22. Kapitel
Etwas an ihrer Gangart, versetzte mich zurück in die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Sie wirkte gehetzt und kopflos, obwohl sie zielstrebig auf unseren vereinbarten Treffpunkt zusteuerte.
Als sich unsere Blicke kreuzten, verlangsamten sich ihre Schritte vorübergehend. Ich hob die Hand zum Gruß, vergrub sie jedoch kurz darauf wieder in den Jeanstaschen, weil ich mir unendlich blöd vorkam. Wow, wir waren erst ganze zweimal aufeinandergetroffen und ich entpuppte mich bereits als Volldepp, der nicht wusste, wie er sich in der Gegenwart einer hübschen Frau benehmen sollte. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mich ebenfalls als Arschloch entpuppte, der sich mit einer Frau traf, einer Frau, in deren Gegenwart sein Inneres merkwürdige Dinge anstellte, obwohl er bereits mit einer anderen verlobt war. Na ja, so gut wie verlobt.
Ich hatte die Verträge noch nicht unterschrieben und so viel ich wusste, hatte Bethany Wentworth ihrem Recht zur Bedenkzeit ebenfalls entsprochen. Ein anderer möglicher Grund für diese Verzögerung war, dass die Wentworths erneut über den Ehevertrag verhandeln wollten. Mr Rodriguez, ihr Anwalt, war leider einer der nervig penetranten Sorte, die nicht lockerlassen konnte und sich schon gar nicht mit Eingeständnissen zufrieden gab. Eine andere Option als gewinnen gab es für sie nicht. Solche Leute gab es an der Upper East Side zuhauf und leider zählte ich meine Familie ebenfalls dazu.
»Hey! Ich hoffe, du musstest nicht lange warten«, begrüßte mich Julia und riss mich aus meinen Gedanken.
»Hi«, antwortete ich atemlos, obgleich ich keinen Schritt gegangen war, »Nein, ich bin auch gerade erst gekommen.« Dass das nicht gänzlich der Wahrheit entsprach, war eine Tatsache, die ich ihr gerne vorenthalten wollte. In den letzten 20 Minuten hatte ich mit mir selbst gerungen, ob ich das Treffen nicht doch besser absagen sollte. Einerseits glaubte ich, dass es so besser gewesen wäre, ein klarer Schlussstrich, bevor es – was auch immer es war – so richtig begonnen hatte. Andererseits hatte ich die leise Ahnung gehegt, dass es mir damit nicht besser ergangen wäre.
Ihr Lächeln war furchtbar einnehmend und ich fragte mich, warum mich allein das Zucken ihrer Mundwinkel in einen stotternden Idioten verwandelte. In ihrer Anwesenheit brauchte mein Gehirn stets ein paar Sekunden mehr, um die Worte in meinem Kopf in einen vernünftigen Satz zu verpacken.
Nach dem Austausch belanglosen Smalltalks (Wie geht es dir? – Gut, danke und selbst? – Auch. Hast du denn gut hierher gefunden? - Ja, danke und du? – Ja, ich war gerade ohnehin in der Nähe. – Ach so. – Das Wetter ist wirklich perfekt für einen Spaziergang.) stellte ich eine Frage, die mir schon durch den Kopf schwirrte, als ich sie auf dem bekiesten Weg entdeckt hatte.
»Sorry für die Frage, aber ... sicher, dass es dir gut geht? Du wirkst ... anders.«
Wo konnte ich meinen Master-Abschluss abgeben? >Anders< war einfach kein Wort, dass man gerne in seiner Charakterbeschreibung fand und auf alle Fälle kein Wort, dem Julia gerecht wurde. Stöhnend warf sie die Hände in die Höhe und ließ sie kraftlos wieder an die Seite herabfallen.
»Anders.« Ein freudloses Lachen entwich ihren Lippen und ich biss mir auf die Zunge. »Heißt das, ich seh scheiße aus?« Meinen ungläubigen Blick erwidernd antwortete sie seufzend: »Warum werde ich das in letzter Zeit so oft gefragt?«
»Keine Ahnung, sag du es mir«, konterte ich.
Julia war eine schlechte Lügnerin. Ich wusste nicht, warum mich das so amüsierte. Als ein Mitglied der Upper Class war ich schlicht und einfach davon ausgegangen, dass sie das Lügen wie eine Meisterin beherrschte und schon mit der Muttermilch inhaliert hatte. Dass das offensichtlich nicht der Fall war, war überraschend erfrischend. Erneut seufzte sie und wir gingen ein paar Schritte über den knirschenden Kies, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.
»Ich hab ihn wiedergesehen. Eben, auf dem Weg hierhin. Narbengesicht«, ließ sie wie im Plauderton in die Unterhaltung einfließen. Der flatternde Unterton strafte ihrem gespielt lockeren Schulterzucken Lügen. Prompt stolperte ich über meine eigenen Füße und verschluckte mich. Mein Puls stoppte, nur um mit rasender Geschwindigkeit wieder loszulegen. Jetzt wusste ich, wie sich David bei meinen Hiobsbotschaften immer fühlte. Ich fiel aus allen Wolken.
»Was? Wo?«, brachte ich zwischen zwei Hustenanfällen hervor. Beiläufig wischte ich mir mit dem Handrücken über die tränenden Augen. Julia schob zerknirscht die Unterlippe hervor. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres T-Shirts und der nüchterne Ton, in dem sie ihre Erlebnisse vortrug, wiesen auf ein gutes PR-Training hin.
»Etwa zwei Blocks von hier. Er hat Nylah und mich beobachtet. Das Merkwürdige ist, dass er nicht sofort abgehauen ist, als ich ihn dann endlich bemerkt hatte. Er hat einfach dagestanden und mir sogar zugewunken. Erst dann ist er abgetaucht. Nylah hat ihn leider nicht mehr gesehen, sonst hätte sie einen genauso großen Schrecken gehabt wie ich.«
»Vielleicht hast du dich vertan?«
Ihre gefurchte Stirn und die schmale Linie, die ihr Mund war, zeigte mir, dass das das genaue Gegenteil von der Reaktion war, die sie sich von mir erhofft hatte.
»Du hast ihm doch schon gegenübergestanden. Meinst du, du hättest ihn mit jemandem verwechseln können?«
Ich seufzte und musste ihr Recht geben, obwohl ich ihr viel lieber die Sorgen genommen hätte.
»Nein, hätte ich nicht ... Aber was wollte er dann? Meinst du er ist da einfach nur versehentlich langgelaufen? Oder ...?« Ich ließ das Ende des Satzes in der Luft schweben. Ihre Sicht der Dinge interessierte mich. Insbesondere auf Narbengesicht, so wie sie ihn nannte. Ein treffender Name.
»Tja, das ist die große Frage, auf die ich keine Antwort habe. Noch nicht jedenfalls. Er muss dort wegen mir gewesen sein. Anders kann ich mir sein merkwürdiges Verhalten auch nicht erklären. Wenn du versucht hättest, jemanden zu kidnappen oder zu vergewaltigen, dann würdest du doch so schnell es geht das Weite suchen, wenn du ihr wieder begegnen würdest, oder? Natürlich ... wenn er ein Serientäter ist, dann hätte er mich vielleicht gar nicht erkannt. Das wiederum widerspricht sich damit, dass er mir zugewunken hat. Ganz lässig. Als wären wir alte Schulfreunde, die sich zufällig auf der Straße treffen. Ich werde einfach nicht schlau daraus.«
»Du denkst also, er ist so etwas wie ein Stalker?«, fasste ich ihre laut ausgesprochenen Gedanken zusammen und runzelte die Stirn. »Hast du öfter mit Stalkern zu tun?« Vielleicht ... ja, das würde passen. »Ich habe mich das schon länger gefragt. Hast du schonmal von einem Vergewaltiger gehört, der seine Opfer einfach laufen lässt? Normalerweise findet man in dem Zusammenhang früher oder später immer eine Leiche. Wenn seine Absichten damals die sind, von denen wir glauben, dass sie es sind, hätte er nicht nur dich umgebracht, sondern mich ebenfalls. Was also will er von dir?«
»Wenn er ein Stalker wäre, dann würde er alles dafür tun, in meiner Nähe zu sein. Stalker sind ... Fans, die eine Besessenheit entwickelt haben. Das passt einfach nicht zu dem, wie er sich in dieser Nacht benommen hat. Ein Stalker würde sich freuen, dich zu sehen und mit dir reden wollen. Er hätte dich nicht einfach mit sich gezogen. Also verspricht er sich Geld«, sprach sie aus und lachte, als wäre das ein unglaublich guter Scherz. Auf meine hochgezogenen Augenbrauen erklärte sie sich, »Meine Eltern ... sie haben Geld und wenn es jemand auf mich abgesehen hat, dann vermutlich, um sie zu erpressen.«
Wie leicht ihr diese Worte über die Lippen kamen, war schon ungesund. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich versuchte sie wieder zu entspannen. Dass diese Gedanken für sie so normal zu sein schienen, machte mich fast noch wütender als die Situation im Allgemeinen. Die Wut schlich brodelnd durch meine Adern und formte einen heißen Ball aus Zorn in meinem Magen. Ein Ball, der bei ihren nächsten Worten in der Luft verpuffte.
»Noch habe ich keine Antworten, aber das wird sich bald ändern.«
»Was meinst du damit?«
Überrascht formte sich ihr Mund zu einem O.
»Ich werde es natürlich herausfinden«, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, die einem Sherlock Holmes alle Ehre gemacht hätte. Klar, das war doch offensichtlich. Wie kam ich bloß auf diese absolut absurde Frage?
»Du weißt aber schon, dass er versucht hat dich zu kidnappen, oder? Ich war dabei. Und du willst mir jetzt ernsthaft weismachen, dass du den Kerl aufspüren willst? Nicht einmal das NYPD hat eine Spur zu ihm«, zählte ich das Offensichtlichste auf und stieß damit lediglich auf eine belustigte Miene.
»Und deswegen ist es vielleicht besser, wenn ich der Sache selbst auf den Grund gehe. Wenn er es auf mich abgesehen hat, wird er es schließlich wieder versuchen. Und dann kann ich den Spieß einfach umdrehen.«
Ich lachte auf, unsicher, ob ich ihre Risikobereitschaft bewundern oder als absolut hirnrissig abstempeln soll. Ich entschied mich für letzteres.
»Das kann nicht dein Ernst sein. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du Narbengesicht allein aufspüren kannst. Hast du keine Angst?«
Daraufhin wurde ihr Gesicht kalkweiß und ich befürchtete bereits, dass sie vor meinen Augen in Ohnmacht fallen würde.
»Natürlich habe ich Angst«, hauchte sie, »aber ich kann offensichtlich nicht davor weglaufen. Manchmal muss man sich seiner Angst einfach stellen, um wieder atmen zu können. Das ist wie beim Dachboden!«
»Was?«
»Beim Dachboden. Meine Großeltern wohnten in Philadelphia und als ich klein war, war ich die Einzige, die durch die Luke auf den Dachboden klettern konnte. Meine Großeltern hatten dort immer alte Kartons und Verpackungen verstaut und ich musste ab und zu hochklettern und einen ganz bestimmten Karton heraussuchen. Am Anfang hatte ich Angst, weil es dunkel und verstaubt war und modrig gerochen hat. Ich glaube, auch ein paar Fledermäuse hatten es sich dort eingerichtet. Aber je länger ich oben war, desto weniger Angst hatte ich. Es war letztendlich einfach nur ein Dachboden. Daran ist nichts gruselig.«
Skeptisch musterte ich sie. Zu behaupten ihren Gedankengängen folgen zu können, wäre eine glatte Lüge.
»Was soll ich denn sonst tun? Das Einzige, was ich wirklich machen muss, ist abwarten, bis er das nächste Mal auftaucht. Und dann schlage ich zu. Er hat ja keine Ahnung, was ich vorhabe. Also ist er vielleicht unvorsichtig.«
»Der Einzige, der gerade unvorsichtig ist, bist du«, stellte ich grimmig fest und kickte einen Kieselstein vor mir her. Wie kam sie überhaupt darauf, dass das eine gute Idee war? Musste ich sie wirklich daran erinnern, wie sehr sie an diesem Abend gezittert hatte? Oder wie aufgelöst sie eben noch gewesen war, als sie ihn nur flüchtig gesehen hatte?
Verärgert verschränkte Julia die Arme vor der Brust. Durch das goldene Licht, das gebrochen durch das Blattwerk auf ihr Gesicht schien, hüpften ein paar Sommersprossen auf ihrem Gesicht erbost auf und ab. Da erhellte sich ihre versteinerte Miene plötzlich.
»Dann komm doch mit«, rief sie enthusiastisch.
»Hm?« Perplex blieb ich stehen und vergaß alles um mich herum.
»Komm mit. Hilf mir, den Kerl dingfest zu machen. Du bist, außer mir, der Einzige, der ihn je zu Gesicht bekommen hat.« Je mehr sich die Gedanken in ihrem Kopf zu einer Idee formten, desto begeisterter schien sie von ihrem Einfall. Wenn sie mich fragte, schrie das geradezu nach Selbstmordkommando. Aber mich fragte ja niemand nach meiner Meinung. Langsam schlenderten wir weiter.
»Der erste Schritt wäre nicht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, sondern sich einen Personenschutz zu besorgen. Mein Chauffeur ist selbst Teilzeit-Bodyguard. Ich kann dir seine Agentur echt empfehlen.«
»Darin liegt nicht das Problem. An einen Bodyguard werde ich schon noch kommen. Aber die Anwesenheit eines Bodyguards wird auch nicht viel nützen. Ich käme mir nur doppelt beobachtet vor. Ich will doch nur, dass ich mich wieder frei bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass hinter jeder Ecke ein potentieller Kidnapper lauert.«
Der goldene Käfig. Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Dass sie genauso sehr damit zu kämpfen hatte wie ich. Sie hatte die Flügel ausgestreckt und den Wind gespürt, der ihr erfrischend durchs Gefieder gestreift war. Dann hatten sich die Käfigtüren abrupt verschlossen und sie war zurück auf den Boden der knallharten Realität geplumpst. Voller Tatendrang endlich in die Freiheit zu gelangen, doch jetzt mit gebrochenem Flügel.
»Ergibt das überhaupt Sinn? In meinem Kopf tut es das jedenfalls.«
»Ich weiß, was du meinst. Und ... ich werde dir helfen«, entschied ich frei heraus und erntete einen verblüfften Seitenblick.
»Wirklich?«
»Unter einer Bedingung.« Ihr Lächeln verschwand und ich verfluchte mich selbst dafür, dass es meine Worte gewesen waren, die es zum Verschwinden gebracht hatte. Argwöhnisch legte sich ihre Stirn in Falten.
»Was für eine Bedingung?« Wenn ich verloren hatte, gab ich es zu. Gegen Julias Starrsinn hatte ich definitiv keine vorzeigbaren Argumente.
»Wenn du dich unbedingt in Gefahr begeben willst«, an dieser Stelle wurden ihre Denkfalten tiefer, »dann begleite ich dich bei dieser Sherlock-Holmes-Nummer. Unter der Voraussetzung, dass du das tust, was ich dir sage, wenn's brenzlig wird, einverstanden?«
»Damit hänge ich mir ja selbst einen Klotz ans Bein. Ich werde es so oder so tun. Mit dir oder ohne dich«, stellte sie fest.
»Gott, Julia«, stöhnte ich.
»Du musst mir ja nicht helfen. Es war nur so eine Idee. Niemand zwingt dich dazu.«
Doch. Sie. Wenn auch indirekt. Und das wusste sie ganz genau. Schmunzelnd stieß sie mir in die Seite und ich musste auf schmerzliche Weise erfahren, dass sie spitze Ellenbogen hatte.
»Gib es ruhig zu, du bist neugierig. Deswegen willst du mir helfen«, neckte sie mich kichernd. Damit fiel mein unnachgiebiger Vorhang aus Widerstandskraft machtlos in sich zusammen.
»Tu einfach nichts, was einen von uns oder schlimmer noch uns beide frühzeitig ins Grab bringt, okay?«, sagte ich müde und presste Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel.
Julias Gesicht verzog sich, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?«, bat sie flehentlich, »Ich glaube, ich habe gerade keinen Kopf mehr, um darüber nachzudenken. Darüber mache ich mir später in Ruhe Gedanken, wenn ich an einem Plan feile. Ich wollte dieses Date genießen.«
Auf meine Frage antwortete sie nicht. Erst sehr viel später wurde mir die Bedeutung ihrer Worte bewusst. Das hier war ein Date. Ein verdammtes Date. Was sonst sollte es sein? So wie wir uns ansahen, gab es keine Möglichkeit, dass es das nicht war.
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