4. Kapitel
Beklommen saß ich auf dem Boden, die Briefe um mich herum verteilt, mit einem leeren Gefühl im Bauch. Die Erinnerungen an John überrannten mich. Tränen verklebten mein Gesicht, doch das Gefühl der vollkommenen Trauer hatte mich verlassen. In den ersten Tagen nach Johns Tod hatte ich so viele Tränen vergossen, wollte meinen Kopf gegen die Wand schlagen und meine Haut zerreißen, aber nun war nichts zurückgeblieben als ein schwerer Kloß in meinem Magen und ein stumpfes Gefühl in meinem Herzen.
Leblos suchte ich nach weiteren Briefen, doch seit dem Beginn der Beatles und ihrem Durchbruch hatte ich viel weniger Briefe von John erhalten und unser damaliges Gespräch auf der Parkbank wurde nicht noch einmal angesprochen.
Schließlich aber fand ich einen Brief.
Herbst 1965
Lieber Paulie,
ich bin so müde. Was hältst du davon, wenn wir uns mal wieder nur zu zweit treffen? Seit dem „Help" brauche ich einfach Ruhe. Wie wäre es mit einem Treffen bei mir? Cynthia und Julian werden nicht da sein. Komm.
John
Meine Augen flimmerten, denn ich erinnerte mich an diesen Tag. Die Zeit zwischen 1960 und 1965 war zwischen John und mir anders gewesen. Unausgesprochene Fragen und Gefühle hingen zwischen uns. Doch wir waren so eng.
Mir war flau im Magen. John hatte mir wieder so einen Brief geschrieben und sofort kam das Gefühl von damals in meinen Bauch zurück.
Doch diesmal war so viel anders. Die Beatles waren so berühmt und John und ich hatten nicht mehr so viel Zeit zu zweit verbracht.
Aber nun kamen die Fragen zurück und ich wunderte mich, was John damals gemeint hatte – wie er gefühlt hatte. Die Bauchschmerzen hielten den gesamten Weg zu Johns Haus an und mein Herz schlug nur noch schneller, als ich Johns Haus in meinem Sichtfeld auftauchen sah. Wir würden allein zu Hause sein. Irgendwie gab dieser Gedanke mir ein seltsam ungewohntes Gefühl.
Nachdem ich geklingelt hatte, wurde ich hereingelassen und betrat Johns Haus mit flatterndem Bauch.
„John?", rief ich in das menschenleere Haus.
„Ich bin in der Küche!", rief John zurück.
Zögerlich ging ich auf die Küche zu. Ich verstand selbst nicht genau, wieso dieses Gefühl auftauchte. Vielleicht war es auch völlig unbegründet und ich wusste auch nicht, was ich befürchtete, aber Johns Briefe hatten mir damals solch fremde Gefühle gegeben und nun schien sich alles zu wiederholen.
John lehnte an der Theke, hinter sich frisch gebackene Kekse. Ein selbstzufriedenes Grinsen schmückte sein Gesicht. Sofort schlich sich auch ein Lächeln auf meine Lippen.
„Na Paulie.", sagte John grinsend.
„Na.", erwiderte ich und trat neben ihn.
John sah mich wieder an mit diesem Blick – den Blick, den er nur in meiner Gegenwart aufsetzte. Seine braunen Augen durchdrangen mich, berührten mein Herz und ich wandte verlegen meinen Blick ab.
„Ich hab dich vermisst.", sagte John und legte seine Hand auf der Theke ab, direkt neben meine, sodass sich unsere Fingerspitzen berührten.
Mein Herz überschlug sich. Sollte ich endlich meine unbeantworteten Fragen stellen? Fragen, was mich schon seit Jahren beschäftigte? Ich hatte mich selbst nie getraut, diese Fragen komplett in meinem Kopf zu formulieren. Es fühlte sich so fremd an, so neu, aber ich wusste, dass ich es fragen musste, ansonsten würde ich niemals mehr in Johns Nähe zur Ruhe kommen.
„Was ist, Paulie?" John nahm die Kekse und stellte sie ans Sofa im Wohnzimmer.
Auf meiner Unterlippe kauend folgte ich ihm. „Ich denke nur nach...", murmelte ich und überlegte fieberhaft, wie ich anfangen sollte.
„Ich war überrascht von deinem Brief.", begann ich unsicher.
„Ja?", machte John und grinste kokett. Verspielt hob er seine Augenbrauen. „Jetzt tu doch nicht so."
„Wie?" Ich spürte Hitze in mir aufsteigen.
„Erinnerst du dich nicht an damals?", fragte John und plötzlich flimmerten seine Augen für einen kurzen Moment vor Enttäuschung.
„Doch, aber das ist schon so lange her.", sagte ich. Gemeinsam setzten wir uns auf das Sofa und knabberten die Kekse. Es war sehr gemütlich, wieder einmal nur wir zwei, in völliger Ruhe und Erholsamkeit. Aber die Fragen fraßen an mir und ließen meinen Kopf nicht kühl.
„Paulie.", sagte dann John plötzlich.
„Ja?" Erwartungsvoll schaute ich ihn an.
John atmete tief durch und schloss kurzzeitig seine Augen. Ich sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. So unruhig hatte ich ihn noch nie erlebt. Verwundert blickte ich ihn an.
Er holte tief Luft. „Das wollte ich schon seit Ewigkeiten erledigen.", sagte er und mit einem Mal beugte er sich zu mir und küsste mich.
Vor Schreck fiel mir ein Keks aus der Hand und mir schien die Luft im Hals stecken zu bleiben. Johns und mein Mund lagen lange aufeinander und mein Kopf brummte und ich wusste nicht, wie mir geschah.
John küsste mich.
Er küsste mich tatsächlich und es fühlte sich nicht einmal schlecht an. All meine Fragen wurden aus meinem Kopf gefegt und ließen nichts als Hitze und Schmetterlingen zurück. Ich fühlte mich so nervös und federleicht an, aber gleichzeitig auch so müde und leblos an, dass ich John einfach nur anstarrte, als er sich wieder von mir löste.
Johns Blick umschloss mich und fing mich ein. Seine braunen Augen lullten mich ein und ich hatte das Gefühl, jeden Augenblick einzuschlafen. Meine Glieder fühlten sich so schwach an und eine Gänsehaut raste über meine Arme und Beine.
„Du bist müde, Paulie.", bemerkte John.
Bevor ich antworten konnte, packte mich John und bettete meinen Kopf auf seinen Schoß. Ich wollte ihn fragen, wieso er das tat und dass ich nichts verstand, aber die Müdigkeit überrannte mich auf der Stelle und so schlief ich auf Johns Schoß ein und sein angenehmer Geruch drang in meine Nase.
Mit hinabrollenden Tränen lehnte ich an der Wand und schluchzte zum ersten Mal seit Tagen wieder. Nach all den Jahren glaubte ich, immer noch Johns Duft in meiner Nase zu spüren. Dieser Geruch, dieses Gefühl auf seinem Schoß, würde ich nie wieder vergessen.
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Ist diesmal etwas kürzer, aber ich bin krank. ;) Hoffe, es gefällt euch trotzdem.
Freue mich übrigens über eure Votes und dass ihr die FF lest. Das gibt mir echt viel Motivation, weiterzuschreiben! Danke!
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