27. Kapitel
»Wo ist denn Will?«, fragte Beth leise und schaute erwartungsvoll auf die Tür, die Mary diskret hinter William Cavendish Senior schloss. Sie waren zu spät. Eine Viertelstunde vor dem geplanten Empfang hatte Hilary uns im Eingang platziert, damit wir alle anwesend waren, wenn Ihre königliche Hoheit erschien, um sie gebührend zu begrüßen. Und dann kamen sie eine halbe Stunde zu spät. Hilary war fast durchgedreht. Ich hatte das Gefühl mich gleich übergeben zu müssen. John war weiß der Geier woher erschienen und hatte sich pflichtbewusst an meine Seite gestellt. Eine Hand hatte er kurz auf meine Schulter gelegt und beschwichtigend gedrückt und ich hatte nur leise geseufzt. Hilary hatte ihn nicht beachtet, sondern wieder nur an Beths Kleid herumgezupft, was Beths Nervosität auch nicht gerade milderte. Wie durch ein Wunder, hatte sie meine Kleider-Rebellion jedoch nicht bemerkt.
Es kostete mich einiges an Selbstbeherrschung, nicht vielsagend eine Augenbraue zu heben. Will. Ob Will sich auch schon einen Spitznamen für sie ausgesucht hatte? Wann waren sie überhaupt zu Spitznamen übergegangen? Ich dachte, sie kannten sich nur flüchtig. Stirnrunzelnd betrachtete ich unsere gerade eingetroffenen Gäste.
Jessica Cavendish trug ein schwarzes Kleid, das ihre rostroten Haare besonders hervorhob. Sie wirkten beinahe wie Flammen. Das Kleid schmiegte sich eng an ihre sportliche Figur und sie sah aus wie eine Kriegerin. Eine Kriegerin, die gerade in den Kampf gezogen war. Da war mir Mr Cavendish schon sympathischer. Wenn auch nicht viel. Ein aufrichtiges Lächeln hätte seinem Gesicht ganz gutgetan, doch mit den grauen Haaren, der steifen Haltung und den leblosen Augen, könnte er auch als Statue durchgehen. Ernst begrüßte er John, machte ihm Komplimente über seinen Smoking, ehe er auch mir die Hand reichte.
Sein forschender Blick überrollte mich mit der Intensität einer Dampfwalze. Hatte ich seine Augen als leblos bezeichnet? Ein Schauer lief über meinen Rücken. Sie waren alles, aber nicht leblos, musste ich mich selbst korrigieren. Eiskalt und berechnend, wie Eissplitter, die sich in meine Haut bohrten und mich damit zur vollkommenen Bewegungslosigkeit zwangen. Dennoch war da etwas an seinem Auftreten, das sich widersprach. Einerseits wirkte er bedrohlich, selbst das Lächeln um seine Lippen war hart, andererseits flammte hinter seinen Augen auch so etwas wie Belustigung auf. Über die Verlobung? Über die Versuche meiner Mutter alles perfekt aussehen zu lassen, was in Wirklichkeit alles war, aber nicht perfekt? Ich wusste es nicht und ich sollte es wohl auch nicht herausfinden.
»William Cavendish. Und Sie müssen wohl Bethanys Schwester sein. Jil, richtig?« Seine Stimme war rauchig und obwohl er leise sprach, klang jedes seiner Worte wie eine Drohung. Ich schluckte. Einschüchternd, das war das richtige Wort, das William Cavendish Senior am besten beschrieb.
»Julia«, berichtigte ich ihn räuspernd, »Es freut mich, Sie kennenzulernen.« Einfach lächeln, lächeln und winken. Meine Kiefer spannten sich bereits.
»Hm.« Er nickte.
Damit war die Unterhaltung mit Mr Cavendish Senior, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte, bereits beendet. Doch die Eiseskälte fiel keineswegs von mir ab. William Cavendish Senior war ein unangenehmer Mensch, doch gegen seine Frau wirkte er wie ein zahmes Schoßhündchen. Diese Frau bekam, was sie wollte, und wenn sie dabei über Leichen gehen musste. Sie war alles, was ich im tiefsten Inneren verabscheute. Arroganz, Habgier und Überheblichkeit in einer Person. Eine Gänsehaut jagte über meinen Körper.
Anders als ihr Mann ließ mich Mrs Cavendish nicht so schnell vom Haken. Sie war eine bessere Schauspielerin. Würde sie nicht das gleiche Spiel spielen, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie genauso wenig hier sein wollte wie ich. Für meine Eltern und Bethany erschien sie womöglich aufrichtig erfreut, aber ich durchschaute sie.
»Miss Wentworth. Schön, dass wir uns endlich begegnen.« Sie lächelte und zog mich überraschend in eine Umarmung. Eine verdammt gute Schauspielerin.
»Es freut mich ebenfalls, Mrs Cavendish.«
»Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Sie studieren an der Columbia?«
Meine Eltern horchten auf. Warnend zuckten Hilarys Augen zu uns herüber und ich bemühte mich, den Schmerz, den diese Worte immer noch in mir auslösten, zu ignorieren.
»Ab nächsten Herbst, richtig. Ich habe gerade erst den Bachelor in Oxford gemacht.«
Gönnerhaft hoben sich ihre Augenbrauen. Nur einen Augenblick, dann saß das perfekte Lächeln wieder an Ort und Stelle.
»Oxford? Wie schön. Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie, wobei das Lächeln ihre Augen nicht erreichte. »Und was studieren Sie, Liebes?«
»Ich studiere Management im Master-Programm.«
Ich kam mir mehr und mehr vor wie die Maus in der Falle, während die ausgehungerte Katze hungrig ihre nächste Mahlzeit betrachtete und sich die Pfoten leckte.
»Oh, wie schön. Wie unser William. Liebes, machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind in guten Händen. Professor Langley wird sich ihrer sicherlich annehmen, nicht wahr?« Lächelnd wandte sie sich an meine Mutter.
»Aber natürlich. Sie wird seine neue Assistentin.«
Ich fuhr zu ihr herum. Panik keimte in mir auf. Ich hatte das Angebot mehr als deutlich abgelehnt! Das Letzte, was ich wollte, war, dass sich Professor Langley meiner annahm. Auf diesen Stoff freuten sich True Crime Podcasts.
»Wie wunderbar. Professor Langley ist eine wahre Koryphäe auf seinem Gebiet.« Welchem Gebiet denn bitte? Dem Studentinnen-ungefragt-an-den-Hintern-grapschen-Gebiet?
Ich lächelte gezwungen und ballte die Hände zu Fäusten, während es in mir brodelte. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen. Hilary sprach mit Mr Cavendish, als wäre nichts gewesen. Der Wechsel an die Columbia war eine Sache. Aber das hier ging absolut nicht. Auf keinen Fall werde ich für diesen Mann arbeiten.
»Nun denn.«
Mehr hatte Mrs Cavendish glücklicherweise nicht zu sagen. Dann wurden die Neuankömmlinge Mr Rodriguez vorgestellt, der sich auch jetzt nicht zu einem Lächeln durchringen konnte. Er machte höfliche Konversation und hielt sich ansonsten im Hintergrund. Offenbar hielt er genauso wenig von den Cavendishs. Ihr Anwalt hatte das Dinner abgesagt, nun war er allein für den geschäftlichen Part zuständig.
Die Einzige im Bunde, die keine Maske aus Höflichkeit trug, war ein Mädchen, etwa in meinem Alter mit neugierigen Augen, die sich im Empfangsbereich umsahen. Das Lächeln wirkte gestelzt und auf alle Fälle war auch sie nicht freiwillig hier. Die protzige Einrichtung war mir ein wenig peinlich. Sie trug ein Kleid aus dunkelgrünem Stoff, passend zu ihren Augen, das bis auf den Boden reichte. Ich verbarg das Grinsen, als ich sah, dass sie darunter gemütliche abgetragene Chucks trug. Sie war eindeutig schlauer als jeder der hier Anwesenden. Dass meine Füße, die in blutabschnürenden High Heels steckten, später höllisch schmerzen würden, war eine grauenhafte Tatsache.
Sie fing meinen Blick auf und grinste schief. Unauffällig legte sie den Zeigefinger an die Lippen und ich grinste zurück. Heather gefiel mir. Das war doch ein guter Anfang. Vielleicht würde Beths Verlobter ja wirklich ganz nett sein. Immerhin waren er und seine Schwester zusammen aufgewachsen. So verschieden konnten sie dann doch nicht sein, oder?
Mrs Cavendish lächelte Beth vertrauenswürdig an, doch ihr Lächeln führte nur dazu, dass sich meine Gänsehaut intensivierte. Ich fragte mich, wie Beth dabei so glücklich aussehen konnte. Ob sie wirklich glaubte, dass Mrs Cavendish es gut mit ihr meinte? Ich registrierte jede ihrer Bewegungen. Offensichtlich befand ich mich noch immer im Beschützer-Modus. Es war schwer alte Angewohnheiten einfach so abzustellen.
»William lässt sich entschuldigen, Liebes. Er kommt nach. Er hat einen geschäftlichen Anruf bekommen, den er annehmen musste.«
»Natürlich, ja, die Arbeit schläft nie.« Mein Vater lachte, als habe er den Witz des Jahrhunderts gerissen und etwas an seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Hatte er getrunken? Verdammt, ich musste so schnell wie möglich hier raus. Hilary war es sicher auch aufgefallen und selbst Beth schielte verstohlen zu ihm herüber, während sie mit Mrs Cavendish sprach.
»Es ist schön zu sehen, dass sich ihr Sohn so ins Geschäft einbringt«, lobte Hilary schnell und ihre Augen schnellten zu mir. »Wenn sich die Kinder für die Arbeit ihrer Eltern interessieren, ist das ein Geschenk.« Autsch. Der Seitenhieb saß. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Mr und Mrs Cavendish glücklicherweise entgangen war. Dafür lag Heathers Blick mit einem Mal interessiert auf mir. Ich rollte theatralisch mit den Augen. Dass Mrs Cavendish ebenfalls kurz das Gesicht verzogen hatte, war mir fast entgangen. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
Es klingelte erneut und Mary beeilte sich die Tür für unseren letzten Gast zu öffnen.
»Ah, da ist er ja schon.« Sichtlich erleichtert, fast so, als habe sie mit einer Flucht gerechnet, schlug Mrs Cavendish die Hände zusammen. Alle Aufmerksamkeit war auf die Tür gerichtet, meine inbegriffen. Ich machte mich automatisch größer.
»Guten Abend. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich hoffe, ich habe nichts verpasst?«
William Cavendish Junior, der Verlobte meiner Schwester, trat ein und füllte den großzügigen Eingangsbereich mit seiner unvergleichbaren Präsenz, die mein Herz zum Stolpern brachte. Mir stockte der Atem. William. Fucking. Cavendish.
Da stand er, höflich lächelnd, während er Mary seinen Mantel reichte.
Seine Ankunft war der letzte Anstoß, der meine kleine heile Welt wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen ließ. Zurück blieb ein kümmerlicher Haufen Schutt und Asche - und mittendrin mein geschundenes Herz.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro