38. Kapitel
Mein erster Gedanke war, meine Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen. Mein zweiter Gedanke war »Wow«.
Mrs Smith und Miss Clementine hatten den ohnehin schon atemberaubenden Saal verwandelt. Ich war stets in dem Glauben gewesen, dass ich eine gute Fantasie besaß, doch das hier sprengte all meine kühnsten Vorstellungen. Die Sandstein- und Marmorelemente des weitläufigen Saals harmonierten mit den schwarzen und weißen Dekorationen und den dunklen Vorhängen.
Runde Tische mit weißen Tischdecken und schwarzen Blumengestecken waren um eine glänzende Tanzfläche angeordnet. Zwischen den schwarzen Blumen waren kleine Lichterketten versteckt worden, die dem düsteren Ambiente etwas Magisches verliehen. Sonnenlicht drang nur gedämpft durch die Vorhänge hindurch und verteilten sich scheinwerferartig im Raum.
Vorne bereitete sich bereits ein Quartett auf ihren Auftritt vor und stimmte die Instrumente.
Ich musste zugeben, ich war beeindruckt. Als Beth mir das Thema des Balls präsentiert hatte, war ich dem zunächst skeptisch gegenübergetreten. Black and White. Zu klischeehaft. Doch das hier, der Saal, die Dekorationen und die farblich darin verschmelzenden Menschen, ließ mich meine voreilige Meinung noch einmal überdenken.
Der Anblick raubte mir den Atem. Kellner und Kellnerinnen in schwarzen Fracks und Cocktailkleidern, alle mit einheitlichen schwarzen Masken, die eine Gesichtshälfte verdeckten. Mein Herz raste vor Aufregung und ich fühlte mich, als wäre ich noch nie auf einer ähnlichen Veranstaltung gewesen.
Dabei war das Quatsch. Seit meinem dreizehnten Lebensjahr hatte ich Dinner, Bälle und Spendengalas an der Seite meiner Eltern und meiner Schwester besucht. Möglicherweise ging mir Maskenball mehr an die Substanz, weil es die Verlobungsfeier meiner Schwester war.
Die mögliche Bedrohung – nämlich, dass Narbengesicht hier auftauchte - vor der Grayson mich so eindringlich gewarnt hatte, hatte ich bereits verdrängt, so überwältigt war ich.
»Es ist wundervoll.« Beth strahlte von einem Ohr zum anderen, doch ihre Stimme war gepresst. Die weiße Maske mit den minimalistischen goldenen Verzierungen saß perfekt und betonte die dunkel geschminkten Augen. Das schwarz-weiße Kleid schmiegte sich vorteilhaft an ihren Körper. Die roten Stressflecken an ihrem Hals pochten wie penetrante Werbung auf dem Highway. Beruhigend legte ich eine Hand auf ihren Arm.
»Es wird super werden. Da bin ich sicher. Alles läuft perfekt.«
»Das will ich doch hoffen.« Hilary gesellte sich zu uns und betrachtete den Raum weitaus kritischer, als ich es getan hatte. Von John keine Spur. Der sitzt vermutlich in der Bar. In letzter Zeit trank er wieder öfter und die Erinnerung an damals war mit einem Schlag zurück. Ich schauderte.
Hilary atmete laut aus. In ihren Worten vernahm ich einen unausgesprochenen Vorwurf. Ich spürte das Blut in mir brodeln. Neun Jahre, neun verdammte Jahre, war es her, dass ich mir einen einzigen Fauxpas geleistet hatte und sie hatte es mir immer noch nicht verziehen. Manchmal glaubte ich, dass sie mich nur aus Oxford an die Columbia geholt hatte, weil sie mich so besser kontrollieren konnte.
Das entsprach sicherlich der Wahrheit, wenn auch nicht gänzlich. Marys leise Stimme meldete sich in meinem Kopf.
Finanzielle Schwierigkeiten. Die Geschwindigkeit, in der diese Hochzeit vorangetrieben wurde, ließ vermuten, dass es Cavendish Corporation ähnlich erging. Vielleicht wusste Grayson mehr darüber und könnte Licht ins Dunkel bringen.
Ein Schnauben riss mich aus meinen Gedanken.
Angeblich hatte Hilary einen Tobsuchtsanfall bekommen, als sie erfahren hatte, dass die Organisation des Maskenballs mir oblag.
Und dann war auch noch dieser Artikel in der Klatschpresse aufgetaucht. Wenn es nach ihr ginge, wäre ich jetzt gar nicht hier, sondern im Penthouse mit vorgetäuschter Migräne.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen. Die Szene, die ich ihr gerne gemacht hätte, schluckte ich herunter.
»Stellen Sie das nicht dorthin!« Schon hatte sie eine verschreckte Kellnerin ins Visier genommen und eilte davon.
»Sie ist einfach überarbeitet«, versuchte Beth ihr Verhalten zu rechtfertigen und ein sorgenvoller Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Das war sie schon immer«, entgegnete ich nüchtern. »Sie ist sauer wegen des Artikels.«
»Die Presse schreibt, was sie will. Da steckt sie nicht drin. Geht es dir gut damit?«, fragte sie vorsichtig.
Typisch Beth. Dass der Artikel auch sie betraf – mehr noch, ihren Verlobten – schien ihr gar nichts weiter auszumachen.
»Mir geht's gut.« Ich lächelte schwach. Die Wahrheit war, als der Artikel erschienen war, hatte ich so laut geschrien, dass Mary, Riley und Carla aus der Küche zu mir ins Zimmer gestürmt waren. Riley hatte eine Pfanne in der Hand gehalten, von der noch Spülschaum tropfte und Mary und Carla hatten sich im Türrahmen aufgebaut, bereit sich auf den erwarteten Einbrecher zu stürzen. Ich musste ihnen gefühlt eine halbe Stunde versichern, dass es mir gut ging und dass es mir an nichts fehlte.
Lediglich mein Herz hatte dieser Aussage laut pochend widersprochen.
Beth kannte mich zu gut. »Mach dir keinen Sorgen. Nächste Woche wird sich niemand mehr an diese Geschichte erinnern.«
Das blieb abzuwarten. Sie war viel zu nett zu mir gewesen, immerhin unterstellte die Presse nicht nur ihrer Schwester, sondern auch ihrem Verlobten, untreu zu sein. Umso mehr schmerzte es, dass ich ihr nicht die Wahrheit über unsere erste Begegnung anvertraut hatte.
Früher oder später würde uns diese ganze Heimlichtuerei auf den Kopf fallen und ich wusste nicht, ob sie mir dann noch verzeihen würde. Ehe ich mich aufhalten konnte, hatte ich die Arme um sie geworfen und drückte sie an mich.
»Danke.«
Beth gluckste und hielt mich einige Sekunden ebenso fest. Mit dem unverwechselbaren Duft nach zuhause und Geborgenheit in der Nase lehnte ich mich schließlich wieder zurück.
»Albernes Huhn. Weißt du was? Ich sehe besser mal nach, ob in der Küche alles glattläuft. Entschuldige mich.«
Es dauerte noch eine Stunde, bis die ersten Gäste eintrafen. Grayson war erst eine halbe Stunde vorher aufgetaucht, zu spät, wenn es nach Hilary ging. Der pechschwarze Smoking und die Fliege sahen an ihm verboten gut aus, auch wenn ich es bedauerte, dass er seine Tattoos unter dem Stoff versteckt hielt. An den Anblick des Löwen auf seinem Unterarm hatte ich mich bereits gewöhnt. Himmel, wie konnte jemand in einem einfachen Smoking so gut aussehen? Er versuchte nicht einmal gut auszusehen. Er war es einfach.
Lächerlich. Ich war absolut lächerlich.
Von einem Stehtisch nahe des Eingangs beobachtete ich, wie diplomatisch Grayson und meine Schwester ihre Gäste begrüßten, Glückwünsche und Umschläge entgegennahmen.
Ein Grund, warum ich meine Schwester liebte: in den Einladungen wurde ausdrücklich darum gebeten, dass anstatt der herkömmlichen Präsente zur Verlobung, eine Spende getätigt werden sollte. Das war die Idee von Beth gewesen. Der Erlös des heutigen Abends sollte unter anderem benachteiligte Familien in Harlem und der Bronx unterstützen.
Darauf hatte Grayson eisern bestanden und ich ahnte, dass er dabei auch an seinen Bruder gedacht hatte, der in der Bronx lebte.
Auch ich hatte bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr dort gelebt, daher wusste ich, dass es dort einige Familien gab, die dieses Geld gut gebrauchen könnten.
Direkt nachdem A.I.Technologies so durch die Decke gegangen war, hatten meine Eltern eine Stiftung gegründet, die sich für arme Familien in den New Yorker Stadtteilen einsetzte, in denen die Kriminalitätsrate am höchsten war.
Darunter fiel auch das Viertel, in dem ich aufgewachsen war. Ich wusste, wie es sich anfühlte, ständig über die Schulter schauen zu müssen, wenn man auf dem Weg von der Schule nach Hause war. Ein Wissen, dass ich durch mein Leben in England verloren hatte.
Die Stiftung hatte seit ihrer Gründung schon einigen Familien geholfen. Geld hatte eben auch seine Vorteile.
Ein Stich der Eifersucht, den ich gar nicht spüren wollte, fuhr durch meine Glieder, als ich die Verlobten in so trauter Zweisamkeit erlebte und ich wandte schnell den Blick ab. Der saure Geschmack in meinem Mund stieß mir übel auf.
Statt mir mein Unglück noch weiter unter die Nase zu reiben, setzte ich mich an den mir zugeteilten Tisch. Pro Tisch gab es sechs Stühle. Grayson und Beth teilten sich den Tisch im Zentrum vor der Bühne, auf der das Quartett nun begonnen hatte zu spielen, mit unseren Eltern. Heather und mich hatten sie einen Tisch weiter platziert.
Mir gegenüber saß bereits eine ältere Dame, die ich als Heathers und Graysons Tante Mildred identifizieren konnte. Außerdem fand ich die Namenskärtchen von Mr Rodriguez und seiner Frau Sofia an unserem Tisch. Sie waren beide noch nicht anwesend. Somit blieb nur noch ein Platz übrig. Auf der Karte neben meiner stand ein Name, der mir kurz den Atem raubte. Henry.
Henry. Graysons großer Bruder, der von seinen Eltern verstoßen wurde. Wie würden sie seine Anwesenheit wohl aufnehmen? Automatisch reckte ich den Hals und suchte in der Menge nach Heather. Ihren großen Bruder hatte sie das letzte Mal als kleines Mädchen gesehen, sie und Grayson mussten sterben vor Aufregung.
Mein Magen verkrampfte bei der bloßen Vorstellung. Wenn ich mir ausmalte, wie es sein würde, meine Schwester nach 14 Jahren der Funkstille wiederzusehen...
Erst als ich Heather in bester Laune an der Theke mit einem der Kellner plaudern sah, entspannte ich mich wieder ein bisschen.
Als ich mich unbeobachtet fühlte, schloss ich die Augen und massierte meinen Nasenrücken.
Der Abend war jung. Es könnte noch viel mehr schiefgehenals das Auftauchen des verschollenen Bruders.
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