24. Kapitel
Die Stunden, die ich mit Grayson spazierend durch den Central Park verbrachte, gehörten zu den schönsten Stunden seit Langem. Trotz der Geschichte mit Narbengesicht. Kaum zu glauben, dass ich ihm erst vor wenigen Stunden wieder begegnet war. Es fühlte sich an wie ein anderes Leben. Oder zumindest weit entfernt. Mit Grayson an meiner Seite fühlte sich einfach alles weit entfernt an. Alle Probleme, die ich hatte, der Stress, den mir der Wechsel an die Columbia jetzt schon machte und die Sorge, dass sich Beth in eine ausweglose Katastrophe befördert hatte, verschwanden, wenn ich mit ihm über Gott und die Welt philosophierte.
»Zuhause bekomme ich einfach keine Ruhe. Selbst wenn meine Eltern nicht da sind - und das sind sie eigentlich meistens. Irgendwas ist einfach immer. Mal ist es meine Schwester, mal ein Unfall auf der Straße oder eine Baustelle«, plauderte ich in diesem Moment munter aus meinem alltäglichen Leben. Grayson hing an meinen Lippen, als wäre ich die Präsidentin der Vereinigten Staaten und hielt gerade meine Rede zur Amtseinführung. Dabei war es wirklich nichts Besonderes, es war einfach ... mein Leben.
»Na ja, deswegen setze ich mich gerne in den Central Park, wenn ich Zeit habe«, schloss ich lahm.
»In den Central Park?«, fragte er skeptisch und ich musste über seine übertriebene Reaktion lächeln.
»Hier finde ich jedenfalls mehr Ruhe als zuhause«, gestand ich.
»Was machst du dann? Setzt du dich einfach auf eine Bank und beobachtest die Menschen?« Seinem Tonfall zu Urteilen war er in seinem früheren Leben noch nie auf die Idee gekommen, sich einfach in den Central Park zu setzen und sich zu entspannen.
»Manchmal, ja. Aber hauptsächlich lese ich. Es gibt nichts Entspannteres, als im Sommer zwischen den Bäumen zu sitzen, das Rascheln über sich zu hören und die Leute zu beobachten, die an einem vorbeigehen oder die in der Nähe picknicken.«
Grayson blinzelte überrascht, offensichtlich hielt er mich für übergeschnappt.
»Nun guck nicht so verdattert. Das bringt einen wirklich extrem herunter. Außerdem wollte ich früher mal Literatur studieren. Und wenn ich hier sitze, ist das die einzige Möglichkeit für mich, wenigstens hin und wieder in Ruhe zu lesen.«
Etwas, was so gut wie niemand von mir wusste, und was ich nun bereitwillig mit Grayson teilte, war, dass meine Liebe für Literatur so weit ging, dass ich nach jedem Buch, das ich las und auch nach jedem Film, den ich mir anschaute, eine Rezension verfasste mit meinen tiefsten Gedanken und Empfindungen. Diese Kritiken schrieb ich nur für mich. Kein Mensch hatte sie je zu Gesicht bekommen und das sollte auch so bleiben. Für mich war es jedoch interessant zu sehen, wie sich mein Geschmack über die Jahre gewandelt hatte und wie anders manche Bücher und Filme nach Jahren auf mich wirkten.
So würde ich beispielsweise auch nach zwanzig Jahren immer noch an den gleichen Stellen von Stolz und Vorurteil anfangen zu weinen, während ich mir manche Filme, die ich früher geliebt hatte, heute nicht einmal ansehen konnte, ohne zusammenzuzucken und meine Zurechnungsfähigkeit als Teenager in Frage zu stellen. Ich hätte gerne einen Blog gehabt, auf dem ich das Alles niederschreiben könnte, aber für einen Blog, der sehr viel aufwendiger gewesen wäre als ein paar Notizen in einem zerfledderten Notizbuch, fehlte mir schlicht und einfach die Zeit.
»Wenn dir so viel an einem Literaturstudium liegt, warum hast du es dann nicht getan?«
Dieses Mal kamen mir die Worte schwerer über die Lippen. Wie tonnenschwere Betonklötze rollten sie über meine Zunge und verhakten sich ineinander, sodass sie nur holpernd herauskamen. »Der Studiengang ist zwar interessant, aber hat keine Zukunftsmöglichkeiten. Mit Management finde ich stattdessen immer eine Arbeit, ganz egal wo es mich irgendwann einmal hinzieht«, sagte ich tonlos.
Er durchschaute mich viel zu schnell.
»Sind das die Worte deiner Eltern?«
»Sie meinen es ja nicht böse damit. Sie wollen nur nicht, dass ich irgendwann ohne Job dastehe«, sagte ich und glaubte dabei selbst kein Wort. Warum genau ich den Drang verspürte, meine Eltern zu verteidigen, war mir ebenfalls ein Rätsel.
»Klar.« Er nickte einsichtig und ich atmete bereits erleichtert auf, als er weitersprach. »Einen Job zu haben, den man hasst, ist ja auch so viel besser als überhaupt keinen Job zu haben.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Ich holte hörbar Luft und in meinem Inneren zerriss etwas. Vielleicht war es mein Geduldsfaden, der in dieser Angelegenheit prinzipiell zu kurz war.
»Es ist leicht so etwas zu sagen, wenn man noch nie ohne Essen ins Bett gegangen ist. Nicht als Strafe, weil du irgendeinen Scheiß gebaut hast, sondern weil das Geld diesen Monat nicht ausreicht, um etwas zu essen zu kaufen.«
Die Erinnerungen prasselten auf mich ein. Ich war wieder zwölf Jahre alt, kuschelte mich in meine viel zu dünne Decke, wie einen Burrito und zitterte wie Espenlaub. Neben mir lag Beth, die noch mehr zitterte und noch mehr hustete. Mein Magen knurrte und ich presste meine schmalen Hände darauf, damit das Geräusch erstarb. Gegen Monatsende wurde das Geld immer knapp. Die Medizin für Beth war das Letzte gewesen, was Mama gekauft hatte. Ich hatte so großen Hunger, dass sich jeder Bissen in meinem Mund zu Staub verwandelte. Mein Magen knurrte zwar so laut und fordernd, dass sich selbst Mrs Humphrey im Englischunterricht staunend umgedreht und scherzhaft gefragt hatte, ob jemand heute kein Frühstück gehabt hatte. Zum Frühstück hatte ich kaum eine halbe Packung Kekse gefuttert. Die Kekse hatten nach nichts geschmeckt.
»Du verstehst das nicht.«
Aus irgendeinem Grund erheiterte ihn dieser Kommentar noch mehr. Er lachte, doch das Lachen erreichte seine Augen nicht. Daraus funkelte mir unterdrückter Zorn entgegen, der mich schaudern und gleichzeitig neugierig nähertreten ließ.
»Wenn ich eines weiß, dann das. Du wirst nicht glücklich, indem du das tust, was deine Eltern von dir erwarten oder in deinem Fall wohl eher von dir verlangen. Das macht dich nur verbittert.«
»Da spricht wohl jemand aus Erfahrung«, schnaubte ich verdrossen und drehte den Kopf weg.
Ein kehliger Laut entfuhr ihm und ließ mich wieder zu ihm blicken.
»Ja«, hauchte er. Mehr sagte er nicht. Mir wurde eiskalt.
Ein immens großes schlechtes Gewissen überrollte mich. Meine Gefühle wurden erbarmungslos durch den Fleischwolf gejagt, bis sie sich in armseligster und befreiendster Form vor ihm ausbreiteten.
»Manchmal denke ich einfach, dass ich kein Recht habe, mich zu beschweren. Mein Gott, wer kann von sich schon behaupten, dass er die Wahl zwischen Oxford und Columbia hat und sich dann auch noch beschweren? Das ist doch krank.«
Grayson, der offenbar genau wusste, wie ich empfand, schüttelte den Kopf. Seine Hände begannen an seinen Fingernägeln zu knibbeln.
»Nur weil du denkst, dass deine Gefühle keine Berechtigung haben, heißt das noch lange nicht, dass das wirklich so ist. Du darfst so fühlen. Und auch wenn es dir und deiner Familie besser geht als so manch anderer Familie in Amerika, darfst du dich verloren fühlen. Geld ist Fluch und Segen zugleich.«
»Denkst du oft darüber nach? Ich meine, was aus dir geworden wäre, wenn deine Eltern nicht wohlhabend wären?« Er zuckte augenblicklich zusammen, als hätte ich mit meinen Worten einen Kübel Eiswasser direkt über seinem Kopf ausgeleert. Er überlegte eine Weile.
»Ehrlich gesagt, viel zu oft. Und du?«
»Jeden Tag.« Und jedes Mal kam die Frage hinzu, ob es uns damit nicht insgeheim besser gehen würde.
Wir schwiegen eine Weile und es war die Art von Schweigen, in der man seinen Gedanken nachgehen konnte ohne die Stille als unangenehm aufzufassen. Mit Grayson zusammen zu schweigen, fühlte sich besser an, als mit so manch anderer Person zu sprechen. Auf Anhieb fielen mir da schon ein paar Leute ein.
Grayson räusperte sich vernehmlich und ich legte den Kopf schief, während ich ihn betrachtete.
»Was ich eben eigentlich sagen wollte: Das zu tun, was andere von dir erwarten, obwohl sie es vielleicht gut mit dir meinen, tut dir auf Dauer einfach nicht gut und es macht dich auch nicht glücklich. Ganz gleich, wie oft du dir das vorm Spiegel auch einredest. Manchmal muss man eben das scheinbar Falsche tun, um glücklich zu sein.«
Vor Überraschung formte sich mein Mund zu einem O.
»An dir ist ein wahrer Philosoph verloren gegangen«, bemerkte ich staunend und Graysons Brust schwoll vor Stolz an.
»Na ja, du hast schon recht. Es wäre schon schön zur Abwechslung mal ein wenig mehr Freizeit zu haben und nicht immer nur von einem Termin zum nächsten zu hetzen. Meine Eltern haben meinen Terminkalender fest im Griff.« Ich war ihm dankbar, dass er nicht weiter nachhakte, denn über die Hochzeit wollte ich überhaupt nicht reden.
»Eigentlich habe ich immer erst gegen Abend frei und dann muss ich früh ins Bett, weil ich morgens sonst nicht rauskomme. Ein eigener Blog, über Filme und Bücher schreiben. Ich glaube, das würde mir gefallen«, gestand ich und versuchte zu überspielen, wie peinlich mir meine Worte insgeheim waren. Wenn er meine Gefühle nicht ohnehin schon aus meinem Gesicht ablesen konnte. Ich war eine hundsmiserable Lügnerin.
Doch Grayson nickte verständnisvoll und ich drohte mich in dem Grün seiner Augen zu verlieren.
»Du solltest es tun, wenn du so viel Spaß daran hast. Du kannst klein anfangen. Alle großen Blogger fangen irgendwann mal an. Was hast du zu verlieren?«, antwortete er. Ich blies die Backen auf und ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen. Was hatte ich zu verlieren? Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus wie bei der Sonne, dessen Strahlen unverhofft durch eine Wolkendecke brachen und mein Gesicht erwärmten. Alle Sorgen wirkten auf einmal gar nicht mehr so groß. Ich mochte diesen Effekt, den Grayson auf mich hatte. Er war meine eigene Sonne.
Zu schnell wich der Nachmittag den frühen Abendstunden. Wir hatten den Rand des Central Parks erreicht und das Vogelgezwitscher und das Geschrei der lachenden Kinder wurde von hupenden Autos abgelöst. Ich sah Mr Alexander – oder Jaime, wie Nylah ihn nannte – mit düsterem Gesichtsausdruck auf der anderen Straßenseite auf mich warten.
Mein Chauffeur und Teilzeitbabysitter Mr Alexander zeichnete sich durch eine entschiedene Wortkargheit aus. Ich hatte noch nie mehr als drei Worte auf einmal aus ihm herausgekitzelt und ich hatte es – starrköpfig wie ich war – wirklich mit allen mir verfügbaren Mitteln versucht. Obwohl er so wenig sprach und mich oft nicht länger als ein paar Sekunden anschaute, mochte ich ihn. Vielleicht lag es daran, dass er schon seit Jahren für meine Eltern arbeitete und ich ihn einfach dafür bewundern musste, nicht schon längst das Handtuch geworfen zu haben. Langjährige Mitarbeiter wie Mr Alexander, Mary oder Mr Rodriguez, unser Anwalt, waren selten geworden. Die wenigsten schafften es über einen Monat. Diejenigen, die es länger mit Mr und Mrs Wentworth aushielten, verdienten meinen uneingeschränkten Respekt.
Ich verlangsamte meine Schritte und blieb außer Sichtweite, versteckt hinter einer knorrigen Eiche, stehen. Ich wollte nicht, dass Mr Alexander – so verschwiegen er auch war - mitbekam, wie und mit wem ich meinen freien Nachmittag verbracht hatte. Was ich noch weniger gebrauchen konnte, als die ohnehin argwöhnischen Blicke zuhause war tratschendes Personal. In der Regel dauerte es nicht lange, bis die Gerüchte, dass ich mich mit einem Mann traf, der erstens unglaublich gut aussah, an dem ich zweitens ein unbestreitbares Interesse hatte und der mir drittens in einer Angelegenheit von fragwürdiger Legalität – der Einbuchtung von Narbengesicht – behilflich sein wollte, zu meinen Eltern oder Beth durchdrangen. Beth würde auf diese Information quietschend reagieren – jedenfalls was den ersten Part anbelangte - und alles aus mir herausquetschen. Meine Eltern würden mir eine Armada von Bodyguards auf den Hals hetzten, was Punkt drei auf meiner Liste deutlich erschweren würde.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, verriet ich und spürte das Blut in meine Wangen schießen. Grayson musterte mich lange und aufmerksam. Mein Herz pumpte das Blut viel zu schnell durch meine Adern und in meinen Kopf.
»Meine Eltern haben am Sonntag ein Essen arrangiert. Mit Geschäftspartnern und deren Kindern. Ich muss leider anwesend sein, sonst drohen mir zwei Monate Hausarrest. Ich hoffe, ich kann mich um zehn von ihnen loseisen.«
»Kennst du die Familie gut?«
»Das Ehepaar ist schon länger mit meiner Familie ... ähh ... verbunden. Mit einer ihrer Töchter habe ich an der Columbia studiert, hatte aber nie etwas mit ihr zu tun. Sie ist ganz nett, denke ich.« Er wich meinem Blick aus.
»Nett ist die kleine Schwester von scheiße«, entfuhr es mir abrupt.
Nervös fuhr er sich durch die Haare und ich schluckte schwerfällig.
»Ich werde versuchen abzuhauen, sobald sich eine Möglichkeit ergibt. Treffen wir uns dann? Im Diamonds?«
Die Frage ließ unerwartet einen wild gewordenen Schmetterlingsschwarm in meinem Magen frei. Nervös nestelten meine Finger am Saum meines T-Shirts. Kam es nur mir so vor oder schien die Sonne plötzlich viel intensiver als zuvor?
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, entgegnete ich vage.
Das Essen mit den Cavendishs kam mir in den Sinn. Und das enttäuschte Gesicht, das Beth vermutlich ziehen würde, wenn ich mich früher als geplant verabschieden würde. Ich könnte Migräne vortäuschen, allerdings brachte es mir nicht viel, weil sich mein Zimmer schließlich in derselben Wohnung befand.
Normalerweise suchten sich Hilary und John immer ein pikfeines Restaurant für solche Anlässe heraus, für das man schon Monate zuvor reservieren musste. Möglich, dass sie meinen Fluchtversuch bereits gewittert hatten, bevor ich selbst daran gedacht hatte. Oder aber es war wirklich etwas an den Gerüchten dran und sie hatten finanzielle Schwierigkeiten.
Einerseits war ich gespannt darauf, Beths Verlobten endlich kennenzulernen. Mit ihrem Gerede von altem englischen Adel hatte sie mich leider wirklich am Haken. Andererseits wollte ich Grayson wirklich, wirklich gerne wiedersehen. So schnell wie möglich. Also fasste ich einen Entschluss, für den ich mich früher oder später aller Wahrscheinlichkeit nach selbst lynchen würde. Und wenn nicht ich, dann entweder Beth oder Hilary.
»Ich werde da sein.«
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