Nach einer Nacht des Nachdenkens beschloss ich, das Thema vorerst auf Eis zu legen. Wenn Luca tatsächlich mehr als Freundschaft für mich empfand, hätte er meine Andeutungen verstanden und in irgendeiner Form auf mich reagiert. Da dies nicht der Fall gewesen war, hatte es auch keinen Sinn, ihn direkt mit meinen Gefühlen zu konfrontieren. Er hätte mich wahrscheinlich sowieso zurückgewiesen.
Vermutlich lag ich völlig falsch mit der Annahme, dass ihm der Tag am Meer etwas bedeutet hatte. Vielleicht hatte er das Lied seit dem nicht mehr gehört. Vielleicht kannte er den Text gar nicht und verstand deshalb die Anspielung nicht? Und der Spitzname war nichts weiter als eine Angewohnheit, die für ihn eine ganz andere, banalere Bedeutung hatte, als für mich.
Als wir alle beim Frühstück saßen, war die Stimmung bei uns allen bestens. Sogar ich ließ mich letztendlich anstecken und scherzte mit Hamza und Julian. Meine Schwester warf mir ein paar Mal besorgte Blicke zu. Sie kannte einen Teil meines Plans und hatte meine Enttäuschung am Abend natürlich mitbekommen. Bis jetzt hatten wir aber noch keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. Auch, weil ich es im Moment einfach nicht wollte. Nicht in der engen Hütte, in der viel zu viel Publikum war. Später, im Auto, hatten wir über eine Stunde Gelegenheit, miteinander zu reden.
»Was habt ihr eigentlich für Silvester geplant?«, fragte Julian.
»Wir sind bei Elena«, erklärte Anna und Hamza nickte zustimmend. »Seid ihr nicht auch eingeladen?«
Julian nickte und schob sich gleichzeitig eine riesige Portion Rührei in den Mund.
»Sind wir, aber wir gehen zu jemandem aus meiner Stufe«, antwortete Elias. Dann sah er mich an. »Bist du auch da? Bei Marco Brandtner?«
Elias und ich besuchten zwar nicht das gleiche Gymnasium, aber bei nur drei Gymnasien in der Stadt war es unvermeidlich, dass die Stufen irgendwie ständig zusammenhingen. Und die Einladung zu Marco hatte ich tatsächlich auch bekommen. Aber ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Ach, da fällt mir gerade noch was ein«, rief meine Schwester plötzlich. »Ich habe vorhin mit den Jungs gesprochen, als du noch nicht dagewesen bist, Mia. Wir müssen wegen der Rückfahrt umdisponieren. Hamza kommt mit zu mir und ich setze Julian und Elias nachher am Bahnhof ab. Das heißt, du, Mia, musst gleich mit Luca fahren. Das ist doch kein Problem, oder Luca?«
Etwas überrumpelt blickte ich von meinem Frühstück auf.
Luca zuckte mit den Schultern. »Klar, das ist kein Umweg, ich fahre sowieso in eure Richtung.«
Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment mehr störte. Diese spontane und eigenwillige Umplanung meiner Schwester oder die eher emotionslose Reaktion von Luca, mich mitnehmen zu müssen. Oder, dass einfach über meinen Kopf hinweg entschieden wurde und meine Meinung anscheinend niemanden interessierte.
Meinen bösen Blick quittierte meine Schwester mit einem zufriedenen Lächeln, ansonsten ignorierte sie mich. Und ich hatte jetzt auch nicht die Absicht, einen Aufstand zu machen und mich zu weigern. Irgendwie würde ich die Autofahrt mit Luca schon überstehen.
Da Julian und Elias ihren Zug pünktlich erreichen mussten, machten sich meine Schwester und ihre Mitfahrer bald auf den Weg, während Luca und ich die letzten Handgriffe erledigten, um das Haus wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Wir gingen noch einmal gemeinsam durch alle Räume, kontrollierten, ob alle Lebensmittel eingepackt waren und niemand etwas vergessen hatte und ob alle Fensterläden geschlossen waren. Dann schloss ich die Haustür ab, wir setzten uns in Lucas Auto und fuhren los.
Die Fahrt verlief in tiefster Stille. Nur die leisen Stimmen aus dem Radio und Latikas Schnarchen auf der Rückbank waren zu hören.
Ich hing meinen Gedanken nach - trüben Gedanken. Das Wochenende war anders verlaufen als geplant. Und doch hatte ich eine Antwort bekommen, die ich mir zwar nicht gewünscht hatte, die mir aber zumindest zeigte, wo ich stand. Meine Hoffnungen, dass Lucas Blicke oder dieser elende Spitzname irgendetwas bedeuten würden, hatten sich zerschlagen. Es war an der Zeit, diese Träumereien zu den Akten zu legen.
»Hey, ähm ...«, riss mich Luca plötzlich aus meinen Gedanken. »Ich wollte mich noch für das Geschenk bedanken. Ich habe mich wirklich sehr darüber gefreut.«
Ich blinzelte und sah ihn erstaunt an. »Du weißt, dass es von mir war?«
Er lachte. »Natürlich, das war ja nicht so schwer.«
»Aber warum hast du nichts gesagt oder ... irgendwie reagiert?«
Er rieb sich etwas verlegen über die Wange. »Okay, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen blöd, aber wir machen es ja immer so, dass über den Schenker nicht spekuliert wird. Und ich habe mich nicht getraut. Weil ... na ja, die Aufmerksamkeit war auf mich gerichtet und ich hatte Angst, dass ich dann groß hätte erklären müssen, woher ich sofort wusste, von wem das Geschenk kam.«
»Du hast also lieber geschwiegen?«, fragte ich etwas verärgert.
»Ja«, gab er zerknirscht zu. »Das war vielleicht nicht die beste Entscheidung.«
Ich schnaubte. »Nein.«
»Mia, ich muss dir noch etwas sagen«, begann er nach einer Weile wieder.
Doch statt weiterzusprechen, zögerte er eine gefühlte Ewigkeit. Ich zwang mich, ihn ruhig anzusehen und abzuwarten, obwohl ich ihn am liebsten angeschrien hätte, so nervös machte mich sein Verhalten. Und so wütend. Ich konnte immer noch nicht begreifen, dass er so ein Feigling war und lieber so tat, als wüsste er von nichts.
»Der Tag damals in Katwijk«, fuhr er schließlich fort. »Ich kann den Song nicht mehr hören, ohne an dich zu denken. Und ich ... ich habe es mir in den letzten Monaten ziemlich oft angehört. Eigentlich die ganze Zeit.«
Er klang sehr nervös. So nervös, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Seine Hände spielten am Lenkrad herum, trommelten dagegen, eine Hand legte sich auf sein Bein und begann an seiner Jeans zu zupfen. Dann holte er plötzlich tief Luft und nickte, als hätte er sich gerade Mut zugesprochen.
»Ich bin in dich verliebt, Mia. Eigentlich schon seit dem Tag.«
Mein Herz setzte aus. Ungläubig starrte ich ihn an. »Du ... was? Aber warum hast du nie etwas gesagt?«
Er lachte. »Weil deine Schwester mich zu Hackfleisch verarbeitet, hätte sie irgendwie den Verdacht, ich würde dir das Herz brechen.«
»Du hast nie mit Anna darüber gesprochen!«
Er schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich hab ihr nichts über meine Gefühle zu dir verraten. Ich wollte nicht riskieren, die Freundschaft zu Anna zu gefährden, weil ich auf ihre kleine Schwester stehe. Und ich habe mich gleichzeitig auch nie getraut, dir näher zu kommen, weil ich nicht einschätzen konnte, ob du auch so empfindest.«
Ich starrte ihn weiter an und begann langsam, das Gehörte zu verarbeiten und zu verstehen. Und mit dem, was am Wochenende passiert war, in Einklang zu bringen.
»Und du hast gestern nichts gesagt oder mir ein Zeichen gegeben, weil Anna da war?«
»Ja«, druckst er herum. »Ich wollte erst mal mit dir alleine reden. Aber es gab dann keine Gelegenheit. «
»Doch, vorhin, als wir alleine im Haus waren.«
»Ach, komm, das wäre doch ein ziemlich ungünstiger Zeitpunkt gewesen. Außerdem warst du so abweisend und ich wusste nicht, wie ich dein Verhalten deuten soll.«
Ich schaute ihn schweigend an, was ihn sichtlich nervös machte. Und dann lachte ich ... erst war es nur ein leises Glucksen, aber es wurde schnell zu einem etwas hysterischen Lachanfall. Ich lachte einfach los, laut und aus vollem Herzen.
Jetzt starrte mich Luca verwirrt und unsicher an. »Ist alles in Ordnung? Soll ich anhalten?«
Zu meinem Lachanfall gesellte sich nun auch noch ein unangenehmer Schluckauf, der mir endgültig den Atem raubte. Latika gab auf dem Rücksitz ein leises Jaulen von sich und sie wäre mir wahrscheinlich sofort zu Hilfe geeilt, wenn sie nicht angeschnallt gewesen wäre. Nur am Rande bekam ich mit, wie Luca den Wagen in eine Parkbucht lenkte und anhielt.
Während ich mit Schluckauf und Atemnot kämpfte, rieb er mir beruhigend den Rücken und reichte mir eine Flasche Wasser. Das Trinken half ein wenig, und als ich endlich das Gefühl hatte, nicht gleich zu ersticken, schaute ich auf und ihm direkt in die Augen.
Ein vorsichtiges und gleichzeitig extrem süßes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine braunen Augen sahen mich so vertraut an, dass mir ganz heiß wurde.
»Ich wollte nicht, dass du erstickst, entschuldige.«
Ich lächelte zurück und wischte mir mit dem Finger die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. »Entschuldige, ich wollte mich nicht über dich lustig machen. Das hier ist nur so eine surreale Situation. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben mit dem Buch und den Hinweisen und war so enttäuscht, weil du den Eindruck erweckt hast, dass du sie nicht verstehst. Dabei haben wir beide schon so lange Gefühle füreinander. Aber keiner traute sich, es dem anderen zu sagen. Und die Einzige, die es theoretisch wissen könnte, ist Anna. Aber die ist völlig ahnungslos. Es ist dir also sehr gut gelungen, deine Gefühle vor ihr zu verbergen. Sonst hätte sie schon viel früher etwas unternommen, um uns gehörig in den Arsch zu treten.«
Er runzelte die Stirn, dann fingen seine Augen plötzlich an zu leuchten, und das warme Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Willst du damit sagen, dass ich das hier schon viel früher hätte tun können?«
Seine Hand hob sich, legte sich warm um mein Gesicht. Und dann küsste er mich. Ich war völlig überrumpelt und reagierte zunächst gar nicht. Doch dann drang das Gefühl seiner Lippen, sein Geruch, sein Geschmack in mein Bewusstsein und ich ließ mich völlig fallen.
»Schade, dass wir uns das haben entgehen lassen«, murmelte ich, als wir nach Luft schnappten müssen. »Und alles nur, weil du dich deiner besten Freundin nicht anvertraut hast.«
»Ey, die kann richtig furchterregend werden, wenn sie denkt, es wäre nötig.«
»Du bist ein Idiot!« Ich lachte und legte meine Lippen wieder auf seine.
Diesmal war der Kuss fordernder und am liebsten hätte ich nie wieder aufgehört.
Viel zu früh löste er sich wieder von mir. »Wir sollten weiterfahren«, murmelte er. »Das ist nicht der richtige Ort für das, was wir hier tun.«
»Nein«, antwortete ich wenig geistreich. Immer noch benebelt von seinem Geschmack.
Doch bevor Luca losfuhr, griff er nach seinem Handy und tippte darauf herum. Als ich die vertrauten Klänge aus den Lautsprechern hörte, musste ich lächeln.
›Punk Rock Princess‹.
Unsere Blicke trafen sich.
»Was hattest du an Silvester noch vor?«, fragte er mich.
Ich schüttelte grinsend den Kopf. »Nichts. Meine Leute können sich alle nicht entscheiden.«
»Gut.« Sein Grinsen wurde breiter. »Wenn du Lust hast, dann komm doch mit. Meine Mitbewohner machen eine Party. Wenn du keine Lust hast zu feiern, können wir auch was anderes machen ...«
»Lädst du mich alleine ein oder ist Anna auch dabei?«
Er stöhnte und rieb sich wieder die Wange. »Das nimmst du mir übel, oder? Es tut mir leid. Die Einladung war völlig ernst gemeint. Aber sie ist mir in dem Moment rausgerutscht und ich habe erst in der nächsten Sekunde gemerkt, dass Anna zuhört und dann musste ich es irgendwie ...«
Ich legte meinen Finger auf seine Lippen. »Schon gut«, unterbrach ich ihn lächelnd. »Ich freue mich darauf, deine WG kennenzulernen.«
Erleichtert nickte er, startete den Wagen und fuhr los.
Während ›Punk Rock Princess‹ aus den Lautsprechern dröhnte, trafen sich unsere Hände auf der Mittelkonsole und verschlangen sich ineinander. Und die Schmetterlinge in meinem Bauch wirbelten heftig durcheinander.
Ich war glücklich. Auch, wenn zunächst alles anders ausgesehen hatte, hatte ich nun endlich das erreicht, was ich mir gewünscht hatte. Mit großer Vorfreude blickte ich in die Zukunft, auf das neue Jahr, auf einen neuen Abschnitt in meinem Leben mit Luca. Und musste unwillkürlich lächeln, als ich die Zeilen hörte, die nun aus den Boxen dröhnten.
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Aus urheberrechtlichen Gründen habe ich den Songtext an dieser Stelle leider entfernt. In den Kommentaren findet ihr einen Link mit dem vollständigen Text.
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