40. Kapitel
»Heather? Bist du da drin?«
Es kam zwar keine Antwort, doch das Schniefen hinter der Kabinentür reichte mir.
»Willst du nicht rauskommen?«, fragte ich zaghaft und lauschte, ob sich hinter dem schwarzen Holz etwas tat. Es blieb ruhig.
Rechts neben mir wurde die Spülung betätigt und ich seufzte innerlich. Der Frau lächelte ich gequält zu. Sie rollte mit den Augen und wusch sich in aller Seelenruhe die Hände.
So sehr ich Hygiene befürwortete, aber musste sie sich unbedingt so viel Zeit damit lassen?
Die Tür zu den WC-Anlagen schloss sich geräuschlos hinter ihr und ich beeilte mich, sie abzuschließen.
»Wir sind jetzt allein«, sagte ich. Fast gleichzeitig ertönte das Klicken der Schließanlage und Heather wischte sich über die Augen.
»Wie sehe ich aus?«, schniefte sie, ein schiefes Grinsen auf den Lippen, das nicht einmal bei schlechtem Licht als aufrichtiges Lächeln gewertet werden konnte.
Es war nicht zu leugnen. Ein Pandabär hätte keine größeren Augenringe haben können.
»Wir bringen das schon in Ordnung«, wich ich der Frage aus und lotste sie zum Waschtisch. Ihre Schultern bebten unter meinen Fingern.
Beth hatte ich überzeugen können, bei ihren Gästen zu bleiben. Grayson und Henry hatten ihr in die Damentoilette nicht folgen können, auch wenn sie es sicher versucht hätten. Versucht hatten. Wäre nicht in genau dem Moment eine ältere Dame aus den Räumlichkeiten getreten, die die Brüder schockiert angeblickt hatte, wäre es ziemlich eng hier drinnen geworden. Heather seufzte.
»Ich habe einfach nicht damit gerechnet, ihn heute zu sehen. Dass Will ihn einladen würde, hätte ich ahnen müssen. Er tut in letzter Zeit alles, um unserer Mutter auf den Schlips zu treten. Und was mache ich? Laufe einfach weg.«
»Du hast ihn seit vierzehn Jahren nicht gesehen. Das ist einfach...«
»...erniedrigend«, beendete Heather den Satz nüchtern.
»Ich dachte eher an überfordernd«, schlug ich vor.
Heather atmete tief ein. Mit geübten Bewegungen begann sie das verschmierte Make-Up in ihrem Gesicht vorsichtig zu entfernen und ich half ihr, wo ich konnte.
»Ich sehe aus wie ein verdammter Waschbär. Du hast es gewusst, habe ich recht?«
»Ich habe die Platzkarte auf dem Tisch gelesen und mir den Rest gedacht«, gab ich gedehnt zu.
»Will hat also mit dir über unseren Bruder geredet?«, hakte sie nach und ich wusste nicht, welche Antwort es war, die sie hören wollte.
»Hätte er das nicht tun sollen?«, stellte ich ihr deswegen eine Gegenfrage.
Heather legte den Kopf schief und betrachtete mich nun genauer. Obwohl sie jünger war, hatte ihr Blick etwas Durchdringendes. Als könnte sie in mich hineinschauen und all die Geheimnisse darin lesen, die ich sicher verborgen hielt. So wie auch Grayson mir immer das Gefühl gegeben hatte, mir die Lüge an der Nase abzulesen, noch ehe ich sie ausgesprochen hatte.
»Will redet nicht viel über ihn. Er muss dir wirklich vertrauen, wenn er dir von Henry erzählt hat.« Mehr sagte sie nicht. Vielleicht erwartete sie, dass ich es abstritt, dass ich ihr erzählte, dass ich ihren Bruder nicht kannte und er mir deswegen auch kein Vertrauen entgegenbringen könnte. Dass ihm die Information einfach so herausgerutscht war.
Aber ich konnte nicht. Die Lüge wäre mir wie eine Beleidigung an all unsere vergangenen Gespräche vorgekommen. An die Verbundenheit und die Vertrautheit zwischen uns. In einer Zeit, in der alles möglich erschien, in der ein Wir noch existiert hatte.
Ein unangenehmes Kribbeln in meinem Nacken zwang mich dazu wegzuschauen. Wenn sie etwas ahnte, sagte sie nichts und ich war ihr mehr als dankbar dafür, es in diesem Moment auf sich beruhen zu lassen. Nichts konnte ich weniger gebrauchen als mir meine eigenen Fehler vor Augen zu führen.
Die restlichen Minuten vergingen in konzentrierter Stille. Heathers Make-Up saß perfekt, doch sie schlug mir vor, allein vorzugehen.
»Ich brauche noch einen Moment allein.«
»Okay. Ich bin da.«
Ein Lächeln, wenn auch ein kleines, zog an ihren Mundwinkeln.
»Danke, Julia. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
Zurück musste ich mir meinen Weg förmlich erkämpfen. Der Saal war nun gut gefüllt und die meisten Gäste hatten sich um die kleinen Stehtische versammelt, an dem sie sich mit Fingerfood und Sekt bedienen ließen, ehe es zum formellen Dinner überging.
Grayson und Henry entdeckte ich an solch einem Tisch und ich spürte ihre Blicke auf mir liegen.
»Wo ist Heather? Was ist mit ihr? Geht es ihr gut?« Henry stolperte über seine eigenen Worte und ich legte eine Hand auf seine Schulter, die hoffentlich beruhigend wirkte.
»Es geht ihr gut. Sie kommt gleich wieder. Sie braucht nur noch einen Augenblick für sich.«
Henry nickte schnell, während Grayson düster die Stirn in Falten legte. Es sah so aus, als würde er Heathers Flucht nicht gutheißen, doch ich wusste, dass er sich selbst die Schuld dafür gab. Immerhin wäre Henry nicht hier, wenn er ihn nicht eingeladen hätte.
Das Schweigen zwischen uns ließ mir Zeit, den verschollenen Bruder genauer zu mustern. Er war breit gebaut, das dunkle Haar fiel ihm in seichten Wellen etwa bis zur Schulter. Die Haut war fahl und seine Augen sprachen von einer Realität, die ich mir nicht einmal in meinen Albträumen vorstellen konnte. Sein altes Leben war ihm fremd. Jetzt wieder in dieses Haifischbecken geworfen zu werden, musste sich wie eine Zeitreise anfühlen. Seine Nervosität war kaum zu übersehen. Trotz allem sah er gut aus. Verdammt gut sogar, wenn ich ehrlich war. Dass die Aufmerksamkeit anderer Tische, vorwiegend weiblicher Gäste, auf uns lag, lag aller Wahrscheinlichkeit nach an dem großen gutaussehenden Unbekannten.
Es benötigte zwei Gläser Sekt, bis Henry nicht mehr nervös auf den Tisch trommelte. Noch einen Sekt, ehe er das Wort an mich richtete und dabei halbwegs ruhig klang, obgleich seine Augen im Sekundentakt den Saal absuchten.
»Also, du bist Beths kleine Schwester?«, fragte er und verglich uns gerade sicherlich miteinander. Bis auf unser Aussehen, waren wir so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Sie die geborene Anführerin, ich die kleine Rebellin.
»Besser das schwarze Schaf der Familie«, gab ich zu. Die aufmerksamen Blicke meiner Mutter waren mir nicht entgangen. Eine von Henrys Augenbrauen wanderte in die Höhe und er lachte auf. In diesem Augenblick hätte ich mich den umstehenden Mädchen, die simultan nach Luft schnappten, gerne angeschlossen. Dieses Lächeln war atemberaubend. Die gleichen Grübchen wie bei... Wollte ich nicht damit aufhören? Schlecht möglich, wenn er direkt neben mir stand und ich seine Anwesenheit spüren konnte. Er war wie ein verdammter Heizstrahler.
»Ich denke, wir werden uns gut verstehen. So von schwarzem Schaf zu schwarzem Schaf«, riss Henry mich aus meinem kurzen Tagtraum.
»Davon gehe ich aus.« Ich musste einfach zurückgrinsen. Henry machte es mir nicht besonders schwer ihn gernzuhaben. Darin unterschied er sich nicht von seinen Geschwistern.
Grayson beobachtete uns wachsam. Seine goldenen Adleraugen fixierten mich.
Ich hätte mich stundenlang von ihm ansehen lassen, wäre da nicht das nagende Schuldgefühl in meiner Brust und mein Verstand, der mit einem Baseballschläger auf mich eindrosch.
Er ist mit Beth verlobt, verlobt, verlobt!
Da kehrte glücklicherweise Heather zu uns zurück und meine Gedanken richteten sich auf die Geschwister. Grayson spannte sich an, während in Henrys Augen ein Sturm tobte. Flucht oder Kampf? Gehen oder bleiben?
»Heather«, stieß er hervor.
»Henry.« Der stumme Austausch war spannender als jeder Action-Film. Die feste Umarmung war das Happy End, das ich mir für jeden guten Film wünschte. Heather kämpfte mit den Tränen und auch Henry schien diese Situation nicht kalt zu lassen. Verstohlen räusperte er sich und tat so, als würde er eine verlorene Wimper aus seinem Auge fischen.
Dieses kleine Detail brachte mich zum Schmunzeln und aus den Augenwinkeln sah ich, dass Grayson ebenfalls das Lachen unterdrückte.
Heather und Henry vertieften sich in ein Gespräch, in dem Grayson und ich bloß Zuschauer waren. Wir umgingen den Part mit dem unangenehmen Small-Talk, indem wir uns anderen Gästen in der Nähe zuwandten.
Mr Rodriguez erschien mit seiner Frau Sofia am Arm und ich unterhielt mich eine Weile mit ihnen. Sofia wirkte angespannt, große Menschenmassen waren ihr seid einem Vorfall vor ein paar Jahren zuwider. Da war sie in Vertretung für ihren Mann auf einer Messe gewesen. Nach Schüssen außerhalb der Messehalle war Panik ausgebrochen und Mrs Rodriguez wurde von der Menge niedergetrampelt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie lebend und weitestgehend unversehrt zurückgekehrt war. Auf der anderen Seite, hatte das Ereignis sie in ihrer unerschütterlichen Art bestärkt. Sie sagte immer das, was sie dachte. Wer höfliche Zurückhaltung erwartete, war bei ihr an der falschen Adresse.
Mr Rodriguez, auf dem die nervöse Art seiner Frau übergesprungen war, führte sie schließlich weg aus dem Zentrum des Geschehens. Leider in genau dem Moment, in dem auch Grayson sein Gespräch mit einem älteren Herrn beendete.
Wortlos standen wir uns gegenüber. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte oder überhaupt sagen konnte, ohne die Aufmerksamkeit unnötig auf uns zu ziehen. Der Klatschartikel war keine 24 Stunden alt und eine vertraute Szene auf der Verlobungsfeier war ein gefundenes Fressen für alle weiteren Verschwörungstheorien.
Wieder waren es andere, die uns vor einem unangenehmen Moment retteten. Ein Kellner mit einer Platte Fingerfood stoppte bei unserer Gruppe und bot kleine Blätterteigtörtchen an. Henry griff beherzt zu und auch Heather und ich bedienten uns.
»Einen Moment.« Grayson griff nach meinem Handgelenk, ehe die Köstlichkeit meinen Mund erreichen konnte und winkte den Kellner näher.
»Sir?« Irritiert blickte er von Grayson zu dem Handgelenk, welches er immer noch umklammert hielt und von dem eine unvergleichliche Hitze ausging. Röte schoss in meine Wangen und es war töricht von mir, diese Nähe auch noch zu genießen.
»Sind da irgendwo Erdnüsse drin?«
»Nein, Sir. Ich kann mich gerne nach den genauen Zutaten in der Küche erkundigen, wenn Sie es wünschen.«
William schüttelte den Kopf.
»Nein. Das reicht schon. Danke.«
Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Züge und mein Magen rumorte auf die positivste Art, die es gab.
»Was?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast es dir gemerkt. Dass ich allergisch bin.«
Er zuckte ebenfalls die Schultern.
»Wer will den Abend schon in der Notaufnahme verbringen. Das ist alles«, murrte er schlicht und schob sich betont gleichgültig ein Törtchen in den Mund.
Ihm war ebenso klar wie mir, dass das nicht alles war. Bei weitem nicht.
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