Berlin, Justizvollzugsanstalt, 1999.
Lügen haben kurze Beine. Das hatte Alex' Mutter ihrer Tochter mitgegeben und das wäre wohl auch das gewesen, was Alex ihrem kleinen Mädchen gesagt hätte, wenn sie denn bei ihr aufgewachsen wäre. Und genau das war der springende Punkt: wenn sie bei ihr aufgewachsen wäre. Wenn. Das war die Variable in der Gleichung, die alle anderen Konstanten kippte.
Wenn es möglich war, dass Kinder ihren Eltern weggenommen und für tot erklärt wurden – wenn eine so drastische Lüge aufgetischt wurde –, war es dann nicht auch möglich, mit einer Retourkutsche, die auf demselben wackligen Lügengerüst basierte, alles zurückzuzahlen? Lügen haben kurze Beine und früher oder später wird man darüber fallen. Das war auch Alex klar. Doch als sie im Besuchsraum der JVA dem Mann gegenüber saß, den sie so sehr geliebt und der sie noch viel mehr enttäuscht hatte, verspürte sie nicht den leisesten Hauch eines Schuldgefühls.
Gerne wäre sie in der Geschichte ihres Lebens die Figur gewesen, die allen Widerständen zum Trotz mit Tugendhaftigkeit und Ehrlichkeit bis an ihr Ziel kam, um dann als Idealbeispiel zu strahlen. Seht her, so macht man das! Doch so war das nicht. Sie war auch nicht an ihr Ziel gekommen, denn das hatte sich als Utopie herausgestellt. Eine heile Familie hatte sie sich gewünscht, alles war zerbrochen. Also, warum musste sie dann diejenige sein, die die Geschichte durch tadelloses Verhalten abrundete?
„Keine Berührungen!", hörte man ab und an eine strenge Stimme durch den karg eingerichteten Besuchsraum hallen. Die kahlen Wände fingen jedes Geräusch auf und ließen es widerhallen. Bei Alex brauchte es diesen Hinweis gar nicht. Sie empfing Eugen, ohne auch nur Anstalten zu einer Umarmung oder gar eines Händedrucks zu machen.
„Du siehst wunderschön aus", begrüßte Eugen sie und nahm ihr gegenüber an dem grauen Tisch Platz. Als er seinen Blick über Alex' hellrosa Trägerkleid gleiten ließ, das durch die Magie von einhundert Prozent Polyester wie Seide glänzte, errötete sie leicht.
„Danke für deine ganzen Bemühungen", sagte sie und wich seinem Blick aus. Sie wollte von sich selbst ablenken, wollte sich ungerne zum Thema machen. Wozu hatte sie sich so herausgeputzt – für Eugen? Nein, sie tat es für sich selbst.
„Ich bin wahrscheinlich ein hoffnungsloser Optimist, wenn ich annehme, dass es für uns beide noch eine Chance gibt ...?", entgegnete Eugen und in seinen Augen funkelte ein kleines bisschen davon auf, wofür Alex ihn so geliebt hatte. Dieses charismatische Lächeln, die Selbstsicherheit in seinem Blick. Seine Hände hatte er vor sich auf den Tisch gelegt, Alex hatte ihre unter dem Tisch auf ihrem Schoß. Sie wollte nicht, dass er sie berührte. Und zwar nicht deswegen, weil sie sich vor ihm ekelte oder ihn verabscheute. Sie wollte es nicht, weil sie viel zu große Angst davor hatte, dass sich in ihrem Inneren – in ihrem Herzen – ein Gefühl entzünden könnte, das unkontrollierbar wäre. Es würde einen Flächenbrand auslösen und sie wusste genau, dass sie allein nicht dazu in der Lage war, es zu löschen.
„Ich weiß nicht, warum du das tust. Warum du Maria und mich so unterstützt. Du kannst mir am Telefon noch so oft vorbeten, dass du das machst, damit das mit uns beiden vielleicht irgendwann mal weitergeht, wenn du wieder draußen bist. Aber irgendwie glaube ich dir das nicht. Wie soll ich dir denn überhaupt jemals wieder irgendwas glauben?", gab Ales zurück. Ungewollt klang ihre Stimme fast ein bisschen weinerlich. Unwillkürlich legte sie ihre Hände auf den Tisch und spielte an dem feinen silbernen Ring an ihrer rechten Hand herum.
„Das musst du nicht. Du musst mir nichts glauben. Aber ich denke, du tust es ja doch, denn sonst würdest du nicht hier sein und mir gegenüber sitzen." Eugen ließ sein liebenswertes schiefes Grinsen seine Wirkung tun, ehe er seine Hand über die Tischplatte langsam in Richtung Alex wandern ließ. Als sie es bemerkte, zog sie ihre Hände zurück und legte sie wieder in ihrem Schoß ab. Verdammt, dieser Kerl zog alle Register!
„Wenn ich mit offenen Karten gespielt hätte, dann wären wir nie zusammen gekommen. War unsere gemeinsame Zeit denn so ein großer Fehler?", stellte Eugen nun eine Frage. Alex' Augen verengten sich. Ja, Eugen war ein unverschämt charismatischer Mann. Doch ihm passierte immer wieder das hier: Er stolperte über seine eigene Selbstsicherheit. Das war damals vor drei Jahren auch im Krankenhaus passiert, als er Maria gesagt hatte, sie würde nur die Zeit aller Anwesenden verschwenden. Da war die Sache eskaliert. Früher oder später sagte Eugen immer irgendwas, das sein Gegenüber total aus der Reserve lockte. Ob das Absicht war oder nicht, das konnte Alex nicht beurteilen. Aber es nervte und es war jetzt gerade schon wieder passiert.
Und zwar so: Eugen stellte die Sache so dar, als sei seine Lüge etwas Gutes gewesen, weil sie dazu geführt hatte, dass die Beziehung zwischen der jungen Alex und ihm hatte entstehen können. War das ein gutes Argument fürs Lügen? Nein, war es nicht. Es verursachte einfach nur, dass seiner Besucherin am liebsten aufgesprungen wäre und das Weite gesucht hätte. Doch sie blieb sitzen, ihrem Ärger zum Trotz.
„Genau wegen solchen Äußerungen will ich nie wieder mehr mit dir zusammen sein. Du bist uneinsichtig und merkst es noch nicht einmal. Oder tust du nur so? Gefällt es dir, zu sehen, wie du mich auf die Palme bringst? Ich danke dir dafür, dass du aus dem Knast heraus den Kontakt zu Edith hergestellt hast. Und ich rechne es dir hoch an, dass du auch Maria geholfen hast, Leonies Adresse herauszufinden. Wobei das letzte eigentlich selbstverständlich ist ... Aber damit will ich jetzt nicht wieder anfangen. Trotz allem wird es kein Wir mehr geben und ich bitte dich darum, das zu respektieren", stellte Alex klar. Eugen nickte nur und seufzte.
„Gut. Ich wünsche dir weiterhin nur das Beste in deinem Leben. Und vor allem wünsche ich dir, dass die Falschaussage dein Gewissen nicht allzu sehr belastet." Damit stand er auf und ließ sich zurück auf seine Zelle bringen. Er warf keinen Blick zurück. Alex saß noch einen Moment da, wie vom Donner gerührt. Dann fasste sie sich wieder. Mit seinen Lasten musste man leben lernen. Ob sie einem von anderen aufgebürdet worden waren oder ob man sie sich selbst in den aufgehalst hatte.
Eugens Rucksack war sicherlich tonnenschwer. Und zwar ganz eindeutig deshalb: Er hatte so unfassbar viel Schuld auf sich geladen, indem er blind Befehle befolgt und so etliche Familien zerstört hatte. Doch in dem Moment, in dem Alex vor der Polizei und schließlich auch vor Gericht ausgesagt hatte, dass Eugen die Waffe auf Maria gerichtet und ihr ins Knie geschossen habe, war auch ihr eigener Rucksack um einige Zentner schwerer geworden.
Bald würde Eugen entlassen werden. Geld besaß er genug, um irgendwo einen Neuanfang zu starten. Vielleicht würde er Alex einfach in Ruhe lassen. Womöglich würde er eines Tages wieder vor ihrer Tür stehen. Möglicherweise hatte er irgendwann einmal einen guten Beweis dafür, dass sie eine Falschaussage getätigt hatte. Dafür, dass sie Maria zu verstehen gegeben hatte, dass sie mitmachen sollte, zuhören und sich die Lüge merken. Alles konnte passieren. Doch an diesem Punkt wollte Alex sich nicht auf das konzentrieren, was irgendwann einmal sein konnte.
Ihr Fokus sollte darauf liegen, den Schutt der Vergangenheit beiseite zu räumen und endlich etwas Schönes auf den Ruinen zu bauen. Dieses Wochenende würde sie wieder nach Donaueschingen fahren, um Edith zu besuchen. Glücklicherweise hatte ihre Adoptivfamilie nichts gegen den Kontakt, auch wenn sie natürlich keine Luftsprünge machten, wenn Alex dort aufschlug.
Edith war ein wunderschönes Mädchen geworden und ungeheuer klug. Fast schon neunmalklug, so würde Alex' Mutter – Ediths Oma – sagen. Von ihrer Enkelin hatte sie bisher nur ein Foto gesehen. Ein Schnappschuss von Alex und ihren beiden Töchtern, den Ediths Adoptivvater gemacht hatte. Es würde sich alles ändern. Mit der Zeit. Mit der Zeit würde alles besser werden. Edith würde endlich nach und nach ihre richtige Familie kennenlernen. Wie das alles geschehen würde, wusste Alex selbst noch nicht. Aber man durfte nie die Hoffnung aufgeben. Wenn sie eine Sache in ihren vierunddreißig Jahren gelernt hatte, dann war es das: Nie die Hoffnung aufgeben.
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