11. Kapitel
Ich bereute die Entscheidung mit Nylah ins Diamonds zu gehen keine Sekunde lang, obwohl ich zwischen den verschwitzten Körpern kaum Bewegungsfreiheit besaß. Das war genau das, was ich gerade brauchte. Ein paar Stunden lang wegkommen von dem Trubel und dem »Ach, was sind wir doch toll«, das zuhause herrschte, sobald meine Eltern die Bildfläche betraten. Dass meine Schuhe bei jedem Schritt auf dem Boden klebten, weil irgendjemand sein Getränk verschüttet hatte, konnte ich allerdings nicht sehr viel länger ignorieren. Meine Füße befanden sich in gemütlichen Chucks – man lernte schließlich aus seinen Fehlern – und ich trug ein schwarzes Kleid, das sich luftig an meinen Körper schmiegte. Was aus meinem roten Lieblingskleid werden würde, das ich zu diesem Anlass gerne getragen hätte, stand noch in den Sternen. Mary hatte mir zwar versprochen ihr Bestes zu geben, sehr viel Hoffnung hatte sie mir jedoch nicht gemacht. Um der Realität kurz zu entkommen, reichte dieses hier auch vollkommen aus.
»Der Typ da hinten starrt dich die ganze Zeit an.« Nylah nickte zu einer Nische, in der eine Gruppe Männer in ordentlichen Polohemden zusammensaß und ein Bier nach dem anderen exten. Einer von ihnen, ein unscheinbarer und schmächtig wirkender Kerl Anfang 20, hatte den Blick auf mich fixiert und wanderte gerade mit den Augen an meinem tanzenden Körper auf und ab. Gierig leckte er sich über die Lippen und ich wandte mich ab, obwohl es wahrscheinlich auch keine besonders brillante Idee war, ihm meinen Hintern zu präsentieren.
Demonstrativ hörte ich auf zu tanzen und nippte an dem süßen Getränk in meinen Händen. Nylah tanzte ausgelassen weiter und zwinkerte schelmisch.
»Keine Sorge, Süße. Das wird nicht der Letzte an diesem Abend gewesen sein, der dich so ansieht«, versicherte sie mir und ich konnte ein Grinsen nur bedingt unterdrücken. Das Gefühl begehrt zu werden, verlieh mir eine ungeahnte Macht, die das Blut in meinen Adern zum Rauschen brachte und meine Haut elektrisierte. Dass ich so eine Wirkung auf Männer hatte, war mir erst in England so richtig bewusst geworden. Da man in Europa schon mit 18 volljährig war, hatte ich es mir nicht nehmen lassen, das Nachtleben auszuleben. Ein paar üble Abstürze später, hatte ich dem Partyleben bereits entschieden abgeschworen und trank nur noch zu besonderen Anlässen. In Nylahs Gesellschaft kam ich nicht drumherum. Für sie war das Feiern so wichtig wie Atmen. Und in England hatte ich schließlich Matthew gehabt. Matt ...
Ein wehmütiger Stich fuhr durch meinen Körper. Ich trauerte wohl weniger um ihn als um unsere gemeinsame Zeit und das viele Lachen. Trotz des Erdnuss-Vorfalls und anderer Vorkommnisse, die ich schon damals als Red Flags hätte enttarnen sollen, war er tief – wirklich tief – in seinem Herzen ein netter Kerl. Ein netter Kerl, mit dem ich nichts mehr zu tun haben wollte nichtsdestotrotz.
»Du siehst so heiß aus. Es würde mich wundern, wenn nicht am Ende dieser Nacht die halbe Bar mit dir schlafen will«, schwang ein leicht neidischer Unterton in Nylahs Stimme mit. Ihre Lockenmähne stand ihr durch das ständige Auf- und Abspringen noch wilder vom Kopf ab. Sie war an diesem Abend bestimmt schon fünfmal nach ihrer Nummer gefragt worden, während ich stumm danebenstand und die Augen offenhielt. Und wonach? Oder besser gefragt: nach wem? Richtig. Nach ihm. Nach ihm und seinen lächerlich grünen Augen und den vollen Lippen, die zu sehen und zu spüren sich mein Herz ersehnte. Oh Gott, ich klang bereits wie Nylah nach einem Bridgerton-Marathon. Und das bedeutete nun wirklich höchste Alarmstufe.
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, schrie ich dennoch lachend über den wummernden Bass hinweg.
Gerade heute fand im Diamonds eine Techno-Party statt, von der ich bis zu unserem Eintreffen nichts geahnt hatte. Nylah hatte mich ohne viel Mühe sofort dazu überredet vom Barbereich in den gesonderten Clubbereich im Keller abzusteigen und wir mussten beide feststellen, dass das Diamonds mittlerweile zu einer Institution geworden war. Für uns war das Diamonds schon immer da gewesen, denn es war der einzige Laden in New York, in dem man vor Paparazzi sicher war und seine Ruhe hatte.
Obadiah war der eigentliche Star. Er hätte die Beliebtheit schamlos ausnutzen können, die Getränkepreise um das Doppelte ansteigen lassen und horrende Eintrittspreise verlangen können, die die Menschen, die etwas von sich hielten, natürlich trotzdem bezahlt hätten. Die Preise waren seit fünf Jahren unverändert und Obadiah mit seinen unvergleichlichen Ratschlägen zu allen Lebenslagen beliebter denn je. Ich hatte ihn noch nie die Beherrschung verlieren sehen und glaubte so langsam, dass er zu solch einer radikalen Emotion, die keine pure Lebensfreude ausstrahlte, überhaupt nicht fähig war. Er war die Seele und das Herz des Diamonds.
Er war außerdem bekannt dafür, dass er auch den kleinen Fischen im großen Teich von New York eine Chance gab, weshalb an ausgewählten Wochenenden die unbekannten DJ's und hoffnungslosen Musiker der Stadt hier auflegen konnten. Es gab sogar das Gerücht, dass man, wenn man es zu etwas bringen wollte, ein Gig im Diamonds auf dem Lebenslauf unabkömmlich war. Um eine Eintrittskarte in die Musikbranche - und deswegen auch um einen Auftritt im Diamonds - wurde sich regelrecht geprügelt. Und dabei zeigte Ob ein äußerst glückliches Händchen.
Der DJ, der heute auflegte, verstand es wirklich die Menge unter Kontrolle zu halten. Er veränderte die Beats in genau dem richtigen Augenblick, um die Tanzenden weiter anzuheizen. Es gab kein Halten mehr. Mein Herzschlag schlug im Takt der unberechenbaren Musik, bis mir schließlich der Knöchel so weh tat, dass ich in der Bewegung innehalten musste. Nylah merkte meinen Stimmungswechsel sofort und runzelte die Stirn. Der Schweiß rann ihr in kleinen Regenbogenperlen über die Haut.
»Alles gut?«, schrie sie mir besorgt ins Ohr.
»Mein Knöchel. Ich glaube, ich setz mich mal ein paar Minuten hin«, meinte ich und wies auf die VIP-Lounge im abgesperrten Bereich, zu der wir durch Nylahs Berühmtheit gelangt waren. Sie nickte.
»Geh du nur. Ich hab da eben jemanden gesehen, den ich noch begrüßen muss, dann komme ich auch.« Sie rümpfte kurz die Nase und rieb sich über die Arme. In ihre Augen trat ein Ausdruck, den ich insgeheim den Eroberer-Blick nannte. Nylah würde diese Bar heute nicht ohne Begleitung verlassen und ich fragte mich, welchen armen Kerl es dieses Mal treffen würde. Sie hatte einmal ein gebrochenes Herz gehabt und danach nie wieder. Stattdessen sorgte sie für schlaflose Nächte ihrer Verehrer. Ob ihr das auf Dauer guttun würde ... wahrscheinlich nicht, aber wir hatten uns geschworen nie über das Liebesleben des anderen zu urteilen. Mehr oder weniger hielten wir uns beide an diesen Vorsatz. Ich ahnte, was sie insgeheim über Grayson dachte. Auch wenn die kurzweilige Berührung unserer Lippen wohl kaum als Liebesleben gewertet werden dürfte.
»Meine ich das nur, oder werden wir zu alt für diesen Scheiß? Mein Körper tut weh, als wäre ich sechzig.« Stöhnend ließ sie den Kopf kreisen.
»Wir werden definitiv zu alt für diesen Scheiß«, entschied ich geradeheraus.
In der VIP-Lounge, bei dessen Eintritt man mir mit neugierigen Blicken nachgesehen hatte, setzte ich mich auf einen gemütlichen Sessel und massierte mir den Knöchel. Der abgesperrte Raum beherbergte zu dieser Zeit neben mir nur eine weitere Person, einen Mann mit grässlicher roter Lederjacke, der sein Gesicht halb unter der Kapuze seines Hoodies verborgen hielt und wie hypnotisiert auf sein Handy starrte. Vor ihm standen mehrere leere Gläser und wenn er die alle allein getrunken hatte, war er vermutlich nicht weit von einem Filmriss entfernt. Er erinnerte mich ein wenig an Elton John in diesem legendären roten Lederanzug, mit dem kleinen Unterschied, dass nur Elton John diesen Stil auch wirklich tragen konnte. Sein Doppelgänger sah einfach nur tottraurig darin aus.
Der Bass vibrierte auf meiner Haut und erst jetzt, nachdem ich selbst nicht mehr tanzte, merkte ich, wie alles im Club wackelte. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich zückte mein Smartphone aus der Tasche.
»Das nennt man eine Party«, murmelte ich, machte ein Video und schickte es Beth, die anstatt uns zu begleiten, lieber auf die prestigeträchtige und sterbenslangweilige Geburtstagsfeier von Bürgermeister Price ging. Keine zehn Pferde würden mich dorthin karren können und John und Hilary hatten mich glücklicherweise auch gar nicht gefragt. Um den Schein zu wahren, sollte ich nach New York zurückkehren, aber wehe ich wagte es, auf einer ihrer Partys aufzutauchen und den guten Ruf meiner Eltern in den Dreck zu ziehen. Wahrscheinlich wäre ich früher oder später doch dazu gezwungen eine Dinnerparty, eine Spendengala oder Wahlparty über mich ergehen zu lassen und dabei so zu lächeln, als könnte ich mir keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen.
Ich versuchte Nylah durch die Glasscheibe, die mich von der Tanzfläche abgrenzte, in der Menge auszumachen, sah aber vor lauter blondierter Köpfe ihren Wuschelkopf nicht mehr. Also begnügte ich mich damit, hier auf sie zu warten und dabei durch Social Media zu scrollen. Der erste Post, der mir ins Auge sprang, war ausgerechnet ein Ausschnitt einer Rede, die Bürgermeister Price zu Ehren seiner selbst gehalten hatte. Vor gespielter Rührung lief ihm sogar eine Träne übers Gesicht.
Unmittelbar neben ihm stand Professor Langley, der von meinen Eltern so hoch angepriesen wurde, jungen Studentinnen für einen gewissen Preis jedoch half ihren Durchschnitt zu verbessern. Und dafür sollte man auch noch dankbar sein. Ich verzog das Gesicht. Da hatten sich die zwei richtigen gefunden. Dass sich Bürgermeister Prices Frau Clarissa, die ich immer gemocht hatte, den Gerüchten nach von ihm getrennt hatte, wunderte mich kein Stück. Schnell scrollte ich weiter. Ich hatte mich schließlich nicht vor der Party gedrückt, um jetzt daran erinnert zu werden.
Tess, eine Kommilitonin, mit der ich, obwohl sie immer freundlich zu mir war, wenig zu tun hatte, hatte ein paar Fotos gepostet, die ebenfalls auf eine Party schließen ließen. Oxford und New York hatten einen Zeitunterschied von fünf Stunden, weshalb es dort bereits weit nach Mitternacht war. Ich lächelte, doch dann wurde mir bewusst, dass ich nie wieder nach Oxford zurückkehren würde. Jedenfalls nicht um dort zu studieren. Dafür hatten meine Eltern gesorgt. Mein Magen rumorte und als wäre das nicht schon schlimm genug, war der nächste Post, dem ich meine volle Aufmerksamkeit schenkte, ein Bild eines Pärchens, das sich innig küsste. Seine rechte Hand lag an ihrem Nacken und drängten ihre Lippen gegen seine. Wo sich seine linke Hand befand, wollte ich lieber gar nicht wissen. Sie lächelte verträumt in den Kuss hinein.
Nun sprangen auch meine anderen Organe in das übelkeiterregende Konzert meines Magens mit ein und klatschten begeistert Beifall. Shit ... Es war dieselbe Party auf der auch Tess gewesen war und wie ich auf ihren Fotos schon gesehen hatte, war der Alkohol in rauen Mengen geflossen. Matt küsste das Mädchen mit den blonden Haaren, als würde er das jeden Tag tun. Dass er fremd gegangen war, wusste ich, er hatte es mir schließlich selbst gebeichtet. Dass er offenbar mit dem Mädchen zusammen war, mit dem er mich betrogen hatte, ließ mich jedoch schwer schlucken. Nach zwei Jahren Beziehung erwartete man doch, dass man eine gewisse Zeit lang niemanden traf und nicht sofort zu jemand anderem ins Bett hüpfte. Aber das war allem Anschein nach nur meine naive Vorstellung einer Trennung und wie man sich danach verhalten sollte.
In meinen letzten Wochen in Oxford, in denen wir bereits getrennt gewesen waren, war ich ihm erfolgreich aus dem Weg gegangen und hatte mich furchtbar einsam gefühlt. Nylah hatte oft stundenlang mit mir telefoniert, selbst mitten in der Nacht, wenn sie morgens früh rausmusste. Bis zu meinem Abschluss war sie meine einzige Stütze gewesen. Nicht einmal Beth hatte ich von der Trennung erzählt, obwohl sie sofort in den Flieger gestiegen wäre, um mich zu trösten. Vielleicht hatte ich es ihr aber aus genau diesem Grund nicht erzählt.
Okay, ich brauchte einen Drink. Einen stärkeren als die letzten beiden, bei denen ich mich bewusst zurückgehalten hatte. Entschlossen griff ich nach meiner Handtasche, taumelte aus der Lounge und drängte mich zur Treppe hinauf zum Barbereich. Ein Drink und ein gutes Wort von Obadiah würden mir mein Herz ungemein erleichtern. Den vorhandenen Alkohol in meinem Blutkreislauf hatte ich wohl doch unterschätzt, denn ich kam kaum hinter meinen eigenen gemurmelten Entschuldigungen hinterher, wann immer ich jemanden anstieß oder aus Versehen auf die Füße trat, während ich mir einen Weg durch die Menge kämpfte. Hinzu kam der bebende Boden, der durch die Tanzenden noch verstärkt wurde.
Ich erreichte die Treppe und stolperte an den Schlange stehenden Gästen nach oben. Hier drangen die Techno-Fetzen nur bedingt durch die Wände und meine Ohren fingen an unangenehm zu pochen. Ich hasste diesen Nebeneffekt der lauten Musik. Jedes Mal fühlte es sich an, als wäre da ein durchgehendes nervendes Hintergrundgeräusch, das sich nicht abstellen ließ. Zusammen mit der Hiobsbotschaft, dass Matt mit meiner Nachfolgerin heiße Fotos postete, während von uns gerade einmal eine Handvoll gemeinsamer Bilder existierten – oder besser gesagt: existiert hatten, denn ich hatte sie alle gelöscht -, war das ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Ich hatte die Theke fast erreicht. Selbst hier oben sammelten sich zahlreiche Techno-Fans und verwandelten einen Teil der Bar in eine Tanzfläche, was das Durchkommen um einiges erschwerte.
Es musste so etwas wie ein schräger Witz des Universums sein, dass sich das Folgende gerade in dem Moment abspielte, als es mir nicht beschissener hätte gehen können.
Er rempelte mich an, sodass mir die Handtasche aus den Fingern glitt.
»Pass doch auf!«, herrschte ich den Kerl an, der absolut nichts für meine schlechte Laune konnte. Ich bückte mich und griff fahrig nach der heruntergefallenen Tasche. Wie in Zeitlupe blickte ich auf und erstarrte mitten in der Bewegung zu einer Salzsäule. Mir gegenüber die wunderschönsten grünen Augen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro