29. Kapitel
Fuck.
Fuck. Ich hatte es verkackt. Und zwar so richtig. Der Kapitän der Titanic war nichts dagegen. Absolut. Nichts. Die Wut auf mich selbst fraß sich durch meine Adern.
Julia starrte mich über den Esstisch so feindselig an, als wäre ich ein ekelhafter Parasit, den sie mit ihren High Heels zerquetschen oder dem sie alternativ den Hals dafür umdrehen wollte, dass er mit ihrer Schwester lachte, während er sich trockenes Hühnchen in den Mund stopfte und dabei offensichtlich den Spaß seines Lebens hatte. Dabei war es gar kein echtes Lachen, das meine Kehle verließ. Es war ein gequältes, ein falsches Lachen. Ich verabscheute mich selbst dafür, dass es mir so leicht über die Lippen kam.
Ja, es war leicht, ihr etwas vorzuspielen. Ihnen allen etwas vorzuspielen. Allen voran mir selbst. Dass ich mich mit der Situation angefreundet hatte und Beth und ich uns gut verstanden. Dass ich mich auf die Hochzeit freute und es mich nicht quälte Julia direkt vor mir zu haben und nicht berühren zu können.
Mit jeder vergangenen Sekunde spürte ich, wie sich der Strick um meinen Hals enger zuzog. Meine Eingeweide rebellierten nicht zum ersten Mal, als Beth etwas sagte, lachte und ich automatisch in ihr Lachen mit einfiel. Als wäre ich ein verdammter Roboter, den man darauf programmiert hatte zu funktionieren, aber nicht zu denken. Jessica musste wirklich stolz sein, denn für einen Augenblick sah ich so etwas Ähnliches wie Anerkennung in ihren Augen aufblitzen. Ich verabscheute mich selbst.
Dabei war sie es, die mir diese Kniffe beigebracht hatte. Ich war vielleicht ein guter Schauspieler, aber Jessica war eine meisterhafte Schauspielerin. Ein gut platzierter Witz, ein beschämt wirkender Augenaufschlag, ein Lachen und Zack - Erfolg. Was sie wollte, bekam sie, koste es, was es wolle. Und in diesem Augenblick wollte sie, dass ich mit Bethany Wentworth zusammen lachte und eine Beziehung aufbaute.
Und ich hätte es getan, genauso wie sie es wollte. Aber so? Alles in mir sträubte sich dagegen, ihr weh zu tun. Denn das tat ich, seit ich den Fuß in dieses verdammte Penthouse gesetzt hatte.
Was mich daran am meisten störte, war, dass Julia das alles zu durchschauen schien. Das gesamte Theaterstück, so gut einstudiert es auch war, war nichts weiter als eine Farce in ihren Augen. Sie verstand sich gut mit Heather, was ich befürwortete, aber mir gleichzeitig auch Sorgen bereitete.
Sie saß mir direkt gegenüber, was es für mich umso schwieriger machte, mich auf die Konversation mit ihrer Schwester zu konzentrieren. Ironie des Schicksals nannte sich das wohl, hatte ich mal gehört. Hier saß ich mit meiner Fast-Verlobten am Esstisch zusammen mit unseren Familien und die einzige Person, die mich wirklich interessierte, war ihre kleine Schwester, bei der ich so ziemlich alles fühlte, was ich nicht fühlen sollte. Plus einer engen Hose. Großartig.
Abermals hallten ihre Worte in meinem Kopf wider. Du bist nicht der, für den ich dich gehalten habe. Bei ihrem Ausbruch war ich kurz davor gewesen, ihr Gesicht mit den Händen zu umfassen und sie so nah an mich heranzuziehen, dass sie mir in die Augen sehen musste, wenn ich die folgenden Worte laut aussprach. Denn ich würde sie ganz bestimmt kein zweites Mal aussprechen. Sie war die einzige Person, die mich kannte. Mich. Nicht die Version eines partysüchtigen Womanizers, der mich auf Instagram und TikTok verfolgte, denn wie man schließlich wusste, vergaß das Internet nicht. Meine Fehltritte waren für die Ewigkeit.
In ihrer Nähe war ich auch nicht der professionelle Mr Cavendish Junior, dem man mit Respekt begegnete, wenn er durch die Flure bei Cavendish Corp. lief und dabei nur grimmig nickte.
Ich war mehr bei mir, wenn ich mit Julia sprach, als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in meinem Leben.
Jetzt ergab es Sinn, warum sie mich so gut verstand. Sie war eine Wentworth. Den Namen Cavendish hatte sie womöglich bereits mit der Muttermilch aufgesaugt. So wie ich mit ihrem Namen aufgewachsen war und dabei meist nur Abscheu in der Stimme meiner Eltern wahrgenommen hatte, dicht gefolgt von Neid und einer Kopfschmerzen bereitenden Art von Ehrfurcht.
Ihre Worte schmerzten so sehr, wie ein vernichtender Tritt in die Leistengegend und hätte ich es gekonnt, hätte ich die Zeit zurückgedreht und das alles ungeschehen gemacht.
Doch es war geschehen. Wir hatten uns kennengelernt, wir hatten ... ich weiß auch nicht, so etwas wie eine Freundschaft zueinander aufgebaut? Wobei Freunde so nicht fühlen sollten. Dazu dieses andauernde fragen, wo sie gerade war und was sie gerade tat, inklusive dem nagenden Drang sie beschützen zu wollen, denn in New York zu leben und zu überleben war nicht immer ein leichtes. Es klang schräg, es war schräg und es hatte sich echt angefühlt. Verdammt echt. Und jetzt hatte ich es endgültig verkackt.
Warum hatte ich sie nicht nach ihren Eltern gefragt? An ihrer Art, wenn sie über sie gesprochen hatte, hätte mich aufhorchen lassen sollen, doch ich hatte einfach nicht weiter nachgehakt. Eigentlich reichte es ja auch aus, zu wissen, dass ihre Familie Geld besaß. Wobei selbst das keine Rolle spielte, jedenfalls für mich nicht. In anderen Kreisen der High Society mochte das anders aussehen. Ein Name würde auch nichts zwischen uns ändern. Wenn sie nicht gerade Wentworth heißen würde.
Ich konnte nur darüber spekulieren, warum sie ihren Namen verschwiegen hatte und vermutlich hatte sie es aus ähnlichen Gründen getan wie ich. Wenn man Cavendish oder Wentworth hieß, stiegen die Erwartungen exponentiell je älter man wurde. Und ich hatte sie damit nicht abschrecken wollen. Es klang wie eine lahme Ausrede für meine Taten, doch es entsprach der Wahrheit.
Ich war genau das Arschloch, das sie in mir sah. Irgendwann musste es schließlich so kommen. Und seien wir ehrlich: was hatte ich erwartet? Dass sich meine Probleme irgendwann wie aus heiterem Himmel in Luft auflösen würden und ich ihr nie erzählen musste, dass ich einmal für kurze Zeit verlobt gewesen war? Vielleicht. Es war leichtsinnig gewesen, zu glauben, dass sich mein Schicksal frühzeitig wenden würde.
Warum hatte ich ihr also nicht einfach die Wahrheit gesagt? Hey, schön dich kennenzulernen. Ach, übrigens, ich bin verlobt mit jemandem den ich kaum kenne und den ich nicht liebe. Aber lass dich davon nicht stören, ich würde dich gerne weiterhin treffen, weil ich spüre, dass da irgendwas ist. Heiraten werde ich natürlich trotzdem, weil meine Mutter mich damit erpresst und mein Bruder sonst irgendwo in der Gosse landet.
Alles in allem sehr ausbaufähig. Aber allemal besser, als so aufs Glatteis geführt zu werden. Natürlich hätte eine frühere Wahrheit es nicht besser gemacht als diese späte Wahrheit, jedenfalls nicht viel. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wusste ich auch, warum ich es nicht getan hatte. Ein Teil von mir – und das war der idiotische Teil – hatte Hoffnung gehabt, dass aus diesem Vielleicht doch mehr hätte werden können als eine »Unter anderen Umständen«-Situation.
Als hätte ich je eine Wahl gehabt.
Wie dumm von mir.
Sie hatte jedes Recht der Welt, wütend auf mich zu sein.
Und, oh, wie wütend sie war. Würde ich mich nicht selbst hassen, würde ich es verdammt süß finden. Die steile Falte auf ihrer Stirn, die zu Schlitzen verengten Augen, die roten Stressflecken an ihrem Hals, die hinabwanderten zu einem tiefen Ausschnitt. Fuck.
Reiß dich zusammen, meldete sich die nervige innere Stimme, die natürlich absolut recht hatte.
Ich versuchte mich auf etwas anderes zu konzentrieren und mein Blick fiel auf das goldene Besteck. Ich schnaubte leise. Noch übertriebener ging es nicht, oder? Doch wenn ich die Innenarchitektur des Penthouses genauer betrachtete, hatten die Wentworths wohl ein Faible für alles, was Gold und Schwarz war.
Unter dem Tisch trat mir Heather gegen das Bein und ich atmete scharf ein. Sie nickte auffordernd zu Beth herüber. Als ich nichts sagte, rollte sie mit den Augen.
»Beth«, ergriff sie das Wort. »Warst du schon bei Bloomingdale's? Die sollen letzte Woche superschöne Sachen reinbekommen haben. Wegen eurer Wohnung, meine ich. Nur so zur Inspiration natürlich. Geh doch mal mit Will zusammen hin.«
Beth zögerte verlegen.
»Wenn du Lust hast?«, ließ sie die Frage in der Luft hängen. Heather grinste spitzbübisch. Danke, Schwester.
»Klar, warum nicht«, sagte ich nach einer langen Pause und rang mir ein verflucht falsches Lächeln ab, das an meinen Mundwinkeln schmerzte.
»Prima! Wie wär's mit nächster Woche Samstag?«
»Da bin ich arbeiten«, gab ich schnell zurück und vor Erleichterung wurde mir ganz schummrig. Oder es war der Alkohol, der endlich Wirkung zeigte. Der wievielte Whiskey war das? Keine Ahnung.
»Die Start-Ups?«
»Genau«, sagte ich gedehnt, denn ich wusste nicht, von wem sie diese Information besaß. Ich hatte es ihr jedenfalls nicht erzählt.
»Julia interessiert sich für Start-Ups, stimmts?« Argwöhnisch studierte ich ihre Gesichtszüge und las nichts als Argwohn darin, was beinahe noch mehr brannte als ihre Worte vorhin.
»Ja, stimmt.« Bethany lächelte und schien die frostige Stimmung überhaupt nicht wahrzunehmen. Heather warf mir einen fragenden Blick zu, den ich gekonnt ignorierte. Soll sie doch denken, was sie will.
»Ein Freund von ihr investiert in Start-Ups«, fuhr Beth ungerührt fort und wackelte anzüglich mit den Brauen.
»Beth!«, ermahnte Julia sie mit hochrotem Kopf und in mir regte sich etwas.
»Ach Jules, ich will dich doch bloß ein wenig ärgern. Ich weiß doch, dass du schon vergeben bist. Sie hat ihren Freund in Oxford kennengelernt. In der ersten Vorlesung hat er seine Cola auf ihrer Hose verschüttet. Ein Meet cute wie es im Buche steht. Julia liebt Bücher, müsst ihr wissen und ... rede ich wieder zu viel?«
Ihr ... was?
»Du hast einen Freund?«, fragte ich scharf und die Röte pulsierte in ihren Wangen.
»Nein, habe ich nicht!«
»Aber was ist mit ...«, stotterte Beth bedrückt und sah plötzlich so niedergeschlagen aus, dass ich ihr ihre Verwirrung voll abkaufte.
»Wir haben uns getrennt, okay? Lange vor meiner Ankunft hier und ich bin längst über ihn hinweg, also bloß kein Mitleid. Das ist keine große Sache.« Sie warf mir einen scharfen Blick zu und würde das Sprichwort stimmen, wäre ich jetzt verdammt tot. Die Message dahinter war klar und deutlich bei mir angekommen. War er der Freund, von dem sie mir erzählt hatte? Der, der mit ihrer Erdnuss-Allergie so leichtsinnig umgegangen war und sie ins Krankenhaus gebracht hatte? Vermutlich. Und sie hatte sich getrennt. Was die absolut richtige Entscheidung gewesen war, obwohl es mir natürlich nicht zustand ihre Entscheidungen zu beurteilen.
Sie war nicht diejenige, die sich mit anderen Leuten traf, wenn sie in einer Beziehung war. Der Arsch war ich. Und ich wusste es. Ein weiterer Gedanke zerquetschte mir das Herz.
Warum behielt sie es für sich? Warum mich nicht vor versammelter Mannschaft auflaufen lassen, als der Arsch, der Herzklopfen bei anderen Frauen bekam und nicht bei seiner verdammten Verlobten? Die Antwort war einfach und sie schmerzte vielleicht gerade deswegen umso mehr. Weil sie ein guter Mensch ist. Weil sie ihre Schwester liebt und ihr nicht wehtun möchte. Weil sie mit diesem Schmerz, den ich ihr bereitet habe, besser umgehen kann, als sie sollte.
»Oh, Julia, es ...«
»Ich sagte kein Mitleid, schon vergessen?« Dann warf sie mir erneut einen schnellen Blick zu, der mehr als tausend Worte sagte. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und mein Magen setzte alles daran das kalte Hühnchen wieder an die Oberfläche zu befördern.
»Dann kannst du Julia vielleicht einmal mitnehmen, wenn du auf Start-up-Tour bist, oder? Ich habe gehört, Start-ups gehören zu den besten Investitionen, die man machen kann. Und damit kann man schließlich nicht früh genug anfangen«, unternahm Heather den Versuch, auf unsere Ausgangskonversation zurückzukommen. Die Stimmung war ein wenig gedrückt.
»Das wäre wundervoll«, meinte Julia und schaffte es tatsächlich ehrlich dabei zu klingen. Ihre Augen sagten etwas anderes. Mordlust, das war es.
Ich kam nicht umhin festzustellen, dass sich in ihren braunen Augen Sprenkel von Gold und Grün befanden. Je nachdem, wie sie den Kopf hielt, entfachte darin ein wahres Feuerwerk.
Ein Fuß – Heathers – traf mich unter dem Tisch und ich schloss für ein paar Sekunden gequält die Augen.
Ich bin ja sowas von komplett am Arsch.
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