Kapitel 31 - Madeleine
Ich war umhüllt von vollkommener Dunkelheit. Das Licht, das meine Handytaschenlampe von sich gab, reichte bei weitem nicht. Meine Hand zitterte vor Anstrengung und mein Kopf brummte, während ich die letzten Worte unter meinen Aufsatz, der vom Kalten Krieg handelte, kritzelte. Mit einem müden Blick auf die Uhr realisierte ich, dass es sich nicht mehr lohnen würde, sich noch einmal ins Bett zu legen. Ohne überhaupt geschlafen zu haben lehnte ich mich zurück an die starre Stuhllehne und atmete einmal tief durch. Danach tat ich das, wofür ich die letzten Stunden zu faul gewesen war: Ich schaltete die kleine Lampe auf meinem Schreibtisch ein. Daraufhin packte ich die Skilandheim-Unterlagen, die uns allen am Vortag ausgeteilt worden waren und las sie mir zum ersten Mal genauer durch. Ich würde nach Finnland reisen, genau wie Britt und Will. Und meinem heißgeliebten Lehrer, Mister Cumberland. Warum musst außgerechnet er mit nach Finnland? Wenigstens würde auch Miss Lithgow mit nach Finnland reisen, was die ganze Situation ein wenig erhellte.
Erschöpft schaltete ich die Lampe wieder aus und kehrte zurück in die völlige Dunkelheit, bis ich zumindest im Bad das Licht einschaltete und mir sicher war, dass ich erblinden würde. Um halbwegs wach zu werden duschte ich mich kalt ab und setzte mich hohen Lichtmengen aus. Als eine halbe Stunde später auch Kloë sich anfing fertig zu machen, ging es mir immernoch nicht besser. Ich hätte im stehen schlafen können.
Noch etwas später saß ich mit meiner dritten Tasse reinem Koffein am Tisch in der Mensa unfähig irgendwas nettes von mir zu geben.
"Geht es dir gut, Maddy?", erkundigte sich ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das am selben Tisch saß, besorgt. Mein Kopf brummte durch den mangelnden Schlaf, was sich durch die Sorge des Mädchens auch nicht verbesserte. "Wenn du den Mund schließen würdest und ihn am Besten für immer geschlossen halten würdest, ginge es mir um Welten besser", fauchte ich gereizt und funkelte sie böse an. Von Kloë bekam ich direkt ihre rechte Hand mit aller Kraft über den Hinterkopf gezogen, wo sofort der leicht ziehende Schmerz einsetzte. Vorwurfsvoll warf ich einen Blick zur Seite, wo ich mit nur einem Gesichtsausdruck völlig vernichtet wurde. Kloë schaute mich böse an und drückte alles in ihren Augen schon aus, was sie daraufhin auch aussprach: "Nur weil du zu faul bist den blöden Aufsatz früher zu schreiben und deswegen die Nacht durcharbeitest, musst du noch lange nicht pissig zu anderen sein! Du warst zu faul, es ist also deine Schuld, also lass es nicht an uns aus!" Ich sah meine Schuld ein, eigentlich wusste ich es, meine schlechte Laune übernahm in mir dennoch jedes Mal die Kontrolle. Entschuldigend schaute ich zu der Schwarzhaarigen, die mir nur verständnisvoll zunickte.
Ich hatte bisher nichts gegessen, einfach nur tiefschwarzen Kaffee abgefüllt und getrunken, wieder abgefüllt und getrunken. Das tat ich bis es Zeit wurde für die erste Unterrichtsstunde. Irgendwie hatte ich mir gedacht, je mehr Koffein ich tränke, desto wacher würde ich werden - das jedoch war ein fataler Irrtum. Meine Müdigkeit hielt all meinen Versuchen stand, ja verstärkte sich sogar, und zudem war mir auch noch speiübel, da ich quasi pures Koffein in rauen Mengen auf leeren Magen getrunken hatte. Ich wusste nicht, was ich lieber hätte tun wollen, schlafen oder kotzen.
Da saß ich also todmüde, mit der stärksten Übelkeit meines Lebens und Kopfschmerzen und musste einer lebenden Schlaftablette zuhören. Irgendwie schaffte ich es dennoch bis zur Mittagspause ohne einzuschlafen. Beim Lunch saß ich neben Josh, der mir versuchte zu erklären, warum er nicht ins Skilandheim mitkommen könnte. Er sagte irgendwas mit Berufsorientierung, aber mein Gehirn nahm so gut wie nichts von dem, was er sagte auf, einfach weil es zu anstrengend war für meine müden Gehirnzellen. Irgendwann verabschiedete ich mich von Josh - er gab mir einen Wangekuss - und setzte mich auf eine Bank im Schulpark. Kurz schloss ich die Augen, doch eine Finger, der gegen meine Stirn geschnipst wurde, hielt mich von meinem heißersehnten Schlaf ab. Als ich die Augen öffnete, sah ich Raphael, der mich verschmitzt anlächelte und mir eine Picknickdecke entgegenstreckte. Ich schüttelte bloß lustlos den Kopf, wurde aber von Raphael mitgezogen zu einem passenden Picknickort. Dort breitete er die karierte Decke auf dem Rasen aus und setzte sich in den Schatten, den die riesigen Bäume warfen. Er klopfte einige Male neben sich auf die Decke, was mich schmunzeln und aufgeben ließ. Ich ließ mich neben ihm fallen und legte mich auf den Stoff. An den Fleck, an dem ich lag, hatten sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Baumkrone gekämpft und schienen mir jetzt ins Gesicht, was ich als herrlich entspannend empfand. Auch Raffi legte sich hin und entspannte sich. "Du solltest versuchen ein wenig zu schlafen", riet er mir mit klarer Stimme. Ich brummte zustimmend und merkte nurnoch wie er seinen Arm in meinen Nacken schob um mir ein Kissen zu sein. Ich murmelte nur etwas unverständliches und kuschelte mich dann näher an Raffi, sodass ich auf seiner Schulter lag, wo es um einiges gemütlicher war. Im nächsten Moment bekam ich schon nichts mehr mit.
Ein zartes Rütteln an meinen Schultern ließ mich aus dem Schlaf gleiten und holte mich zurück aus der wunderschönen Welt der Träume auf die Picknickdecke unter den hohen Bäumen. Mein erster Blick galt Raphaels unvergleichlichen tiefblauen Augen, die mich so sehr an Josh erinnerten, aber mich doch auf eine ganz andere Weise gefangen hielten. Vielleicht war es die Müdigkeit, die mich in diesem Moment einholte und mir weiche Knie bereitete, doch andererseits musterte ich jeden Quadratmillimeter - jede Wölbung, jeden angespannten Muskel und jeden charakteristischen Gesichtszug - von Raphaels beliebten Gesicht und tief in mir wusste ich, dass meine Knie wegen Raphael zu Wackelpudding wurden und nicht aufgrund der Müdigkeit - und das sogar im Liegen! Ich wusste auch, weshalb Raphael der mit Abstand beliebteste Schüler war: Dazu musste ich nur in sein Gesicht schauen und für mindestens zwei Minuten mit ihm reden. Er neckte auf so liebevolle, aber doch freche Weise. Er war aufmerksam, zuverlässig und gab gut Konter. Ich verstand halbwegs, was ich fühlte und doch gab es da noch Josh. Und den Fakt, das Raphael homosexuell war und in Isaac unglücklich verliebt war.
Josh war reizend. Er war lieb, zuvorkommend, höflich, vielseitig begabt und begeistert von so vielen unterschiedlichen Dingen. Es tat mir für ihn leid, dass mein Herz zum Teil seinem Bruder gehörte.
"Der Unterricht beginnt gleich wieder. Aufstehen Schlafmütze!", lachte Raphael mit seinem Oral-B-Lächeln und brach somit meinen verlorenen Blick in seine unergründlichen tiefseeblauen Augen. Ein wenig ausgeschlafener raffte ich mich hoch und packte die Decke zusammen und drückte sie Raffi in die Hände. "Komm, ich begleite dich noch zum Naturwissenschaftsraum", bot er an und ließ mir den Vortritt. "Wie läuft's eigentlich mit Isaac?", wollte ich wissen, "Ist es nicht schwer so zu fühlen und doch zu wissen, dass es niemals funktionieren wird zwischen euch?"
Raffi blähte seine Wangen auf und schien unsicher über das Thema zu werden. "Ich weiß nicht, Maddy. Ich glaube nicht, dass das die Gefühle sind, die du meinst", bezweifelte er meine Aussage, "Er ist, egal was los ist, mein bester Freund und das Leiden beruht auf unserer Freundschaft und nichts anderem - weil ich ihn... Naja, ich hab das Gefühl er entfernt sich immer mehr durch die ganzen Konflikte. Ich will- ich will ihn einfach nicht verlieren." Vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter und versuchte ihm irgendwie Trost zu spenden. Gerade wollte ich etwas antworten, doch dann... "Wir sind da, ich muss jetzt auch los. Ich hab doch jetzt Mathe", unterbrach Raffi meinen Versuch etwas zu sagen. Er drückte mich einmal fest und streifte mit seinen rauen Lippen über meine Wange, die zu diesem Zeitpunkt nicht schneller hätte rot werden können. Ein warmes Gefühl durchströmte jede Faser meines Körpers. Dieses Gefühl war so unglaublich, so komplett anders als bei Josh, doch Joshs Wangenkuss stand diesem in nichts nach, trotz des unterschiedlichen Gefühls. Beide Gefühle waren echt und unbegreiflich, aber auf so verschiedene Art und Weise.
Bevor ich meinen Gedanken zuende denken konnte, entfernte sich Raffi schon und warf mir noch ein paar Grimassen zu. Manche Dinge würden sich einfach nie ändern.
Mit einem ausgeschlafeneren Gemüt als zuvor stakste ich in meine Physikklasse. Irgendwo saßen schon Emily und Kloë - ich warf ihnen einen grüßenden Blick zu - und witzelten miteinander. Und dann gab es noch die andere Ecke des Raumes, wo ich saß. Mit Britt. Abseits von all den uns bekannten Menschen. Schnaufend sank ich auf meinen Platz und richtete mein Zeug, während Britt verträumt ihren Nagel falsch lackierte. "Britt, dein Finger", machte ich Brittany auf das Nagelunglück aufmersam. Diese schreckte aus den Sphären, in denen sie zuvor geschwebt war, und musterte hysterisch ihren Nagel. Ich musste bei diesem Anblick lächeln - auch wenn meine schlechte Laune noch nicht ganz verflogen war.
"Guten Tag, heute wird ein mentaler und emotionaler Einstufungstest geschrieben. Das kommt jetzt etwas kurzfristig, aber das ist halt jetzt so." - Es war Beckleburg der da sprach und gelangweilt auf den Blätterstapel in seiner Hand starrte.
Ich fand diesen Einstufungstest großartig, da wir Dank diesem kein Physik machen musste. Des Weiteren half dieser Test bei der berufliche Orientierung , was auch nur von Vorteil war. Hochmotiviert, aber immernoch ein bisschen müde, riss ich dem schottischen Physiklehrer den Bogen aus der Hand und schrieb meinen Namen auf die dafür vorgegebene Linie. Darunter standen die ersten Fragen, die es anzukreuzen galt. Die meisten davon handelten von Selbsteinschätzung. Auf der zweiten Seite begannen erst die spannenden Aufgaben.
Eine Person 'A' fotographiert eine Person 'B' (Stalking), behält diese Bilder jedoch für sich selbst, aber nach einiger Zeit verbrennt Person 'A' alle Bilder, weil eine Person 'C' Person 'A' verraten hat. Aber ein unvorteilhaftes Bild, das 'C' von 'A' geklaut hat, wird durch 'C' im Internet veröffnetlicht.. Wer hat Ihrer Meinung nach Person 'B' mehr geschadet. Person 'A' oder Person 'C'.
Persönlich glaubte ich, das das vom Bild abhing. Wenn es bloß "unvorteilhaft" war, dann hatte A Person B
mehr geschadet, da diese Person, massiv in die Privatsphäre von Person B eingedrungen war. Wenn aber das Bild das Image von Person B zerstört hatte, sodass Person B das Leben nicht mehr normal und rihig leben konnte, dann hatte Person C mehr Schaden angerichtet.
Irgendwie hatte ich meine Meinung schlussendlich auch auf das Blatt gekritzelt. Weitere Fragen lauteten beispielsweise so:
Es ist Nacht. Sie stehen an einer Kreuzung. Der linke Weg ist breit und beleuchtet, führt aber zu einem Wald. Der rechte Weg ist dunkel und schmal und nicht geschützt, führt aber in Eichtung Stadt. Welchen Weg würden Sie wählen?
Oder so:
Wenn Sie eine Chance hätten Ihren größten Traum zu verwirklichen, dafür aber eine zufällig gewählte Person aus Ihrem engsten Kreis für immer unterdrückt und von Pech verfolgt wäre, würden Sie die Chance nutzen?
Ich fühlte mich, als würde ich einen moralischen Test auf TesteDich machen oder herausfinden wollen in welchem Haus von Harry Potter ich bin per PotterMore.
Ich blätterte und blätterte immer weiter durch den Bogen und gelangte irgendwann bei der letzten Aufgabe an. Mit müden Augen las ich mir den kleinen Text durch.
Wenn eine sehr geliebte Person von Ihnen für immer todkrank wäre, aber nie sterben könnte und nur durch Ihren Tod gesund werden würde, würden Sie sich umbringen?
Ich verstand die Frage beim ersten Lesen nicht. Auch beim zweiten Mal verlor ich meine Konzentration. Schließlich beim dritten Mal wurde mir klar, welche Frage dort vor mir lag.
Ich konnte nichts ankreuzen. Würde ich 'nein' ankreuzen, würde ich leben, aber vielleicht Mama, vielleicht Papa, oder mein Bruder, einer oder eine würde wegen mir für immer leiden. Es wäre meine Schuld, dass diese Person litt. Würde ich 'ja' ankreuzen würde die geliebte Person putzmunter sein, aber ich wäre tot.
Mein Stift wanderte von Kästchen zu Kästchen. Zwhn Minuten saß ich einfach nur da und wischte mir ab und zu den Schweiß von der Stirn. Letztendlich gab ich es auf.
Ich zeichnete unter die Aufgabenstellung ein drittes Kästchen und setzte dort mein Kreuz, neben welches ich die Worte 'ich finde keine Entscheidung' schrieb.
Schnaufend und seufzend schlug ich den Bogen zu, stand auf und reichte ihn Mister Beckleburg-McFlurry. Außerhalb des Raums wartete ich noch auf Kloë, Britt und Emily, wobei ich mit letzterer reden wollte - nicht nur über ihre Antworten beim Einstufungstest. Auch über Probleme. Wenn ich über Probleme reden wollte, ging ich vorzugsweise zu Emily; sie antwortete immerhin gewissenhaft, während Kloë immer den einfachsten Weg nannte, der in 99% der Fälle nicht funktionierte.
Wir beide nahmen Abstand von Kloë und Britt - gerade mal zwei Meter, sodass man uns nicht hören konnte.
Und dann begann es.
Ich motzte und zeterte und wimmerte und fauchte. Ich lachte und keuchte. Ich regte mich über mich selbst auf und war verzweifelt in meiner Situation mit den Zwillingen.
Und das alles passierte innerhalb von wenigen Minuten - vielleicht fünf. Maximal! Emily hörte mir aufmerksam zu. Ihr Ausdruck glich dem einer Psychologin, die sich zu 100% in die Probleme ihres Patienten hineinkniete. Sie riet mir viel, aber nichts kam bei mir an. Das schien ihr aufzufallen und kurz bevor ich zur Schwimmhalle der SPPBS abbog, drückte sie ihren schmalen Zeigefinger seitlich gegen meinen Schädel. Mit aufgerissenen Augen verfolgte ich ihre Aktionen.
Emily ihrerseits tat nicht viel. Sie tippt auf meine Schläfe und schüttelte den Kopf. Dann wanderte ihr Finger auf meine linke Brust. Auch dort tippte sie einige Male gegen meine Haut. Doch diesmal schaute sie mich nur durchdringend an und lächelte mir leicht zu.
"Manche Dinge, Maddy", unterbrach die kleine Brünette die Stille, "kann man nicht mithilfe des Gehirns verstehen."
Emily nahm ihre Hand von meinem Dekolleté und drückte mir einmal fest meine Hand bevor sie ging. Die besagte Hand bewegte sich wie von selbst. Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter arbeitete sich meine Hand nach oben und legte sich schließlich dort ab, wo zuvor Emilys Hand platziert war.
Es war wahr.
Manche Dinge ließen sich nicht mit denken regeln.
Aber was würde geschehen, wenn nicht mal mein Herz die Antwort kannte?
Schließlich hatte jeder Schlag unseres Herzens einen Nachschlag. Es machte Boodoom, nicht nur Boom. Und mit jeden Schlag für Josh, kam auch ein Schlag für Raphael. Und mit jedem Gefühl für Josh, kam auch ein Gefühl für Raphael.
Selbst mein Herz konnte sich nicht entscheiden - wenigstens dessen war ich mir vollständig bewusst.
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Mittwoch ist zwar seit fast 6 Stunden vorbei, aber hier kommt das wöchentliche Kapitel, ihr Böhnchen <3
Bis nächsten 'Mittwoch'
L
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