Berlin-Wilmersdorf, 1993.
„Toll siehst du aus!" Freudestrahlend schlangen sich zwei kurze, kräftige Arme um Alex' schlanke Taille. Die Frau, die ihr gerade mal so bis zur Brust reichte, hielt Alex kurz auf Abstand, um sie genauer mustern zu können.
„Mensch, aus dir ist echt was geworden", verkündete Esther schließlich das Fazit ihrer Begutachtung. Was das bei Alex auslöste: Zwei kleine Röschen blühten auf ihren Wangen wie Kirschblüten. Sie hatte schon lange kein so herzliches und vor allem ehrliches Kompliment mehr bekommen. Da wurde ihr ganz warm, dem frischen Märzwind zum Trotz. Verlegen fuhr sie sich durch die kurzen braunen Haare, die vor einer guten Woche dem Modetrend der Dauerwelle unterworfen worden waren. Der langweilige schulterlange Haarschnitt mit Alex' undefinierbarer Haarstruktur – irgendwas zwischen wellig und lockig – war jetzt einer modernen Frisur gewichen. Wie viel doch so eine Veränderung manchmal ausmachte ... Alex fühlte sich viel wohler, viel selbstbewusster. Umso schöner war es, auch noch Komplimente dafür zu bekommen.
„Esther, du machst mich ganz verlegen! Hör auf damit, sonst versinke ich hier auf der Stelle im Erdboden", drohte Alex und zwinkerte ihrer Freundin schelmisch zu. Die hakte sich bei ihr ein und gemeinsam spazierten sie lachend den blühenden Ku'damm in Richtung Charlottenburg entlang. So, wie die zahllosen Knospen an den Bäumen aufblühten, so sollte es jetzt mit Alex' Leben gehen: neue Frisur, neue Wohnung, neuer Job. Der wind of change hatte sie von Dresden nach Westberlin gepustet. Ihr altes Leben hatte sie in die dunkle Schublade der Vergangenheit gesteckt.
Das alles war einmal, ab jetzt würde es nur noch aufwärts gehen. Dachte sie. Doch etwas Dunkles lag wie ein kleistriger Überzug auf ihrer zerkratzten Seele. Wie diese klebrigen Papiere in ihrer kleinen Küche, auf denen sich die Fliegen verfingen, genau so blieben die Abkömmlinge aller negativen Gedankenströme im Geist der jungen Frau hängen. Doch das konnte Alex nicht sehen, sondern nur spüren. Und daher beachtete sie es nicht, sondern verdrängte es lieber. Sie war jetzt hier: Ku'damm, Richtung Charlottenburg.
Die ganzen Läden waren viel zu teuer, als dass Alex und Esther großartig hätten shoppen können. In manchen Geschäften war für ein Monatsgehalt von Alex nicht mehr drin als ein seidiges Top mit hauchdünnen Spaghettiträgern. Der Jobwechsel hatte vielleicht minimal mehr Gehalt gebracht. Mittlerweile arbeitete Alex als Verkäuferin für handgemachte Seifen. Davor hatte sie im Callcenter gejobbt, wo sie eben auch Esther hatte kennenlernen dürfen. Der Spaziergang auf dem Kurfürstendamm gehörte zu dem freitäglichen Ritual der beiden und musste auch nach Alex' Jobwechsel natürlich konsequent weitergeführt werden. Auch, wenn man sich nichts kaufte. Alex war mit ihrem Outfit voll zufrieden: hellblaue Karottenjeans, pinke Bluse mit Schulterpolstern und weiße Plateauschuhe. Voll zufrieden. Das war sie. Kein Samt, keine Seide, einfach nur Jeans und Kunstfaser.
Vor etwas mehr als drei Jahren war das Unmögliche passiert, das diese westlichen Trends in den Osten von Deutschland geschwemmt hatte: die Mauer war endlich gefallen. Wenige Monate darauf war Alex nach Wilmersdorf, in den Westen von Berlin, gezogen und hatte auch gleich den Job im Callcenter gefunden. Praktischerweise direkt in der Nähe zu der bekannten Einkaufsmeile, in der man das Geld, kaum hatte man es verdient, auch wieder verprassen konnte. Wobei sich Esther immer beklagte, dass sie nichts in ihrer Größe fand. Sie trug standardmäßig bunt gemusterte Leggings und ein weites Shirt. Alex fand, dass sie die knalligen Farben jünger aussehen ließen. Irgendwie frischer. Mit ihrer dunkelroten Igelfrisur war Esther auch nicht so der Typ für schicke Kleidchen, fand Alex.
„Ich hätte Lust auf ein Stück Kuchen. Du auch?", fragte sie ihre Freundin, als ein Café in ihr Sichtfeld rückte. An den runden Tischen vor dem Laden relaxten ein paar Leute in gemütlichen Korbsesseln und der Duft aus ihren Kaffeetassen strich verführerisch um Alex' Nase.
„Du weißt doch, ich bin auf Diät", entgegnete Esther gespielt empört und klopfte sich lachend auf den Bauch. Wenig später saßen die beiden mit einem frischen Kaffee und einem sündigen Stück Bienenstich drinnen direkt am Fenster. Es war ein schöner Tag, der Kuchen war so köstlich wie selbstgebacken, doch auf einmal wurde Alex von einem düsteren Gefühl umhüllt. Wie sie so an ihrem Kaffee nippte, war es ihr, als würde sich eine Wolke vor ihre eben noch sonnige Stimmung schieben. Es lag etwas in der Luft. Unausgesprochen, nicht fassbar. Es war: ein Name. Edith. Edith war immer und überall. Ihr Name stand auf der Speisekarte, auf den Verkehrsschildern, auf dem Etiketten der Kleidungsstücke. Ediths Gesicht schaute ihr mit jedem Kind auf der Straße entgegen.
„Ist was?", fragte Esther, die den Blick ihrer Freundin bemerkt hatte. Unbedarft, eine einfache Frage. Doch Alex konnte Blicke lesen. Sie hatte es bei sich selbst einmal im Spiegel gesehen, das hier nämlich: dieser dauerhaft verschreckte Blick, als hätte sie etwas ganz Schreckliches gesehen. Den hatte Esther nicht. Und daher hatte sie ihn auch bei Alex bemerkt.
„Ich ... nein. Ich war nur in Gedanken ..."
Alex hatte ihrer Freundin nie von Edith erzählt. Vom Alter her könnte Esther fast Alex' Mutter sein und irgendwie strahlte sie auch etwas Fürsorgliches und Warmes aus. Doch die junge Frau hatte sich niemals mehr so sicher gefühlt, dass sie sich ganz hätte fallenlassen können. Nie. Nicht mehr, seitdem sie Edith verloren hatte. Es war der schlimmste Tag in ihrem Leben gewesen. Und Mirko? Das wusste sie von seiner Mutter: Er lebte in Ludwigsburg, Baden-Württemberg, hatte eine Frau geheiratet und drei Kinder mit ihr. Das tat verdammt weh. Am meisten das mit den Kindern. Alex war nicht mal eines vergönnt gewesen. Wer entschied denn bitte, wer Kinder haben durfte und wer nicht? Alex wurde bitter.
„Es ist doch was. Das seh' ich dir an der Nasenspitze an", hakte Esther nach. Alex vermied ihren Blickkontakt. Jetzt gabelte sich der Weg: Wahrheit oder Lüge. Sie entschied sich für den Mittelweg.
„Ich musste gerade an eine alte Bekannte denken. Sie hat ihr Kind kurz nach der Geburt verloren. Es war so schrecklich ..."
Behutsam fuhr Esthers Hand über die von Alex. Einen Moment lang versteifte sich die junge Frau, dann hob sie endlich den Kopf und schaute in Esthers Augen.
„Das ist wirklich furchtbar", sagte diese leise. Alex nickte. Ein atemberaubend dicker Kloß steckte in ihrem Hals fest. Jetzt nicht auch noch weinen! Alex schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, das ... das geht mich gar nichts an. Es war ihr Kind. Ich wollte sie trösten, aber sie hat niemanden mehr an sich rangelassen. Es ..." Alex bereute es, nicht die Lüge gewählt zu haben. Ungewollt kam sie der Wahrheit nämlich näher als sie wollte. Und das wegen der Welle an Gefühlen, die sie von hinten kalt erwischt hatte und sie überschwemmte, ihre Lungen ausfüllte und sie zu ersticken drohte.
„Ich kenne das gut", entgegnete Esther. „Und nicht alle können damit umgehen. Meine Schwester behauptet bis heute, die Stasi habe ihren Sohn weggenommen. Also, wenn du mich fragst, ich traue denen ja einiges zu. Aber das ..."
Alex hielt den Atem an und betrachtete ihre Freundin. Die hatte ihre Unterlippe ein bisschen vorgeschoben, als würde sie schmollen. Das tat sie immer, wenn sie etwas erzählte, mit dem sie nicht einverstanden war.
„Wann war das?", fragte Alex. Esther machte eine vage Geste mit der Hand, als sie überlegte. Zu Alex' Ärgernis stopfte sie sich noch eine Gabel voll Kuchen in den Mund. Das kam ihr so ungeheuerlich respektlos vor, in Anbetracht des Themas. Doch Esther konnte ja schlecht wissen, dass sie eine Frau vor sich sitzen hatte, die selbst ihr Baby verloren hatte.
„Keine Ahnung, vor ein paar Jahren. Vielleicht '86 oder '87? Also auf alle Fälle vor dem Mauerfall, denn sonst wäre sie ja wohl nicht auf diese absurde Idee gekommen ..."
„Warum denn absurd?", stieg Alex direkt in eine nun unvermeidbare Diskussion ein. Esther schien ihr auffällig hohes Interesse an der Thematik gar nicht bemerkt zu haben. Zum Glück, denn Alex hätte es sowieso nicht verstecken können. Und ihren Ärger. Auf einmal provozierte sie der Anblick von Esther mit ihrem schmollenden Mund.
„Na, das wäre doch kaum möglich. Es gab einen Totenschein und es existiert ein Grab. Das sie aber nicht besuchen will, weil sie ja glaubt, dass ihr Kind irgendwo in Deutschland oder was weiß ich wo herumläuft", entgegnete Esther und schüttelte verständnislos den Kopf. Das ärgerte Alex fast noch mehr als die Tatsache, dass ihre Freundin direkt noch eine Ladung Kuchen verspeiste.
„Wie ... wie kommt sie denn überhaupt auf die Idee?", fragte die junge Frau und schluckte ihren Zorn unwillig herunter wie ein Stück Zitrone.
„Ach ... sie hat im Kreißsaal einen kurzen Blick auf den kleinen Mann werfen können, bevor sie ihn gebadet haben. Er hat so gesund ausgesehen, ein richtiger kleiner Brocken, das erzählt sie bis heute. Hat geschrien wie ein Ferkel, das sagt sie immer. Und dann ... war plötzlich alles ruhig. Sie hält das nicht für möglich. Aber sie ist doch keine Ärztin, sag' ich ihr immer. Woher will sie wissen, was alles möglich ist?", plauderte Esther und kippte ihren Kaffee runter. Alex stierte sie an. Die aufkeimende Wut konnte sie in ihren Wangen spüren. Gleichzeitig wurde ihr Zorn von einer erstickenden Ladung Erkenntnis abgekühlt. Das klang genau wie bei Alex damals. Ein gesundes Kind ... plötzlich tot?
„Hast du selber Kinder?", fragte sie geradeheraus. Esther schüttelte ahnungslos den Kopf.
„Woher willst du dann wissen, wie eine Mutter fühlt? Woher willst du wissen, dass eine Mutter nicht ein Gespür dafür hat, wenn etwas nicht stimmt?"
Jetzt hätte Alex auch genauso gut das tun können: alles auf den Tisch legen. Ihr Atem ging schneller und sie hatte sich an der Tischkante festgeklammert. So heftig, wie sie auf das Gespräch reagierte, war doch alles klar und alles gesagt. Esther schien das schließlich auch bemerkt zu haben.
„Tut mir leid, wenn ich bei dir einen wunden Punkt getroffen habe", sagte sie gedehnt und hob abwehrend die Hände mit ihren speckigen Fingern. Ihre Gesichtszüge froren ein. Plötzlich sah Esther aus, wie aus Wachs gegossen. Entweder war ihr das unangenehm, was sie selbst gesagt hatte oder die Art, wie Alex darauf reagiert hatte. Zwar hatte sie sich entschuldigt, doch Alex wollte keine Sekunde länger hier sitzen bleiben. Unbeabsichtigt heftig knallte sie ein paar Münzen auf den Tisch und rauschte davon.
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