch so viele Tribute übrig, es musste jemand anderen getroffen haben, sie waren doch gerade so kurz davor!
Yolandas Kopf lag noch immer auf seinem Schoß, die Augen geschlossen, und ihre Lippen waren ganz leicht geöffnet. Sie schlief, natürlich schlief sie, das sah jeder, er konnte ihren Atem doch auf seiner Haut spüren, und ... wieso war sie auf einmal so still? Kein sanftes Heben und Senken ihrer Brust mehr, kein Zucken ihrer Nasenflügel. Wie lange war das schon so?! Nein, das ging nicht, er musste sich das einbilden, sie atmete bloß so schwach, dass er es nicht sehen konnte, weil sie krank war, und weil sie sich ausruhen musste-
Lorcán beugte sich vor, um besser lauschen zu können, doch er hörte nichts.
Keine ruhigen, aber gleichmäßigen Atemzüge, die seine Wange kitzelten.
Lucas hatte nach ihrem rechten Arm gegriffen, demjenigen, der nicht wie ein halb zerfallenes Stück Holzkohle aussah, das viel zu dünne Handgelenk mit einem Desinfektionstuch aus dem Erste-Hilfe-Koffer bedeckt, und zwei Finger direkt auf ihre Arterien gepresst. Auch er lauschte in sie hinein.
Als Lucas seinen Blick wieder hob, sprach er kein Wort, doch das war auch nicht nötig. Lorcán kannte die Wahrheit bereits.
Irgendetwas in seiner Brust zog sich zusammen, schnürte ihm die Kehle zu, und raubte ihm buchstäblich den Atem. Yolandas Gesicht vor ihm wirkte durch den Tränenschleier immer undeutlicher, Grau, Weiß und Grün flossen ineinander wie Aquarellfarben, und alles schien sich vor seinen Augen zu drehen.
Er fiel. Immer tiefer und tiefer in den Abgrund hinein.
Mit zittrigen Fingern nahm Lorcán ihren Kopf in seine Hände, der ihm auf einmal so viel schwerer vorkam, und sein Oberkörper krümmte sich, als wollte er sich im Erdreich eingraben, ein jämmerlicher Wurm, eine Larve, die das Licht des Frühlings einfach zu verschlafen gedachte. Sein eigenes Haar fiel ihm über die Schulter und vermengte sich mit ihrem, stumpf und glanzlos, Silber in Gold, und dann hauchte er ihr einen Kuss auf die schweißverschmierte Stirn, wieder und wieder und wieder, auch wenn er genau wusste, dass er sie damit nicht wieder zum Leben erwecken konnte.
Er hatte sie doch retten wollen.
So wie sie ihn gerettet hatte.
Warum?
Warum durfte er weiterleben, aber sie nicht?!
Es war alles seine Schuld. Lorcán hätte besser auf sie aufpassen müssen, er hätte früher aufstehen müssen, um nach ihr zu sehen, eine bessere Rede halten müssen, um mehr Sponsoren anzulocken, er hätte gestern nicht zögern und sich sofort zwischen sie und diese Wurzel werfen müssen, er hätte nicht einfach zusehen dürfen, er hätte sich eher bemühen sollen, er hätte, er hätte, er hätte so viel!
Lorcán war kein Soldat. Er war kein Enkel und kein Sohn, auf den man stolz sein konnte. Sein Körper war zu schwach und sein Verstand reichte auch nicht aus, um irgendetwas zu bewirken. Und doch war er hier. Ein miserabler Verbündeter und ein noch viel nutzloserer Freund.
Lucas' Hand auf seiner Schulter schien sich durch den Stoff seines T-Shirts und bis in sein Fleisch hineinzubrennen, ihn von innen heraus einzuäschern, doch er spürte kaum etwas davon.
Er konnte ja noch nicht einmal richtig trauern.
Lorcán wollte schreien, sich die Seele aus dem Leib brüllen, und nie wieder damit aufhören, bis er heiser und seine kümmerlichen Stimmbänder endgültig zerfetzt waren, doch alles, was aus seiner Kehle drang, war ein kleines, hässliches, hundserbärmliches Keuchen.
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AN: Ich hoffe, ihr hattet bisher schöne Feiertage. Hier ist mein ... Geschenk? :D
Als Erstes möchte ich heute ein paar Worte an Fay richten (auch wenn ich nicht weiß, ob du überhaupt noch mitliest): Der vierte Arenatag war ja insgesamt sehr auf deine Mädels fokussiert, deswegen hoffe ich, dass Yolis Tod dir nicht allzu sehr wehtut. Ich habe mir auf jeden Fall Mühe gegeben, ihn sehr feierlich und dramatisch zu schreiben, und zumindest konnte sie friedlich einschlafen, das war bisher definitiv der schmerzloseste Tod. u_u </3
In diesem Kapitel ist ... verdammt viel passiert. Sehr viel mehr, als einem wahrscheinlich auf den ersten Blick auffällt, deswegen würde ich hier sogar fast raten, es noch ein zweites Mal zu lesen, wenn man Zeit hat, vor allen Dingen, bevor es in ein paar Monaten mit dieser Gruppe weitergeht.
Ich sage nur so viel, Lorcán hat in seinem Gefühlschaos vielleicht ein paar Dinge nicht richtig mitbekommen, die noch mal ein anderes Licht auf die Situation werfen.
Ich bin wirklich sehr stolz auf dieses Kapitel und hoffe, dass es euch auch gefällt. <3
Das war das erste Jahr dieser Geschichte. Und sie ist einfach mal schon 42 Kapitel und über 100k lang, ich werd nicht mehr. Das hier war doch eigentlich nur ein funny little side project! ;_;
Vielen, vielen Dank an alle, die mich bisher begleitet haben, die regelmäßig mitlesen, voten und kommentieren, ihr wisst wirklich nicht, wie sehr ihr mir das letzte Jahr versüßt habt und wie zuhause ich mich euretwegen hier auf Wattpad fühlen konnte. <3 Ich hoffe, ihr bleibt auch weiterhin mit dabei und wer weiß, vielleicht schaffen wir es ja nächstes Jahr sogar, das hier zu beenden! Versprechen kann und will ich natürlich nichts, aber wir wollen mal optimistisch sein. :D
Übrigens: wer es noch nicht mitbekommen hat, im Scrapbook ist an Heiligabend ein kleines Zusatzkapitel erschienen, falls ihr Lust habt, euch etwas zu amüsieren. :3c
Im nächsten Kapitel schauen wir, was Philip so treibt, und kommen damit auch wieder zur Optimistengruppe und ihren Höhlenabenteuern zurück. Das aber erst in drei Wochen, denn nach diesem Brocken möchte ich euch (und mir lol) erst mal ein bisschen Luft zum Atmen lassen.
Wie immer vielen lieben Dank fürs Lesen, guten Rutsch, und ich hoffe, es hat euch gefallen. <3
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