KAPITEL 37 ✶ Die Wurzel allen Übels
Lucas Calvo ⌠ Distrikt Sechs ⌡
Yolanda war auf einem guten Weg – oder sie wäre auf einem guten Weg gewesen, wenn das hier eine normale Situation wäre, in der sie bald einen Arzt auftreiben und sie sich ganz in Ruhe von ihren Verletzungen erholen könnte. So hatten Lucas und Lorcán leider nicht allzu viel für sie tun können. Der Junge aus Fünf hatte offenbar Ahnung von Erster Hilfe, und auch Lucas hatte von seinem Vater ein paar grundlegende Kniffe beigebracht bekommen, sodass es nicht lang gedauert hatte, bis sie Yolanda aus ein paar abgebrochenen Ästen eine Schiene gebaut hatten. Das sollte zumindest dabei helfen, ihren angeknacksten Arm einigermaßen ruhigzustellen.
Die blauen Flecken begannen an den Rändern bereits in ein schwefeliges Gelbgrün überzugehen. Ein Zeichen dafür, dass sie heilten. Hätte Yolanda von dem Angriff tatsächlich innere Verletzungen davongetragen, hätte sich das inzwischen längst bemerkbar gemacht, von daher hatte sie wohl noch einmal Glück gehabt ... auch wenn Lucas nicht glaubte, dass das jetzt noch einen Unterschied machte.
Eine Verletzung dieses Kalibers war in den Hungerspielen normalerweise ein Todesurteil.
Es war nicht sonderlich schwer zu erkennen, wer das schwächste Mitglied ihrer Gruppe war. Sowohl Karrieros, als auch Mutationen würden Yolanda bei einem Angriff sofort ins Visier nehmen und das wäre es dann mit ihr gewesen. Lucas war Realist. Er machte sich keine unnötigen Hoffnungen, die am Ende sowieso bloß enttäuscht werden würden.
Vermutlich war es von Anfang an ein Fehler gewesen, diesem Bündnis zuzustimmen. Nur weil Lorcán und Yolanda sich beim Training an seine Fersen geheftet hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass sie gemeinsam einen Kampf um Leben und Tod bestreiten mussten! Im Endeffekt waren diese Menschen nichts als Fremde für ihn. Und sie hatten ja noch nicht einmal Vorräte dabeigehabt ...
Rein taktisch gesehen waren die beiden für Lucas nur ein Klotz am Bein, auch wenn das vielleicht hart klang. Lorcáns medizinisches Fachwissen und seine Kampfkünste mochten theoretisch vielleicht ganz nützlich sein, aber es war nun einmal schwierig, mit ihm zu kommunizieren. Im entscheidenden Moment könnte das für einen von ihnen tödlich enden.
Und Yolanda ... es nützte nichts, die Sache schönreden zu wollen. Dieses Mädchen war nichts als eine Last für sie. Ein totes Gewicht, würde sein Vater wahrscheinlich sagen. Sowohl im übertragenen, als auch im tatsächlichen Sinne, wenn das so weiterging. Alles, was sie tat, war ihre Vorräte zu dezimieren und die Fortbewegung zu erschweren.
Aber bedeutete das, dass man sie gleich in den Wind schießen oder gar dem Tod überlassen sollte?
Lucas war Überlebenskünstler, aber kein Mörder. Er würde es tun, wenn er ansonsten alle Optionen ausgeschöpft hatte, das hatte er seinem Vater bei der Verabschiedung versprochen, aber so lange er es irgendwie vermeiden konnte, würde er das auch tun.
Um die Hungerspiele zu überleben, musste man nicht zwangsläufig töten; manchmal reichte es schon, wenn man den anderen so gut wie möglich aus dem Weg ging und sich beim Verstecken ein wenig geschickt anstellte ...
Eine Strategie, die er jetzt, da er sich ein Bündnis angelacht hatte, wahrscheinlich vergessen konnte.
Verdammt, er war doch bisher so gut allein klargekommen! Lucas hatte genügend Nahrung für die nächsten Tage gehabt, und sogar einen warmen Schlafplatz, aber nein, er hatte ja unbedingt diese beiden Fünfer auf sich aufmerksam machen müssen.
Sie wären einfach an ihm vorbeigelaufen.
Vielleicht wären sie sogar von dem anderen Tribut oben an der Klippe getötet worden. Dann hätte er jetzt zwei Gegner weniger.
Aber vielleicht hätte es stattdessen auch ihn getroffen. Lucas hatte bloß auf Nummer sicher gehen wollen, er hatte selbst in Gefahr geschwebt, da war es nur logisch gewesen, dass er ...
Nein. Es hatte keinen Sinn, sich das einreden zu wollen.
Die Wahrheit war, dass Linus genauso gehandelt hätte.
Sein Bruder hätte die beiden aufgenommen, weil sie bereits ein Team gewesen waren. Er hätte darauf bestanden, dass sie dasselbe auch für ihn getan hätten. Dass man niemanden einfach so zurückließ, auch wenn es den eigenen Weg erschwerte. Dass jeder eine Chance verdiente.
Linus war ein Teamplayer. Ein Optimist. Ein Mann mit Herz.
Und genau aus diesem Grund hätte er diese Spiele auch niemals überlebt.
Für Yolanda wäre es wahrscheinlich besser gewesen, wenn sie in ihrem Versteck geblieben wären, doch wer allzu lang an derselben Stelle kampierte, der wurde früher oder später von den Spielmachern aus seinem Versteck gescheucht. Also hatten sie sich am frühen Nachmittag wieder auf den Weg gemacht.
Yolanda war in der Zwischenzeit wieder etwas gesprächiger geworden, worüber ihr Distriktpartner ganz froh zu sein schien, doch Lucas ging das ständige Geplapper um ehrlich zu sein ziemlich auf die Nerven. Er hatte Quasselstrippen noch nie sonderlich gut leiden können ... vielleicht war Lorcán ihm deshalb als Partner auch etwas lieber.
»Sie können die essbaren Pflanzen doch nicht ewig vor uns verstecken!«, beschwerte Yolanda sich gerade und ließ ihren Blick missmutig durch den ewig gleich aussehenden Nebelwald schweifen. »Ich meine, menschenverachtend ist das hier sowieso, aber ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass diese Vögel jedem einzelnen von uns beim Verhungern zusehen wollen. Kein Futter, keine Action! Das muss doch selbst denen klar sein, oder meint ihr nicht?«
»Es heißt nicht umsonst Hungerspiele«, brummte Lucas ohne sich zu den beiden umzudrehen, als er gerade über einen moosüberwucherten Baumstamm stieg.
»Ach, komm schon, damit hat das doch schon lange nichts mehr zu tun! Die wollen am liebsten nur Kämpfe sehen, gegen andere Tribute oder irgendwelche Viecher, Hauptsache es fließt Blut.« Yolanda hob ihren Kopf, ebenso wie ihre Stimme, als wollte sie die nachfolgenden Worte direkt an das Kapitol richten. »Das werdet ihr aber nicht bekommen, so lange wir hier draußen nur Haferschleim runterwürgen und Fichtennadeln auslutschen müssen!«
Lucas zuckte unter ihrer Lautstärke unweigerlich zusammen. War dieses Mädchen wirklich so blöd oder tat die nur so?
»Dir ist schon klar, dass du uns mit solchen Äußerungen eine große, rote Zielscheibe auf die Stirn malst, oder?«
»Bitte was?«
»Wer Streit sucht, der wird ihn früher oder später auch bekommen.« Lucas' Zähne knirschten bereits aufeinander, und er konnte selbst den Ärger in seinem Magen aufbrodeln spüren, doch er versuchte seine Stimme dennoch flach zu halten. »Und wenn du dir das unbedingt antun willst, Yolanda, dann meinetwegen, ich werde dich nicht daran hindern, aber zieh uns da nicht mit rein.«
Die Angesprochene schnaubte. »Ist das gerade dein Ernst? Selbst jetzt, wo du schon bis zum Hals in der Scheiße steckst, willst du dich noch immer bei denen anbiedern? Sieh dich doch mal um! Wir sind so oder so auf dem Weg zur Schlachtbank, was macht es da noch für einen Unterschied, ob ich so tue, als wäre ich diesen Schweinen da oben irgendwas schuldig?«
»Wie gesagt, wenn es dir so egal ist, dann kannst du gerne damit weitermachen, aber mich lässt du gefälligst aus dem Spiel. Ich hänge nämlich an meinem Leben und würde mich stattdessen lieber darauf konzentrieren, es noch eine Weile behalten zu dürfen.«
Yolanda gab ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus einem Auflachen und einem fassungslosen Keuchen klang.
»Und du glaubst, ich würde das nicht? Wir würden das nicht? Meine Güte, Lucas, was ist eigentlich dein Problem?! Wenn du keinen Bock mehr auf uns hast, dann sag es doch einfach!«
»Soll ich das wirklich?« Die Worte stolperten einfach aus ihm heraus, noch bevor er sie zurückhalten konnte, und jetzt fuhr er doch zu ihr herum, die Hände zu Fäusten geballt, und die Warnung in seinen Augen unmissverständlich. »Euch einfach wegschicken? Jetzt auf der Stelle? Würdest du dann wirklich gehen, Yolanda?«
Sämtliche Erwiderungen, die der Fünferin auf der Zunge gelegen hatten, blieben ihr im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken. Stattdessen starrte sie ihn bloß an, völlig vor den Kopf gestoßen und mit weit aufgerissenen Augen, und Lucas begann seine Antwort auch schon zu bereuen.
So hatte er das doch gar nicht gemeint ... oder? Zu behaupten, dass er nicht zumindest schon darüber nachgedacht hatte, sich nachts klammheimlich aus dem Staub zu machen, wäre eine Lüge. Aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass er diesen Plan auch durchziehen würde.
»Du ... du willst dich trennen?« Yolandas Stimme klang auf einmal so dünn und abgekämpft, genauso wie in der Nacht, wenn sie vor Schmerzen kaum einschlafen konnte. Schwer atmend und so lange auf ihren Lippen kauend, bis sie blutig waren, in der Hoffnung, dass Lorcán und er nichts davon mitbekamen, obwohl sie genauso wach lagen wie sie. »Aber du ... du warst doch derjenige, der uns aufgenommen hat!«
»Früher oder später werden wir sowieso auseinandergehen müssen«, erwiderte er rasch, den Frust so gut es ging aus seinem Ton zu verbannen versuchend, doch die Anspannung blieb.
Ihm machte es doch auch keinen Spaß, über diese Möglichkeit nachzudenken! Aber in den Hungerspielen ging es nun einmal nicht um Spaß.
»Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir nicht ewig zusammenbleiben können. Wenn überhaupt, wird nur einer von uns diese Arena lebend wieder verlassen.« Und dass sie nicht diejenige sein würde, musste er ihr garantiert nicht sagen. »Entweder warten wir darauf, dass jemand von den anderen uns umbringt, oder wir lösen das Bündnis eigenständig auf, bevor es dazu kommt, oder ... wir nehmen die Sache selbst in die Hand.«
Kaum hatte er die dritte Möglichkeit ausgesprochen, schien selbst der letzte Rest Farbe aus Yolandas Gesicht zu weichen, und sie trat unweigerlich einen Schritt zurück.
»Nein«, krächzte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, das ... das hat doch alles noch Zeit! Je länger wir zusammenbleiben, desto höher stehen unsere Chancen, am Leben zu bleiben, das hast du doch selbst gesagt! Es hilft überhaupt nichts, den Teufel an die Wand zu malen, u-und wenn wir uns gegenseitig helfen, dann-«
»Sagst du das, weil du wirklich daran glaubst, dass wir allein keine Chance hätten? Oder weil du allein keine Chance hättest?«
Yolanda antwortete nicht, doch ihre Miene sagte mehr als tausend Worte. Und der kleine Blutstropfen, der in diesem Moment von ihrer Unterlippe herabperlte, sagte noch weitere tausend.
»Du brauchst uns, nicht anders herum. Und ich ... ich bin auch ohne euch prima zurechtgekommen.«
Vielleicht hätte er das nicht sagen sollen.
Aber vielleicht war die Wahrheit ja genau das gewesen, was sie hatte hören müssen, auch wenn sie bitter schmeckte! Dann war sie zumindest darauf vorbereitet, wenn es irgendwann so weit war.
Der Schock, der Yolandas Züge eben noch verzerrt hatte, machte stattdessen Zorn Platz, doch es war kein explosiver Zorn, kein Schnaufen und Brüllen und Mit-dem-Fuß-Aufstampfen, sondern ein kalter, bitterer Groll, fest zusammengepresste Lippen, und ein Blick, der klarmachte, dass jede Entschuldigung für sie zu spät kam. In Lucas' Kehle begann sich ein Kloß zu bilden, auch wenn er nicht genau sagen konnte warum.
»Na gut. Wenn das so ist, dann ... lassen wir dich wohl besser allein.« Ihre Stimme war ruhig, doch sie zitterte, so wie das Geschirr auf dem Tisch, nachdem jemand mit der Faust daraufgeschlagen hatte. Ihre Augen waren noch immer auf ihn fixiert, doch ihre Hand wanderte bereits in Richtung ihres Distriktpartners. »Komm, Lorcán, wir sind hier anscheinend nicht länger erwünscht. Hey ... Lorcán ...?«
Es dauerte einen Moment, bis auch Lucas klar wurde, dass der andere Fünfer schon seit einer ganzen Weile nicht mehr neben ihnen herlief. Er war ein paar Meter hinter ihnen zurückgeblieben, schien ihr Gespräch überhaupt nicht mitbekommen zu haben, und starrte wie hypnotisiert hinaus in den Wald. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund einen Spalt breit geöffnet, und sein Gesicht noch fahler, als es ohnehin schon war. Bis zu diesem Moment hätte Lucas nicht geglaubt, dass das überhaupt möglich wäre.
Und dann wurde auch ihm endlich klar, was seinen Verbündeten so erschreckt hatte.
Der Wald um sie herum hatte sich verändert. Er wirkte wie ... verkohlt. Sämtliches Laub war von den Zweigen gefallen, und hatte nichts als kahle, knorrige Äste übriggelassen. Der Boden war bedeckt von einem graubraunen Brei, vertrocknete Kiefernnadeln, die sich im Regen miteinander vermengt hatten, und die Rinde bröckelte von den Stämmen. Überall im Holz klafften Risse, wie offene Wunden, die das Innerste entblößten, so schwarz, als wären die Bäume von innen heraus verbrannt ... oder verrottet. Und die wenigen Sträucher und Farne sahen genauso marode aus, nackte Zweige hingen herab wie alte Stofffetzen, einige waren ganz im Schlamm versunken und vom Regenwasser aufgequollen.
Es roch nach Verwesung. Nicht besonders stark, aber die fruchtig-süße Note war unverkennbar. Morsches Holz und die allmählich vor sich hin faulenden Eingeweide jener Pflanzen, die dem zum Opfer gefallen waren, was hier gewütet hatte.
Lucas hatte so etwas noch nie gesehen. Der Sechste Distrikt war eine graue, von Menschenhand gefertigte Festung, mehr Industrie als Wohnraum, mit unüberwindbaren Mauern aus Stahl und Beton. Richtige Wälder kannte er nur aus seinen Schulbüchern und aus dem Fernsehen. Doch viel brauchte er auch nicht über Forstwirtschaft zu wissen, um zu erkennen, dass diese Bäume krank waren.
Und vielleicht würden sie es ebenfalls werden, wenn sie zu lange hier verweilten.
»Heilige Scheiße«, hörte er Yolanda neben sich zischen, und ihre Stimme riss ihn nun endgültig aus seinen Gedanken. Lucas fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie ihre Hand nach einer der Pflanzen ausstreckte, doch Lorcán reagierte schneller und berührte mit einem unmissverständlichen Kopfschütteln ihren Arm. Er hatte gerade genau dasselbe gedacht, das wusste Lucas auch ohne Übersetzer.
»Nicht anfassen«, betonte er trotzdem noch einmal, und trat näher auf die beiden Fünfer zu. »Wir haben keine Ahnung, was genau hier passiert ist. Vielleicht ist das, was diese Fäulnis verursacht hat, auch für uns ansteckend.« Sein Blick flackerte erneut in Richtung des Waldes. »Wir sollten hier verschwinden, und zwar so schnell wie möglich. Kommt schon.«
Lucas war gerade dabei, seine Gruppe denselben Weg wieder zurückzuscheuchen, den sie gekommen waren, als er plötzlich ein tiefes Grollen verspürte, wie das Knurren eines Magens, der seit Tagen nichts zu essen bekommen hatte, doch ... es stammte nicht von ihm.
Es war die Erde unter seinen Füßen.
Der weiche, von modrigem Laub bedeckte Untergrund war auf einmal zum Leben erwacht, nicht wie bei einem Erdbeben, sondern als würde irgendetwas direkt unter der Oberfläche pulsieren. Die merkwürdig gleichmäßige Erschütterung folgte einem Rhythmus, der dem eines Herzschlages gar nicht so unähnlich war. Wie eine Vene, die fleißig Blut ins Zentrum ihres Organismus pumpte ...
»Was zum Teufel ist das?!«, ächzte Yolanda alarmiert. Lucas bekam jedoch keine Gelegenheit, ihr zu antworten, denn in diesem Moment ertönte aus den Tiefen des Waldes plötzlich ein ohrenbetäubendes Knarzen, wie von alten Bodendielen, die unter dem Gewicht schwerer Stiefel nachgaben, und als er zur Quelle des Lärms herumfuhr, wünschte er sich augenblicklich, er hätte es nicht getan.
Etwas bewegte sich dort draußen zwischen all den verdorrten Stämmen. Doch es war weder ein Tribut, noch ein flüchtendes Tier.
Es war ein Baum.
Eine besonders hohe und ungewöhnlich dicke Kiefer wankte zwischen den anderen umher wie ein Fahnenmast im Wind; derselbe Fahnenmast, der auf dem Rathausplatz des Sechsten Distriktes gestanden hatte, an jenem Tag, als das Gesetz der Wahrscheinlichkeit erneut über Lucas' Blutlinie gesiegt hatte. Das morsche Holz stöhnte und ächzte, als litte es selbst unter Schmerzen, und dann öffnete sich endlich der Boden unter ihnen, und etwas schoss aus der klaffenden Wunde empor, was Lucas im ersten Moment für Schlangen hielt, doch als er genauer hinsah, erkannte er, dass es Wurzeln waren.
Kohlrabenschwarze, ja geradezu knöchern wirkende Wurzeln, die wie Tentakel aus dem Erdreich hervorpeitschten, und sie waren überall, schienen sich über das gesamte Gebiet zu erstrecken, und schon bald waren sie selbst über ihre Köpfe hinausgewachsen.
Erst als sich inmitten der zerschlissenen Borke ein Astloch öffnete und ein milchig gelbes, von Harz und Eiter verklebtes Auge von der Größe eines Apfels sich direkt in seine Seele bohrte, schaffte er es endlich, sich aus seiner Schockstarre zu lösen, und rannte los.
Das musste sie sein. Die Strafe für Yolandas unbedachtes Geschwätz.
Sie hatte den Spielmachern den Krieg erklärt, und sie hatten die Herausforderung angenommen.
Lucas konnte bloß hoffen, dass seine Begleiter von selbst erkennen würden, dass ein Kampf gegen diese Mutation zwecklos und Rennen ihre einzige Option war, doch um sich nach ihnen umzublicken, hatte er keine Zeit mehr.
Doch so einfach schien diese Kreatur es ihnen nicht machen zu wollen; kaum hatten sie sich für eine Richtung entschieden, waren die Wurzeln auch schon dabei, ihnen den Weg zu versperren. Wie ein lebendiges Gitter schossen sie vor ihren Füßen aus der Erde, verwoben sich miteinander, und wuchsen in alle Richtungen aus, sodass selbst das Darüberklettern unmöglich wurde. Ganz egal, wohin sie auch liefen, die Mutation hatte dort bereits eine Barriere errichtet, zum Teil hoch genug, um selbst das wenige Tageslicht, das über ihnen durch die Wolkendecke drang, zu verschlucken.
»Scheiße«, presste Yolanda zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir sitzen in der Falle!«
Doch Lucas hörte ihr überhaupt nicht zu. Er konnte nicht anders, als an die Machete zu denken, die sie damals beim Füllhorn zurückgelassen hatte, um ihren Partner zu retten. Eine Waffe, die für genau solche Situationen erdacht worden war. Die Spielmacher verspotteten sie, da war er sich hundertprozentig sicher.
Ohne Lorcán könnte Yolanda jetzt schon über alle Berge sein.
Und ohne die beiden wäre Lucas ...
Seine Beine hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, noch bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte. Das Terrain vergab einem keine Fehltritte, schlammig, rutschig, und mit hunderten von Wurzeln gespickt, die wie Stacheln aus dem Untergrund hervorragten, doch Lucas schaffte es dennoch, ein paar Schritte Anlauf zu nehmen. Er war widrige Umstände gewohnt, und aufgehalten hatten sie ihn bisher noch nie. Das hier konnte er schaffen! Über die Barriere springen, noch bevor sie sich vollständig aufgebaut hatte, oder sich zumindest daran festhalten und dann vielleicht doch darüber klettern, er konnte fliehen, ganz allein, und für die beiden anderen konnte er nur noch hoffen, beten, den Boden unter den Füßen verlieren, den eigenen Herzschlag in den Ohren hören, die Freiheit schmecken, den Himmel berühren, und-
Ein plötzlicher Schlag zwischen die Schulterblätter raubte Lucas für einen kurzen Moment den Atem und ließ Sterne vor seinen Augen aufflackern, ehe er das Gleichgewicht verlor und mit dem Gesicht voraus im Schlamm landete. Er konnte die nasse Erde auf seiner Zunge schmecken, säuerlich und eiskalt, und dann das Blut, das aus seiner Unterlippe quoll, er versuchte sich aufzurichten, nach Atem zu schnappen, doch die Wurzel, die ihn aus der Luft gepflückt hatte, stieß seinen Körper gnadenlos zu Boden. Lucas konnte ein dumpfes Pochen in seinen Gliedern spüren, vom Adrenalin unterdrückter Schmerz, die hölzernen Finger, die sich um seine Beine wanden, Löcher in seine Kleidung rissen und Splitter in sein Fleisch trieben, den Herzschlag, der wie Donnergrollen in seinen Ohren hämmerte, und verdammt noch mal, er hatte es vergeigt!
Lucas hätte schneller sein müssen. Stärker, klüger, erfahrener, er hätte früher abspringen sollen, nicht so viel Zeit verschwenden dürfen, aber ... er hatte verloren.
Nicht gegen die Wahrscheinlichkeit diesmal, und auch nicht gegen die Schwerkraft.
Diese Niederlage hatte er ganz allein sich selbst zu verdanken.
Lucas konnte nichts weiter tun, als hilflos dabei zuzusehen, wie Yolanda aufschrie, ob vor Wut, Schmerzen, oder Panik konnte er nicht sagen, nur dass sie inzwischen etwas in der Hand hielt, einen der verdorrten Äste, den sie abgebrochen haben musste, und sie rannte auf ihn zu, die Miene zu einer gepeinigten Grimasse verzerrt, und drosch wie von Sinnen auf die Wurzeln ein, die ihn zu Boden drückten.
»Aufhören! Lasst ihn frei, habt ihr nicht gehört?! Ihr ... sollt ... ihn ... loslassen ...!«
War dieses Mädchen jetzt vollkommen verrückt geworden?
Yolandas verletzter Arm war längst aus ihrer Schiene gerutscht, sie überanstrengte ihren bereits geschundenen Körper, aber wofür? Wieso nutzte sie die Situation nicht aus? Wieso lief sie nicht weg? Was zum Teufel versprach sie sich davon, sich mit dieser Mutation anzulegen und ihr eigenes Leben schon wieder in Gefahr zu bringen?!
Und wo war überhaupt Lorcán?
Es dauerte einen Moment, bis Lucas ihn hinter all dem Chaos erkannte. Das inzwischen völlig zerzauste Haar schimmerte wie ein Silberstreif zwischen den schwarzen Klauen hindurch. Lorcán stand dort wie erstarrt, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt, und in seinem Blick lagen Zweifel, Unschlüssigkeit, vielleicht dachte auch er gerade darüber nach, etwas Dummes zu tun, statt sich einfach unbemerkt aus dem Staub zu machen, während die Mutation anderweitig beschäftigt war – doch dann erregte etwas seine Aufmerksamkeit.
Yolanda war noch immer dabei, mit den Überresten ihres Stocks auf die Wurzel einzuprügeln, mit jedem Schlag ein wenig mehr Kraft verlierend, sie ließ inzwischen nur noch ihren Frust heraus, ohne wirklich etwas zu erreichen, und bemerkte währenddessen nicht, wie von hinten ein weiterer Arm dieser Kreatur auf sie zugeschossen kam.
Lorcáns Augen weiteten sich entsetzt, als auch er sich endlich aus seiner Starre zu lösen vermochte, einen Schritt auf sie zutrat, die Hand nach ihr ausstreckte, und den Mund aufriss, doch ... es kam kein Ton heraus.
Natürlich nicht.
Und die Warnung, die seine Zunge sowieso niemals hätte verlassen können, kam zu spät.
Wie eine Klapperschlange wand die Wurzel sich um Yolandas Arm, so schnell, dass sie überhaupt keine Gelegenheit hatte, zu reagieren, und zerrte sie gewaltsam zurück. Ein erschrockenes Kreischen entfuhr ihr, und der abgebrochene Ast glitt ihr aus den Händen, als sie versuchte, sich aus dem Klammergriff zu befreien, doch wenn dieser auch nur halb so stark war wie jener, der Lucas' Beine gefangen hielt, dann hatte sie keine Chance. Die verholzten Wurzeln waren längst nicht so flexibel wie eine Ranke es gewesen wäre, doch die Krankheit, mit der sie infiziert waren, schienen sie kein bisschen zu schwächen. Ganz im Gegenteil, sie wuchs einfach weiter, und das in rasender Geschwindigkeit, mehrere Zentimeter pro Sekunde, bis sie Yolandas Oberarm vollständig umwuchert hatte, von außen und ... von innen.
Lucas konnte Blutflecken auf ihrer Jacke erkennen. Und ihre Schreie waren nicht länger nur von Angst getränkt.
Auch Lorcán hatte inzwischen die Distanz überbrückt, und zerrte mit schlammverkrusteten Fingern an der Wurzel, die sich immer tiefer in das Fleisch seiner Verbündeten hineinbohrte, doch es nützte nichts.
Was sollte ein Kampfsportler auch gegen einen gottverdammten Baum ausrichten?
Yolanda konnte ihre verletzten Arme kaum noch heben. Und auch Lucas' Nacken begann allmählich müde zu werden.
Diese Mutation legte es offenbar nicht darauf an, sie schnell und effektiv zu töten, ansonsten hätte sie längst kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Sie wollte sie leiden lassen – nein, die Spielmacher wollten sie leiden lassen.
Und wofür? Wussten sie das überhaupt selbst?
Lucas musste der Wahrheit ins Auge sehen: selbst mit einer Machete hätten sie gegen diese Kreatur nicht viel ausrichten können. Dazu hätte es schon eine Kettensäge gebraucht. Oder eine Horde Termiten. Oder ...
Ein Feuer.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag. Die Streichhölzer! Er hatte doch Streichhölzer in seiner Jackentasche, und er hatte sie bisher noch kein einziges Mal verwendet, hatte sie für den Notfall aufbewahren wollen, und wenn das hier gerade kein Notfall war, dann wusste er auch nicht weiter! Holz brannte, und Holzkohle brannte auch, oder zumindest verglühte sie. Einen Versuch war es wert, oder? Lucas musste bloß an seine Taschen herankommen. Selbst wenn er sich nicht aufrichten konnte, die Wurzeln konzentrierten sich hauptsächlich darauf, seine Beine zu fixieren, aber die obere Hälfte seines Körpers hatte noch ein bisschen Spielraum.
Sie hatten nur diese eine Chance. Er musste es versuchen.
Lucas befreite eine Hand von unter seinem Körper und tastete sich vorsichtig in Richtung seiner Jackentasche. Die Schachtel war noch dort, größtenteils geschützt durch den wasserdichten Stoff, doch er musste sich trotzdem vorsehen, denn wenn er sie in den feuchten Schlamm fallenließ, konnte er seinen Plan vergessen. Seine Finger waren von der Kälte schon taub geworden, jede Bewegung schmerzte, doch er schaffte es tatsächlich, die Packung zu öffnen und an ein paar Streichhölzer zu kommen.
Nicht fallenlassen. Das Zittern ignorieren, seine Muskeln unter Kontrolle halten, genügend Kraft aufbringen, um einen Funken zu erzeugen, und was immer er auch tat, er durfte die verfluchten Teile bloß nicht fallenlassen-
Der erste Funken schmorte sich durch das triste Grau des Waldes wie ein wahres Inferno.
Noch bevor die Mutation erkannte, wie ihr geschah, hatte Lucas das flammende Bündel Streichhölzer auch schon zwischen die Wurzeln gepfeffert. Und das morsche Holz brannte.
Es brannte lichterloh.
Ein ohrenbetäubendes Kreischen schrillte durch den Nebel, halb wie ein pfeifender Teekesseln und halb wie ein verletztes Tier, herzzerreißend genug, um den Knoten in Lucas' Magen noch ein wenig fester zu zurren, doch als die Wurzel vor Schmerzen zurückzuckte und ihn losließ, nutzte er sofort die Gelegenheit, um so schnell wie möglich aus ihrer Reichweite zu kriechen.
Seine Beine fühlten sich noch immer wie Pudding an, und es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er sich wieder einigermaßen aufgerichtet hatte. Allmählich wurde jedoch auch seine Sicht wieder etwas klarer.
Die Wurzeln hatten sich zurückgezogen. Selbst wenn nur ein einziges Glied verletzt worden war, spürte auch der Rest des Körpers seine Schmerzen. Die Extremitäten der Mutation waren miteinander verbunden, sowohl über, als auch unter der Erde, und sie alle führten zu jenem Baum mit dem gelben Auge zurück, der inmitten des Chaos stand und das Feuer irgendwie im Schlamm zu ersticken versuchte, doch es breitete sich viel zu schnell aus. Die furchige, verdorrte Rinde war ein gefundenes Fressen für die Flammen.
Lucas versuchte nicht darüber nachzudenken, ob das, was er in dem schwefelgelben Auge der Kreatur aufflackern sah, tatsächlich Angst war. So ein vom Kapitol erschaffenes Monster, das nur existierte, um Tribute zu quälen, würde doch wohl kaum Emotionen verspüren können, oder?
Selbst wenn. Es war sein gutes Recht gewesen, sich dagegen zu wehren.
Als Lucas seine beiden Verbündeten erblickte, war Yolanda gerade ihrem Distriktpartner in die Arme gefallen wie ein nasser Sack. Ihre Beine waren einfach unter ihr weggeknickt, und ihr vor Schweiß glänzendes Gesicht war zu einer gepeinigten Grimasse verzerrt. Die Schiene, die Lorcán und er ihr gebastelt hatten, war längst im Getümmel verlorengegangen, und der bis gerade eben noch unverletzte Arm hing genauso schlaff an ihrer Seite herunter.
Verdammte Scheiße. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt ...
Lorcán war bereits damit beschäftigt, sie ein wenig aufzurichten, möglichst ohne ihr noch mehr Schmerzen zuzufügen, als auch Lucas wieder an ihrer Seite auftauchte, und vorsichtig einen Arm um ihre Taille schlang, damit sie sich auf ihn stützen konnte.
»Wir müssen hier weg.« Wahrscheinlich war die Aussage vollkommen überflüssig, aber zumindest konnte er auf diese Weise die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf sich lenken.
Lorcán warf ihm einen besorgten Blick zu, doch Lucas schüttelte bloß den Kopf.
»Um meinen Zustand können wir uns später kümmern. Jetzt müssen wir erst mal zusehen, dass wir Yolanda hier wegschaffen und dieses Feuer hinter uns lassen, kapiert?«
Der Fünfer zögerte noch eine Sekunde lang, dann nickte er schließlich, und beide machten sich daran, ihre wimmernde Verbündete aus der Gefahrenzone zu zerren. Sie versuchte zwar selbst zu laufen, doch die meiste Zeit über schleiften ihre Füße bloß über den Boden. Um wirklich mitzuhelfen hatte sie einfach keine Kraft mehr.
Die Mutation hatte es längst aufgegeben, ihnen den Weg versperren zu wollen. Sämtliche Teile ihres Körpers waren nun damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, das sie von allen Seiten einkesselte, so rasch, dass die panisch zuckenden Wurzeln überhaupt nicht hinterherkamen. Alles knisterte und knackte, das merkwürdig schrille Pfeifen hallte noch immer von den Nebelwänden wider, doch es wurde leiser, je weiter Lucas und die anderen sich von der Quelle entfernten. Der Rauch haftete noch eine ganze Weile lang an ihnen, biss sich in seinen Schleimhäuten fest und trieb ihm die Tränen in die Augen, doch die Hitze ließ allmählich nach.
Je weiter sie hinaus in die Dämmerung humpelten, desto mehr begann er selbst die Erschöpfung zu spüren. Die klatschnass geschwitzte Kleidung, die seine Glieder herunterzog, das Kratzen in seinem Rachen, der Schlamm und das Blut auf seinen Lippen, und dieses widerliche Brennen auf seiner Handfläche ...
Lucas konnte noch immer nicht glauben, dass sie das gerade wirklich überlebt hatten – und dass eine Trennung in ihrem Zustand wohl erst einmal außer Frage stand.
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AN: Ich habe euch Action versprochen! :D Nachdem das Kapitel ja auch etwas später gekommen ist als geplant. Sorry dafür!
Ich schreibe ehrlich gesagt nicht oft Mutationen, aber ich hatte ziemlich viel Spaß mit dieser hier und mag Monsterkämpfe auch eigentlich sehr gerne. Ich hoffe, der Baum hat euch gefallen! Als hätte das Bündnis nicht schon genug Probleme ...
Ja, die Gruppe ist gerade ziemlich zwiegespalten. In vielerlei Hinsicht. Wie, denkt ihr, wird sich das ab jetzt entwickeln? Was sind eure Prognosen? Ich bin neugierig. >:3c
Das nächste Kapitel wird uns übrigens von Aliana kredenzt werden!
Wie immer vielen lieben Dank fürs Lesen, und ich hoffe, es hat euch gefallen! <3
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