XII. Zerrissen
Berlin-Lichtenberg 1995.
Als Kind war Maria das verzogene Balg gewesen, über das man sich beschwerte, weil sie keine Matschpfütze auslassen konnte und den schönen Sonntagsanzug vom eigenen geschniegelten und gestriegelten Spross vollspritzte. Hausarrest und Fernsehverbot waren dem feurigen Rotschopf immer egal gewesen, solange sie nachts eine Möglichkeit gefunden hatte, um unbemerkt aus dem Fenster im Erdgeschoss zu klettern. Ihre Eltern wussten vieles nicht. Nein, sie war kein liebes Kind gewesen, aber auch nicht bösartig.
Kinder konnten grausam sein, mit Worten, manche auch mit Taten. Grob gesagt hatte die kleine Maria damals zwei Arten von Kindern kennengelernt. Die lieben, die einen trösten konnten, wenn man sich das Knie aufgeschlagen hatte und die bösen, die einen dafür auslachten. Solche, die einem die Hälfte ihres Schokoriegels abgaben und solche, die einem die letzte Mark aus der Jackentasche klauten. Und was sie auch beobachtet hatte: die Verhaltensweisen blieben relativ konstant. Einmal böse, immer böse, so wie Leonhard, der sie immer mit vollgesabberten Papierkügelchen beschossen hatte. Immer und immer wieder, weil er eine Reaktion hatte provozieren wollen.
Kinder konnten grausam sein, aber nicht alle. Maria hatte viel Blödsinn angestellt, aber nie, um jemandem damit zu schaden. Die kleine Rothaarige war eine Entdeckerin gewesen; eine Nachwuchsphysikerin, die die Spritzweite von Pfützeninhalten verschiedenster Konsistenzen erproben musste. Eine kleine Linguistin, die die Reaktion der Erwachsenen auf die Benutzung des Verbs mit F untersuchen wollte. Und nicht zuletzt war sie eine Mini-Soziologin gewesen, die ihre Grenzen austesten wollte.
Leonhard hatte nie eine Reaktion aus ihr herauskitzeln können, auch wenn er einen ganzen Eimer Spuckkügelchen auf sie gefeuert hätte. Steter Tropfen höhlt vielleicht den Stein, aber nicht Klein-Maria. Sie war eine Festung gewesen und jetzt, als Erwachsene, war ihr klar, warum. Das rothaarige Mädchen aus Ost-Berlin war vollkommen mit sich im Reinen gewesen. Sie hatte die Welt erkundet, sie mit ihren Augen gesehen. Und das war der Kern der Sache, denn so jung wie sie gewesen war, hatte sie einen integrierten Schutz gegen alles wirklich böse auf der Welt gehabt.
Böse war ein Leonhard gewesen, der sie mit Papierkugeln beschossen hatte, ohne jeden Grund. Einfach nur so, einfach um in die kleine Welt von jemandem einzudringen und sie aufzumischen. Doch sobald sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, konnte der Arsch bleiben, wo er wollte. Erst viel später sollte Maria erfahren, welche Ausmaße das wirklich Böse annehmen könnte. Nämlich wenn ein Überwachungsstaat, der überall seine Spitzel hatte, einem bis in die eigenen vier Wände folgte und mit einer scharfen Klaue das Liebste aus dem Leben riss.
Waren es die vielen steten Tropfen, die in ihrer unüberschaubaren Summe nun tatsächlich die steinerne Geduld von Maria gehöhlt hatten? Oder warum sah sie sich zu einem Racheakt gezwungen, der ihr alles nehmen würde? Das war doch nicht sie, wurde ihr klar, als sie mit dem kühlen, dunkel glänzenden Metall in der Hand mitten in ihrem Wohnzimmer stand. Heute hatte sie frei und war allein zu Hause. Mit distanzierter Faszination betrachtete sie die Waffe, die sie mit viel Geld gekauft hatte. Geld, mit dem sie so vieles anderes hätte machen können. Etliche Ausflüge ins Schwimmbad, eine exorbitante Shoppingtour, eine komplett neue Einrichtung, tausende Schokoriegel ... da wäre so viel anderes drin gewesen, doch stattdessen hatte sie investiert in Zerstörung.
Dabei war es nicht so, als wäre sie die ganzen Möglichkeiten, die ihr der Metallklotz eröffnete, nicht im Kopf durchgegangen. Natürlich hatte sie es sich vorgestellt, was passieren würde, wenn sie Wanner mit dieser Waffe entgegengetreten wäre, wenn sie ihn in die Mündung hätte blicken lassen. Doch niemals waren die Gedanken so plastisch geworden wie jetzt, wo sie das Ding tatsächlich besaß. Ein zynisches Lachen schüttelte sie plötzlich, als sie überlegte, sie zurückzugeben. Das Geräusch klang hohl und seltsam in der leeren Wohnung. Haha, zurückgeben, und das ohne Kassenbon? Vielleicht würde ihr der Kerl ja eine Gutschrift erstatten ... Dass sie nicht lachte.
Doch loswerden wollte sie die Waffe, das war ihr nun klar. Denn sie musste weiter nach Leonie suchen und im Knast konnte sie das schlecht. Aber wann sollte sie das tun? In einer Stunde würden Christoph und Nadine von der Schule kommen. Heute Abend wollte Thomas sie dann zum Essen ausführen. Dann kamen seine Eltern her, um die beiden Kinder zu betreuen. Maria gefiel der Gedanke, dass die vier mit der Waffe in einem Raum waren, überhaupt nicht. Dabei hatte es sie die ganze Zeit über doch auch nicht gestört ...
Doch die dummen Zufälle kamen immer dann, wenn man sie nicht brauchte und was also, wenn die Oma eine frische Tischdecke aus der Kommode nehmen wollte, weil die lieben Kleinen die andere auf dem Tisch vollgekleckert hatten und ihr dabei ein ungewöhnlich schwerer Briefumschlag in die Hände fiel?
Nein. Heute ging nicht, aber morgen. Doch bis dahin würde die Waffe nicht hier bleiben dürfen. Maria ließ sie im Umschlag in ihre Umhängetasche gleiten. Sie würde sie unter den Stuhl im Schlafzimmer stellen, über dessen Lehne sie Thomas' frisch gebügelte Hosen bereitlegte. Morgen also. Und dann? Wohin damit? Sie entschied, nach der Arbeit an die Elbe zu gehen und sie hinein zu werfen. Am Ende ihrer Schicht würde die Sonne schon untergegangen sein und man würde sie nicht erkennen können. Und damit stand der Plan.
Bis dahin musste sie sich aber ablenken, sich anderen Dingen widmen. Leonie. Ein großes Problem bei der Suche nach ihrer Tochter war, dass die leiblichen Eltern keine Informationen über die Adoptivfamilie erfragen konnten. Im Grunde war Maria darauf angewiesen, dass ihre Kleine von selbst auf die Idee kommen und den Kontakt suchen würde. Doch den Einfluss der Adoptiveltern durfte sie dabei nicht unterschätzen, denn möglicherweise würden diese es verhindern wollen, sollte Leonie einen Brief schreiben oder anrufen wollen.
Sie war immerhin sechs Jahre alt gewesen, als man sie aus ihrer Familie gerissen hatte und in dem Alter festigten sich doch die Erinnerungen im Gedächtnis. Andererseits waren schon sieben Jahre vergangen seither – oh, sieben Jahre, wie schrecklich diese Zahl klang – und das hieß, dass Leonie mehr als ihr halbes Leben bei einer anderen Familie lebte und sich dort vielleicht schon viel zu sehr eingelebt hatte. Oh, wenn Maria daran dachte. Auf einmal zuckte wieder das Bild der Waffe durch ihren Kopf. Nein ... Nein!
Bevor sich der Film weiter abspulen konnte, griff sie zum Hörer. Sie wollte ihre Mutter anrufen, dann würde sie Essen machen. Christoph und Nadine würden bald aus der Schule kommen. Irgendwie musste doch die Normalität gewahrt werden, wenn auch nur zum Schein. Die beiden hatten gar keine richtige Erinnerung mehr an ihre Schwester ... doch das verdrängte Maria. Gute Miene zum bösen Spiel, so wie sie es seit sieben Jahren geübt hatte ... Die altbekannten Tränen blinzelte sie weg und den Kloß im Hals schluckte sie herunter.
„Hallo, Mama. Ich wollte mal hören, was du und Papa so macht ..."
Nein, wollte sie nicht. Sie wollte nur auch mal etwas anderes hören. Wollte doch nur, dass alles normal war.
„Die beiden kommen gleich nach Hause ..."
Die beiden, die eigentlich drei sein sollten.
„Ja, es geht uns allen gut ..."
Gesundheitlich ja. Aber sonst? Als Maria aufgelegt hatte, fühlte sich ihr Kopf noch schwerer an als sonst. Ihr Kiefer war total angespannt und sie merkte, wie stark sie ihre Zähne aufeinander biss. Ein eindeutiges Anzeichen, wie sehr die Situation sie belastete. Immer blieb ein Stuhl leer. So gut es ging, versuchten sie, die älteste Tochter mit in den Alltag einzubeziehen, jedes Jahr feierten sie ihren Geburtstag, der sich auch dieses Jahr wieder nähern würde. Aber zu welchem Zweck? Es war doch nur ein leeres Programm, das sie da abspulten.
Wie jedes Jahr würden die beiden anderen Kinder betröppelt auf die Sahnetorte schauen, deren Kerzen nicht die Person auspusten konnte, der die Feier gewidmet war. Verdammt nochmal, die beiden kannten ihre Schwester doch nicht einmal! Wie sollte denn das Leben aussehen, falls wirklich einmal Kontakt zustande kommen würde? Alle wären einander fremd, denn die Zeit, die man ihnen genommen hatte, würde nicht mehr zurückkommen.
Die Türklingel schreckte Maria aus ihren Gedanken auf. Um diese Zeit erwartete sie doch niemanden? Für einen irrationalen Moment lang erwartete sie, Leonie durch den Türspion erblicken zu können. Doch das war natürlich nur ein Wunschtraum. Da stand niemand. Wahrscheinlich wartete unten an der Tür wieder bloß ein Paketbote, der einfach überall klingelte, in der Hoffnung, dass man ihm so schneller aufmachen würde. Doch die Stimme, die Maria dann durch die Sprechanlage hörte, kam ihr viel zu bekannt vor ...
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