XXII. Wieder im Leben
A13, bei Berlin-Neukölln, 1999.
Wenn sich das Wetter änderte, dann kribbelte es in Marias rechtem Knie. Das bedeutete, es würde noch einmal richtig schön sommerlich werden, bevor der Herbst zuschlagen konnte. Sollte es jemals wieder schön werden?, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Ausfahrt nach Neukölln passierten. Bald würden sie in Lichtenberg ankommen, wieder zurück in der Gegenwart. In der Gegenwart, in der Maria sich mit Alex eine Wohnung teilte.
Es war viel passiert nach dem Schuss, der bei Weitem nicht nur drei Leben verändert hatte. Die Kugel hatte Marias Knie getroffen. Glück im Unglück, denn der Treffer war nicht tödlich. Dennoch hatte er das komplizierte Gelenk zerschmettert und dafür gesorgt, dass sie ihr Leben lang hinken würde. Ja, die Waffe war geladen gewesen. Und der Gedanke war fast schrecklicher als die teuflischen Schmerzen, die ein Höllenfeuer in Marias Bein entzündet hatten. Diese verdammte Knarre hatte die ganze Zeit über schussbereit in ihrer Kommode gelegen. Nicht auszudenken, wenn sie jemandem – einem Kind sogar? – in die Hände gefallen wäre ...
Den Gedanken hatte auch Thomas gehabt, denn er hatte Christoph und Nadine genommen und zu seinen Eltern gebracht. Seit knapp drei Jahren waren er und Maria nun getrennt – aber nicht geschieden. Irgendwie hatte es noch keiner der beiden übers Herz bringen können. Oder gab es vielleicht doch noch die Möglichkeit, dass diese Geschichte gut ausgehen würde? Wie viel Zeit würde Thomas brauchen, um zu verarbeiten, dass seine Frau sich auf einem alles andere als legalen Weg eine Waffe gekauft hatte, um damit ... ja, um damit was zu tun ...?
Im Krankenhaus war der laute Knall natürlich ebenfalls nicht unbemerkt geblieben. Dumme Zufälle hatten es jedoch gut mit Maria gemeint. Wenige Sekunden später hatte der Stationsarzt die Tür aufgerissen und eine bizarre Szenerie vorgefunden: die Krankenschwester blutend auf dem Boden, der entlassene Patient verdattert mit der Waffe in der Hand. Keine halbe Stunde später hatte er auf dem Rücksitz eines grün-weißen Wagens gesessen. Alex hatte nichts gesagt, Wanner hatte sich nicht gewehrt. Vielleicht war ihm selbst bewusst gewesen, dass er das alles irgendwie verdient hatte. Aber sah jemand wie er seine Fehler überhaupt ein? Oder tat er nur so, um sich letztendlich als der Einsichtige, der Vernünftige zu präsentieren? Warum er geschwiegen hatte, statt sich mit Händen und Füßen zu verteidigen, war Maria nicht klar. Doch hinter dem Verhalten eines Eugen Wanners steckte doch immer eine Strategie.
„Hast du heute schon mit Leonie telefoniert?", fragte Alex und setzte den Blinker, um einen Lastwagen zu überholen. Der Motor des Kleinwagens heulte auf, als sie kräftig auf das Gaspedal trat.
„Noch nicht. Das werde ich heute Abend machen, wenn sie den Kleinen Schlafen gelegt hat", entgegnete Maria und spürte, wie sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Trotz allem. Trotz des Wissens, dass man ihr das eigene Kind weggenommen und in eine Familie gesteckt hatte, in der sie seit der Pubertät kategorisch vernachlässigt worden war. Seit sie mit Beginn des Jugendalters schwieriger geworden war, seit sie begonnen hatte, unbequeme Nachfragen zu stellen. Mit sechzehn Jahren war sie schließlich obdachlos geworden ... und schwanger. Jetzt, mit siebzehn, war sie Mama und Maria Oma.
Davon zu wissen, wie schlecht ihre Kleine behandelt worden war, war einfach grausam. Zu wissen, dass das Mädchen es bei Maria und Thomas, bei Christoph und Nadine so viel besser hätte haben können. Was erwartete man von Adoptiveltern? Das Mindeste war doch, dass sie dem Kind Sicherheit und Liebe gaben – und nicht dessen Selbstwert mit Worten zerstörten. Und all das nur wegen Wanner. Die Tatsache, dass er selbst aus der Untersuchungshaft heraus den Kontakt zu Leonie hergestellt hatte, machte das auch nicht wett, zumal das nicht unbedingt freiwillig und aus gutem Willen heraus geschehen war.
„Will sie zu uns kommen?", fragte Alex. Sie hatte den Überholvorgang beendet und war wieder ansprechbar. Das Fahren lag ihr nicht sehr, bei den Manövern konzentrierte sie sich so stark, dass sie angespannt auf ihrer Unterlippe herumkaute. Jetzt war sie wieder so relaxt, wie jemand sein konnte, der sich auf der Autobahn fühlte wie ein Elefant im Porzellanladen.
„Bald ist sie achtzehn, dann will sie kommen. Wird es dir echt nichts ausmachen, wenn sie mit ihrem Sohn bei uns wohnt?", hakte Maria nach. Alex finanzierte die Wohnung zum größten Teil allein. Nach ihrer Verletzung hatte Maria keine Arbeit mehr gefunden. Doch sie würde trotzdem nicht aufgeben. Als Krankenpflegerin konnte sie nicht mehr arbeiten, doch Sitzjobs wären kein Problem. Nur nicht aufgeben.
Die Bäume am Rand der A13 lichteten sich und gaben Maria der geballten Kraft des Sonnenscheins preis, der sich durch die Wolkendecke gekämpft hatte. Das Licht blendete sie, doch es fühlte sich trotzdem irgendwie gut an. Warm, sicher, behütet. Sie schloss einen Moment lang die Augen und hörte für den Augenblick nur das Rauschen der Autobahn. Dann öffnete sie die Augen wieder und schaute zu Alex. Die war ihr noch eine Antwort schuldig.
„Natürlich macht das nichts! Dann gibt es einen kleinen Spielgefährten für Klara", erwiderte Alex und schenkte Maria ein Lächeln. Klara, die Tochter von Alex, der ungewollte Spross von Eugen Wanner. Klara, die Wanner ähnlicher sah, als Maria lieb war. Wofür das Kind natürlich nichts konnte. Klara, die Engelslöckchen und ein ansteckendes Lachen hatte. Die kleine, zweijährige Klara, die Leben in die Bude brachte. In Marias Brustkorb – da, wo sich wohl das Herz befand – wurde es angenehm warm. Sie würden eine schöne, zusammengewürfelte Wohngemeinschaft abgeben.
„In der Mutter-Kind-Einrichtung fühlt sie sich nicht zuhause. Sie kann es kaum erwarten, endlich volljährig zu sein und für sich entscheiden zu können", fuhr Maria fort. Alex nickte zustimmend.
„Das ist niemals wie ein richtiges Zuhause. Sie hätte es bei dir so gut haben können", sprach sie unwissend Marias eigene Gedanken aus. Diese biss die Zähne aufeinander, denn schon wieder verstopfte dieser dicke Kloß ihren Hals und schon wieder wollten die altbekannten Tränen aufsteigen. Wenn man doch nur irgendwie die Vergangenheit rückgängig machen könnte! Alex seufzte, als hätte sie schon wieder Marias Gedanken erraten. Doch die Rothaarige wusste, dass ihre Fahrerin gerade an ihre eigene Tochter dachte.
„Es ist zwar gut zu wissen, dass Edith in einer fürsorglichen Familie aufgewachsen ist, aber sie sind nicht ihre richtigen Eltern. Diese Leute wollen meine Tochter nicht gehen lassen, das habe ich gespürt", sagte Alex. „Das Wiedersehen war wohl nicht ganz das, was ich erwartet hatte. Aber was habe ich mir denn gedacht? Dass sie mir um den Hals fallen wird? Dass sie mich Mama nennen wird? Manchmal wünsche ich mir, ach, Scheiße ..."
Mit dem Ärmel wischte Alex sich über die Augen und Maria wurde ein bisschen bange, weil ihre Fahrerin besser auf die Straße achten sollte. Doch Alex fing sich wieder. Bald kam ihre Ausfahrt. Berlin-Lichtenberg.
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