16. Kapitel
Es war ein schlechtes Zeichen, dass sie mich so früh am Morgen in ihr Büro zitierte. Ein verdammt schlechtes Zeichen.
Ich sah sie durch die gläserne Abtrennung wild gestikulierend telefonieren. Dieser Anblick war für mich nichts Neues. Ohne zu zögern, betrat ich den Raum der Hölle auf Erden, wo Praktikanten und Mitarbeiter regelmäßig zur Sau gemacht wurden. Und wohin ich von ihrem Sekretär keine halbe Stunde zuvor regelrecht beordert wurde. Er hatte nicht einmal versucht die Aufforderung nett klingen zu lassen, sondern war einfach davon ausgegangen, dass ich sprang, wenn meine Mutter rief. Was ich – ich hasste mich selbst dafür – so gesehen ja auch tat.
» ...ausgeschlossen. Ohne Labore und Ausrüstung. Wir sind doch nicht die verdammte Wohlfahrt. Ja ... Ich weiß, was das bedeutet.«
Sie registrierte meine Ankunft mit einer hektischen Handbewegung. Ohne ihrem Telefonat weiter Beachtung zu schenken, ließ ich mich auf das einzige gemütliche Möbelstück, dass das Büro meiner Mutter zu bieten hatte, einem schwarzen Ledersessel am Schreibtisch, nieder. Der klare Vorteil, den der Sessel bot, war jedoch nicht sein weiches Sitzpolster, sondern der Ausblick über die Stadt. Egal, wie sehr Jessica in den nächsten Minuten an mir herummäkeln würde – und das würde sie definitiv-, ein Blick nach draußen genügte, um meinen inneren Seelenfrieden wiederherzustellen.
»Ich melde mich später. Ja ... Er ist hier.« Dann legte sie auf und starrte durch das bodentiefe Fenster auf die belebten Straßen New Yorks. Ich betrachtete ihr Profil. Die rostroten Haare waren zu einem strengen Dutt zusammengebunden und betonten ihre scharfen Gesichtszüge. Das einzige Merkmal, das mir an ihr bekannt war, waren ihre Augen, denn es waren die gleichen, die mir im Spiegel entgegenblickten. Die gleichen, die auch meine Geschwister geerbt hatten. Grüne Augen mit einem schmalen goldbraunen Ring um die Pupillen. Es waren Augen, mit denen sie alles fordern konnte. Für gewöhnlich bekam sie, was sie wollte. Neuerdings sah sie allerdings ungewohnt ernst aus. Das heißt noch ernster als normalerweise.
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich angenommen, sie hätte ein Problem, das sie vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben nicht allein lösen konnte. Im Hause Cavendish gab es grundsätzlich keine Probleme, nur unangenehme Neuigkeiten. Nicht mehr als Nichtigkeiten, an die man keinen weiteren Gedanken verschwendete, wenn sie erst verschwanden.
Jessica Cavendish flog das Glück einfach so zu. Klar, sie hatte schließlich genug Personal, um die Angelegenheiten ihrer Kinder zu regeln – oder in ihrem Fall regeln zu lassen. Unsere Lunchboxen hatten Heather und ich von unseren ständig wechselnden Nannys bekommen, was manchmal gut und meistens katastrophal endete. Mein absolutes Highlight waren die gegrillten Heuschrecken. Ich hatte noch Wochen später Angst gehabt meine Lunchbox zu öffnen, wegen meiner Befürchtung, dass das Essen darin mich anspringen könnte. Jessica hatte zu meinem Leidwesen darauf bestanden, dass wir eine Nanny hatten, selbst als ich bereits 16 Jahre alt und im Stande gewesen war auf Heather aufzupassen.
Die Anwesenheit einer Aufsichtsperson hatte mich natürlich nicht davon abgehalten, meine Freunde zu Saufgelagen zu uns ins Loft einzuladen, Möbel zu zertrümmern und die Bar meines Vaters zu plündern. Nanny elf und zwölf hatten deswegen gekündigt. Wegen >unzumutbarer Zustände< um genau zu sein.
»Dein Vater«, erklärte Jessica betont ruhig, während sie sich endlich zu mir umdrehte, doch ich erkannte die versteckte Anspannung in ihrer Stimme. Ich runzelte die Stirn. Das Büro meines Vaters lag auf demselben Stock, kaum eine Minute Gehweg vom Büro der Einsamkeit entfernt. Anscheinend war es zu viel des Guten, dass man sich heutzutage noch ins Gesicht schaute, um miteinander zu reden.
»Etwas Wichtiges?«, fragte ich, mehr aus Höflichkeit als aus Neugier, denn ich wollte ohnehin nicht verstehen, was sie tagtäglich trieb und welche dubiosen Deals sie aushandelte. Das waren ihre Geschäfte, nicht meine. Obwohl ich dreimal in der Woche ins Büro kam, arbeitete ich nicht mehr als ein einfacher Praktikant. Dafür wurde ich weitaus besser bezahlt. Wenn es um die Familie ging, musste man eben doch einen gewissen Schein waren.
Jessica zögerte und es war der Ausdruck in ihren Augen, der mich misstrauisch machte. Da war eine ungewohnte Nervosität, die hinter den grünen Iriden zuckte, die ich nicht von ihr kannte.
»Du weißt noch, worüber wir uns kürzlich unterhalten haben?«, kam sie direkt auf das Thema zu sprechen, wofür sie mich herbeizitiert hatte. Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern.
»Die Hochzeit«, erinnerte sie mich scheltend und ein Seufzer entfuhr mir.
»Mutter, lass das.« Ich war bereit alles stehen und liegen zu lassen und zu gehen, aber etwas in ihrer Stimme hielt mich in diesem Raum fest. Möglicherweise hatte ich auch schon längst damit abgeschlossen, dass ich nicht darum herumkam. Dass es für mich keinen Ausweg gab. Und wenn doch nur mit erheblichen Konsequenzen, die zu tragen ich nicht bereit war.
»Wir hatten uns geeinigt. Die Wentworths akzeptieren diese Verbindung ebenfalls und sind sehr ... motiviert. Diese Beziehung bringt nur Vorteile mit sich.«
»Für euch«, murmelte ich. Sie hatte mich gehört, ließ es jedoch unkommentiert.
»Du warst einverstanden, denk daran«, rief sie mir ins Gedächtnis.
»Aber nur weil ich dachte, dass selbst ihr nicht so tief sinken würdet, euren Sohn wie ein Stück Fleisch auf dem Markt anzubieten.« Außerdem war ich noch betrunken vom Vorabend gewesen und hatte erst realisiert, was ich da zugestimmt hatte, als es schon zu spät gewesen war.
»Du hättest es wirklich schlimmer treffen können. Die Wentworths sind eine tadellose Familie.«
Ich konnte nicht anders. Ich lachte auf. Das waren wahrscheinlich die nettesten Worte, die Jessica Cavendish jemals über die Wentworths verlauten ließ.
»Das aus deinem Mund. Ich bin beeindruckt.«
»Wir haben außerdem über deine Fehltritte in jüngster Zeit hinweggesehen. Du hast dein Leben gelebt, wie du es wolltest und hast stets von deinem Namen profitiert. Glaubst du etwa, jemand, der dieselben Ideen gehabt hätte wie du, wäre auch nur halb so weit gekommen ohne diesen Namen?«
»Fehltritte? Welche Fehltritte denn?«, fragte ich ehrlich verwirrt.
»Dass du dich von Bürgermeister Prices Feier weggeschlichen hast, nur damit du nicht mit den Wentworths reden musst, ist uns nicht entgangen. Und ihnen auch nicht. Bethany war am Boden zerstört.«
Ich schnaubte. Bis vor wenigen Wochen war sie es noch gewesen, die die Einladungen reihenweise ausgeschlagen hatte, wenn sie erfahren hatte, dass die Wentworths bereits zugesagt hatten. Und jetzt wollte sie mir das vorhalten?
»Wir können von Glück reden, dass Heather sich so gut mit Bethany versteht und ihr weißgemacht hat, dass du noch dringend etwas erledigen musst. Schlimm genug, dass du nichts Besseres zu tun hattest als danach wieder in diesen Club zu gehen.«
Es war traurig, dass mich diese Aussage nicht überraschte.
»Wen hast du denn dieses Mal auf mich angesetzt. Deinen Sekretär oder eine neue Assistentin vielleicht? Ich hoffe, du hast die Überstunden anständig bezahlt.« Ich musterte sie kalt und sie erwiderte meinen Blick mit erbitterter Gefühlslosigkeit.
»Als müsste ich dafür jemanden auf dich ansetzen. Wann wirst du endlich einsehen, dass du in dieser Stadt nicht tun und lassen kannst, was du willst? Man hat dich erkannt, William.«
Und es könnte mir nicht egaler sein. Innerlich sprang ich vor Freude, weil ihr meine steinerne Miene sichtlich zu schaffen machte.
»Keine Sorge«, sagte sie spöttisch. »Ich habe dafür gesorgt, dass die Bilder unverzüglich gelöscht werden«, rieb sie mir selbstzufrieden unter die Nase.
Ich schnaubte. Auf ein Dankeschön konnte sie lange warten. Als diese Bilder damals von mir die Runde gemacht hatten, hatte sie auch nichts unternommen, außer eine mickrige Pressemitteilung zu veröffentlichen, in denen sie sich von meiner angeblichen Drogensucht distanzierte. Da war ich gerade 21 geworden. Ja, ich hatte es an diesem Abend übertrieben, doch in der Presse hatte man sich lauthals das Maul darüber zerrissen, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Nachdem ich mich ein paar Monate zurückgehalten hatte, hatte es geheißen, ich wäre in einer Entzugsklinik gewesen und wäre wieder auf dem Damm. Gerüchte, die vor allem meine Mutter angeheizt hatte. Dabei hatte ich in den Semesterferien nur Urlaub bei einem befreundeten Kommilitonen in Spanien gemacht.
Tief einatmend krempelte ich die Ärmel hoch und sah mit Genugtuung, wie sich die Lippen meiner Mutter beim Anblick meiner Tattoos in einen schmalen Strich verwandelten.
»Hast du überhaupt eine Vorstellung, was diese Bilder alles auslösen könnten? Waren dir die Artikel über deine Drogenprobleme nicht genug? Willst du es denn unbedingt herausfordern? Und dann auch noch dieses Mädchen.«
Zum ersten Mal an diesem Tag horchte ich wirklich auf. Ich verkrampfte mich.
»Was?«
»Dieses Mädchen mit dem du den ganzen Abend über gesprochen hast. William, ich bitte dich. Das ist doch kein Umgang. Ich sage ja nichts gegen deine gelegentlichen ... Bekanntschaften. Aber ich möchte um Himmels Willen nichts darüber in der Zeitung lesen. Wie sieht das denn aus?«
»Hast du diese Fotos noch?« Ein leicht drängender Unterton schlich sich in meine Stimme und ich ballte die Hände unterm Tisch zu Fäusten. Meine Fingernägel schnitten mir ins Fleisch und milderten meine innere Anspannung nicht im Geringsten. Sie wusste nichts über Julia. Oder mich. Sie hatte keine Ahnung, wer ein guter Umgang für mich war. Manch einer würde behaupten sie wäre ein schlechter Umgang. Ich widersprach nicht. Ihr das ins Gesicht zu sagen und ihr somit meine eigene Schwäche einzustehen, wäre auch nicht die richtige Entscheidung gewesen. Also schwieg ich und behielt meinen Groll für mich.
»Natürlich habe ich sie noch. Und ich allein habe die Rechte daran«, konstatierte sie überlegen.
Ein Eisschauer überlief mich. Natürlich hatte sie sie noch. Sie würde die Fotos als Druckmittel benutzen und an die Presse spielen, wenn ich nicht spurte, kein Zweifel. Auch wenn ich nicht sah, was ihr so eine Aktion bringen konnte. Immerhin wollte sie, dass ich Bethany Wentworth heiratete. Ich wusste nicht, was sie meinte auf den Fotos gesehen zu haben, aber das triumphierende Lächeln bereitete mir Bauchschmerzen.
Weniger machte ich mir Sorgen um mich – mit Skandalen kannte ich mich aus - als um die Rolle, die Julia dabei einnehmen würde. Niemals würde ich in Kauf nehmen, dass jemand wegen mir von der Presse in den Dreck gezogen wurde, nur weil sie nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Jessica wusste, dass sie mich damit im Netz hatte. Doch ich konnte mir wenigstens ein Bild machen, wie schlimm die Situation wirklich war. Vielleicht bluffte Jessica nur und die Aufnahmen waren von so schlechter Qualität, dass man sie überhaupt nicht gebrauchen konnte.
»Schick sie mir«, verlangte ich.
»Wozu? Ich habe mich doch bereits darum gekümmert.«
»Tu es einfach.« Meine Kiefer schmerzten bereits, so sehr hatte ich die Zähne zusammengebissen. Ich wollte diese Fotos nicht nur aus diesem Grund. Dabei war es lächerlich. Warum sollte ich mir die Bilder von dem Abend ansehen wollen, an dem ich nach langer Zeit endlich wieder das Gefühl hatte, frei atmen zu können, wenn ich doch genau wusste, dass ich meinem goldenen Käfig nur kurz entkommen war? Etwas nicht haben zu können und es sich immer wieder vor Augen zu führen, machte es nur schlimmer, als sich einfach damit abzufinden, dass das hier mein verdammtes Leben war. Ich würde kein anderes bekommen, so sehr ich es mir auch wünschte.
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