32. Kapitel
Beim Nachtisch wandte sich das Gesprächsthema von unbedeutendem Smalltalk schließlich den geschäftlichen Dingen zu. Es begann, indem mein Vater Mr Rodriguez auf einen seiner interessanten Fälle ansprach. Eine rechtliche Angelegenheit, von der ich nur am Rande mitbekommen hatte, die in den Medien jedoch für Furore gesorgt hatte und über die man sich folglich gründlich das Maul zerrissen hatte.
Mr Rodriguez war einer der Anwälte gewesen, die im Newcastle-Fall unfreiwillig ins Rampenlicht gerückt worden waren. Wenn man den Medien Glauben schenkte, hatte Mr Rodriguez und seine Anwaltskanzlei mächtig Einbußen gemacht. Er tat den verlorene Fall jedoch mit einer abwinkenden Geste ab und lachte ungezwungen. Sein Lachen kam mir ein wenig zu ungezwungen vor, doch vor so einem selbstgefälligen Publikum wie diesem, würde ich meine Fehler der Vergangenheit auch nicht diskutieren wollen.
Weil weder Mr Rodriguez noch John oder mein Vater den Ehevertrag ansprachen, begann Heather Julia in ein zwangloses Gespräch über Bücher zu verwickeln, weil sie in ihrem Zimmer offenbar ein großes Bücherregal vorgefunden hatte.
»War deine Schwester schon immer so bücherbegeistert?«, konnte ich nicht verhindern zu fragen. Ich war froh, dass Heather Julia so sehr in Beschlag genommen hatte, dass sie meine Worte nicht gehört hatte, sonst hätte ich mir vermutlich einen weiteren ihrer berühmten feindseligen Blicke eingefangen.
»Oh ja, schon immer. Man muss ihr nur ein Buch in die Hand drücken und sie ist die nächsten Stunden über beschäftigt.« Sie beugte sich vertraulich näher. »Früher habe ich ihr meine Bücher, die ich für die Schule lesen musste, gegeben, und hab sie danach immer ausgequetscht, was darin passiert ist. Ich habe keine einzige Schullektüre in meinem Leben zu Ende gelesen«, bekannte sie lachend.
»Das heißt, du bist keine Leseratte?«
»Um Himmels Willen, nein. Ich hab gar nicht die Zeit dafür.«
»Gehst du gerne im Central Park spazieren?«
Beth legte den Kopf schief. »Nein, das kann ich nicht behaupten. Versteh mich nicht falsch, ich bin gerne unterwegs. Aber ... ich bin nicht fit genug.«
Ich wusste genau, was ich da tat: ich versuchte Parallelen zwischen ihr und ihrer Schwester herzustellen, aber bis auf das gleiche braune Haar und die gleichen Sommersprossen – die bei Beth jedoch weitaus deutlicher hervortraten – konnte ich nichts finden. Sie waren wie Feuer und Wasser. Vollkommen unterschiedlich, doch in ihren Augen las man eine unerschütterliche Geschwisterliebe.
»Nicht fit genug?« Ich runzelte die Stirn und spürte Julias Augen mit einem Schlag überdeutlich auf mir liegen. Meine Nackenhaare stellten sich auf und streckten sich ihr entgegen. Meine Kiefer mahlten, als ich dem Drang widerstand den Kopf zu drehen und ihr ins Gesicht zu schauen. Wenn ich das tat, könnte ich nicht mehr wegschauen.
»Als ich 15 war, hatte ich eine Lungenentzündung, die zu spät behandelt wurde. Seitdem habe ich manchmal Atemprobleme, wenn ich mich aufrege oder zu sehr anstrenge«, flüsterte Beth und ihre roten Wangen bezeugten, wie peinlich ihr das Eingeständnis war. Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Es erklärte immerhin, warum sich Julia manchmal wie die große Schwester vorkam. Sicherlich machte sie sich ständig Sorgen um ihre Schwester und ihren Gesundheitszustand.
Noch ein anderer Gedanke ergriff Besitz von mir. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum sie niemandem erzählte, dass wir uns bereits kannte. Wenn sich Beth deswegen aufregen und Atemprobleme bekommen würde, schlimmstenfalls sogar im Krankenhaus landete, würde sie sich das nicht verzeihen. Weil sie sich selbst die Schuld geben würde.
»Das tut mir leid zu hören«, war der lahme Spruch, den ich schließlich über die Lippen brachte. Erbärmlich. Und es wurde sogar noch erbärmlicher.
»Deine Schwester war lange in Großbritannien, oder? Mein Vater hat mir davon erzählt«, schob ich schnell hinterher, nur um zu verhindern, dass sie meine Worte anders – und zwar richtig - interpretierte. Meine Augen suchten die braunen Wirbelstürme, trafen aber nur auf ihren Hinterkopf, weil sie gerade ihr dreckiges Geschirr hilfsbereit an einen Kellner reichte. Es war ein äußerst hübscher Hinterkopf mit glatten Strähnen, durch die sie mit ihren schlanken Fingern glitt wie durch ...
»Genau, sie war dort im Internat und hat in Oxford ihren Bachelor gemacht.« Beth riss mich aus meinen Tagträumen und meine Augen blickten von dem hübschesten Hinterkopf der Weltgeschichte zurück zu ihrem sommersprossigen Gesicht.
»Unsere Eltern wollten, dass sie auf die Columbia geht. So wie ich. Aber Jules hatte schon immer ihren eigenen Kopf«, sprach sie weiter, ohne meinen Fauxpas bemerkt zu haben. Ich nickte geistesabwesend und meine Augen fanden Julias. Eilig wich sie meinem Blick aus.
»Im Herbst beginnt sie ihren Master an der Columbia. Ein befreundeter Professor hat ihr sogar eine Assistenzstelle angeboten. Du müsstest ihn kennen. Professor Langley.«
Mein Kopf schoss in die Höhe und Beth zuckte überrascht zurück.
»Langley? Sie darf diesen Job auf keinen Fall annehmen«, polterte ich los.
Es bereitete mir Bauchschmerzen, dass sie diesen Job bei Grapscher-Langley auch nur in Betracht ziehen könnte.
»Warum?« Beth klang ehrlich überrumpelt.
Für Außenstehende sah es wohl so aus, als könnte Julia und ich uns nicht leiden. Mein übermäßiger Beschützerinstinkt brachte mich gerade also ziemlich in die Bredouille.
»Ich meine nur, weil er ein echter Tyrann ist«, schob ich schnell hinterher. Andererseits hatten wir die letzten zehn Minuten ausschließlich damit verbracht über ihre Schwester zu sprechen. Viel zu verlieren hatte ich demnach nicht.
»Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Damit kommt sie klar. Julia kann knallhart sein.«
»Da bin ich sicher«, murmelte ich. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. »Tut mir leid, wir sprechen die ganze Zeit von deiner Schwester.« Zu meiner großen Verblüffung wurde ihr Lächeln nur breiter. Es war ein echtes Lächeln, stellte ich erstaunt fest.
»Das macht doch nichts. Ich liebe sie und von uns beiden hat sie eindeutig das spannendere Leben.«
Dieser Teil des Gesprächs endete in großem Schweigen. Jetzt da wir nicht mehr über Julia sprachen, gingen uns die Themen aus. Heather und Julia sprachen über eine Fantasy-Romanreihe, auf dessen Fortsetzung sie beide sehnsüchtig warteten und die Begeisterung, die in ihrer Stimme mitschwang, war kaum zu überhören.
»Ich bin schon so gespannt auf die Verlobungsfeier. Ein Maskenball. Das habe ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht«, meinte Beth schließlich erwartungsvoll und ich merkte, dass ich ihr in den letzten Minuten nur halbherzig geantwortet hatte.
»Sicher«, antwortete ich verspätet. »Das wird bestimmt ... ereignisreich.« Beth schien nicht gemerkt zu haben, dass ich für die bevorstehende Verlobungsfeier im Four Seasons ganz andere Worte fand als ereignisreich. »Heather fährt auch drauf ab«, sagte ich stattdessen und ihr Lächeln verrutschte.
»Du nicht? Ich dachte, du fändest die Idee mit dem Black and White Maskenball auch gut«, setzte sie an und ihre Unterlippe begann zu beben.
»Natürlich«, wandte ich schnell ein, »Ich freu mich schon zu sehen, was du organisiert hast. Tut mir übrigens leid, dass ich dich nicht unterstützen konnte.«
»Ach Quatsch, die Arbeit geht nun einmal vor«, winkte Beth ab, ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen. »Eigentlich hat meine Schwester das meiste organisiert, weil ich auch mit der Arbeit beschäftigt war. Sie hat wirklich ein Organisationstalent. Ich habe sie engagiert, alles für die Hochzeit zu organisieren, ich hoffe das ist okay für dich. Alles in Ordnung, Julia?« Bei dem letzten Satz legte sie die Stirn in besorgte Falten.
Julia war aufgesprungen und innerhalb eines Wimpernschlags mit gemurmelter Entschuldigung in einem Nebenzimmer verschwunden. Ihr gehetzter Blick versetzte mich in höchste Alarmbereitschaft. Bambi. Mit den großen braunen Augen sah sie genau so aus, wie ein aufgehetztes Reh im Scheinwerferlicht. Genau wie in dieser Nacht.
Alle meine Versprechungen gerieten ins Wanken, als ich aufstand, mich entschuldigte und ihr nachging. Ich fand sie an der Tür zur Küche, in der es jetzt ruhiger zuging, nachdem alle Speisen serviert worden waren.
»Hey, alles klar?« Ich hatte leise gesprochen und die Art wie sie sich ans Herz fasste, sagte mir, dass nicht alles klar war. Der Schrecken wich einer zornerfüllten Funkeln.
»Was machst du hier?«, fauchte sie mich an.
»Ich suche das Badezimmer.«
Julia blinzelte perplex. Ihr Mund verformte sich zu einem süßen kleinen O und ich konnte den Blick erst von ihren Lippen nehmen, als sie schnell nickte.
»Ja ... ja, klar. Das ist hier ... also, direkt um die Ecke.«
»Julia, das war ein Scherz«, bemerkte ich und meine Mundwinkel wollten sich in die Höhe ziehen, doch ihr Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
»Sind wir etwa schon so weit, ja? Ha ha, sehr witzig.« Sie verzog das Gesicht zu einer schrägen Grimasse. Damit wandte sie mir den Rücken zu und ihre Augen suchten den Raum durch das kleine Fenster in der Tür ab. Sie suchte etwas. Oder jemanden, flüsterte mir die kleine Stimme in meinem Kopf hilfreich zu.
»Was ist passiert?« Vielleicht lag es an dem ernsten Ton, den meine Stimme angeschlagen hatte, sie sah mich einige qualvolle Sekunden schweigsam an.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, gestand sie langsam. Sie schluckte und ihre Augen bewegten sich hektisch in ihren Höhlen.
»Ich dachte ... eigentlich ist es Blödsinn«, winkte sie ab und tat gleichgültig. Ihre Augen straften sie Lügen. Das helle Braun war erfüllt von Angst.
»Was dachtest du? Wen glaubst du, gesehen zu haben?« Mein Herz begann in meiner Brust zu pochen. Julia schluckte.
»Ich da-dachte, da wäre jemand m-mit Augenbrauenpiercing gewesen«, stotterte sie und senkte den Kopf.
»Du dachtest, du hast ihn gesehen«, stellte ich ernüchtert fest und mein Körper war sofort im Habachtstellung.
»Nein, ich ... na gut, ja, aber das ist Schwachsinn. Er kann es nicht gewesen sein. Er wäre niemals hier hereingekommen. O-oder doch?«
Ich schwieg.
»Grayson«, sagte sie und ich schloss die Augen. Die Art, wie sie meinen Namen sagte - nicht Will oder William, so wie alle anderen, sondern Grayson - machte etwas mit mir. Ich ergriff ihren Arm und strich mit dem Daumen behutsam über ihre Haut. Julia erzitterte. Sie sah auf meine Hand, holte scharf Luft, machte jedoch keine Anstalten, den Arm wegzuziehen.
»Julia, ich ...«, wollte ich ansetzen, da unterbrach uns ein Scheppern aus der Küche. Als hätte sie sich selbst bei etwas erwischt, was ihr verboten worden war, schüttelte sie den Kopf und machte einen Schritt rückwärts. Ihr Arm entglitt mir. Ich fühlte mich plötzlich leer.
»Ich sollte wieder zurück. Ich hab mich einfach vertan. Ihn verwechselt.«
Ohne ein weiteres Wort rauschte sie davon und ich blieb wie vom Donner gerührt zurück. Mein Herz polterte wie verrückt und meine Sicht verschwamm. Ich erinnerte mich an ihre Worte im Central Park. Sie hatte ihn nicht verwechselt. So ein Gesicht verwechselte man nicht. Er war hier gewesen. Hier in ihrem Zuhause. Nur wenige Schritte von ihr entfernt. Der Gedanke machte mich rasend vor Wut und die Machtlosigkeit schnürte mir die Luft zum Atmen ab. Ich lehnte die Stirn an die kühle Wand, ballte die Hand zur Faust und zwang mich ruhig zu atmen. Die Berührung ihrer Haut hatte einen Stromschlag durch meinen Körper gesandt.
»Sir?« Eine beunruhigte Stimme holte mich wieder zurück in die Gegenwart. Es war die Angestellte, die mir am Eingang meine Jacke abgenommen hatte. Besorgt ruhten ihre Augen auf meinem Gesicht, viel länger, als es angemessen war. Sie griff nach meinem Arm und in diesem Augenblick war ich ihr dankbar dafür. Sie gab mir auf merkwürdige Art und Weise Halt. Ich glaubte, sie hieß Mary.
»Geht es Ihnen gut? Kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte sie mit mütterlich besorgtem Blick.
»Geht gleich wieder«, keuchte ich und Mary ließ die Hand langsam wieder sinken. Sie wartete einige Minuten wortlos neben mir. Sie hätte meine Mutter sein können, mit dem Unterschied, dass meine Mutter einen solchen Gefühlsausbruch niemals akzeptiert hätte. Schwäche hatte in dieser Familie nichts zu suchen. Und Gefühle zeigen bedeutete Schwäche.
»Man erwartet sie im Esszimmer, Sir«, informierte Mary mich noch, eher sie schließlich pflichtbewusst in die Küche schlüpfte. Ich konnte nur nicken.
Julia saß mit zusammengefalteten Händen an ihrem Platz, als ich in das Speisezimmer zurückkehrte, nicht ohne mich vorher vergewissert zu haben, dass in der Küche niemand mit Augenbrauenpiercing und auffälligen Narben im Gesicht arbeitete. Er war längst abgehauen.
Jessica musterte mich mit säuerlichem Gesichtsausdruck, als hätten sie alle nur auf mich gewartet.
»Wir sollten wohl so langsam zum geschäftlichen Teil übergehen, meine Damen und Herren.« Mr Rodriguez hatte sich erhoben und griff nach einem Stapel auf einem Beistelltisch. Der Vertrag.
Mein Inneres zog sich schmerzhaft zusammen und ich ballte die Hände unterm Tisch zu Fäusten. Die folgende halbe Stunde verging wie im Zeitraffer. Mr Rodriguez sagte etwas, Unterlagen wurden durchgereicht, immer wieder wurden Fragen gestellt, auf die ich bloß nickte und keine Miene verzog.
»Mr Cavendish?«
Ich nahm den Füller mit tauben Fingern entgegen und spürte ihre braunen Bambi-Augen auf mir liegen. Für einen kurzen Moment verschränkten sich unsere Blicke und ich sah den Schmerz und die Verletzlichkeit darin wie Blitze umherzucken.
»Tu es nicht. Leg den Stift weg und geh. Tu einmal das Richtige in deinem Leben«, forderte mich meine innere Stimme ungehalten auf. Kopf und Herz rangen miteinander. Das Richtige zu tun war nicht immer einfach. Aber war es überhaupt das Richtige, wenn ich damit andere Menschen verletzte? Henry, Julia, Beth, Heather, mich. Egal, was ich tat, irgendjemand wurde dabei unwiderruflich verletzt. Manchmal musste man das Falsche tun, um am Ende das Richtige tun zu können. Nur, dass das hier nicht einfach nur falsch war, sondern absolut, eindeutig falsch.
Julia zu helfen, ihren Stalker loszuwerden, stand nun an erster Stelle. Dafür musste ich in ihrer Nähe sein und um das zu erreichen, war ich gewillt einiges zu tun. Sie hatte die Organisation der Hochzeit übernommen – was war also naheliegender als etwas zur Organisation beizusteuern? Mir war schlecht bei meinen eigenen Gedanken.
In meiner Brust hämmerte es wild. Der Strang um meinen Hals zog sich weiter zu. Mit zitternden Händen setzte ich die Feder auf und unterschrieb den Vertrag.
Denn letztendlich war ich genau das Arschloch, das sie in mir sah.
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