6. Von Enden und Anfängen:
Die Zeit verging schnell, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn man sich amüsierte und bald verabschiedete sich das ungleiche Paar von der Lieder grölenden Menge.
Unbemerkt schafften sie es, wieder in den Palast einzudringen, und standen schließlich vor Taïrs Zimmer.
„Danke, das war wirklich eine schöne Nacht, Taïr ... Dann heißt es jetzt wohl Lebewohl?"
„Nein, wir sehen uns wieder", sagte er mit fester Stimme. „Spätestens danach. Wir könnten zusammen weggehen, uns besser kennenlernen, einfach mal sehen."
Sie hätte über seine direkten Worte gelacht, wenn die Situation nur eine andere gewesen wäre. Holly schüttelte den Kopf, da sie ihrer Stimme nicht traute.
„Nein?"
Als sie dann sprach, zitterte ihre Stimme tatsächlich. „Nein. Auch danach nicht. Ich bleibe bei der Prinzessin."
Langsam ging sie rückwärts, doch er folgte ihr, Schritt für Schritt, bis sie gegen die kühle Wand stieß und er noch einen letzten Schritt tat. Jetzt stand er dicht vor ihr, beugte sich herunter.
„Und dennoch willst du einfach so gehen?", raunte er mit heiserer Stimme.
Ihre Augen wurden groß bei der Implikation, die sie aus seinen Worten herauszuhören glaubte. „Taïr, ich kann nicht ..."
Die Lippen des Cyborgs waren an ihrem Mundwinkel, nur wenige Zentimeter von ihrer Haut entfernt.
„Wenn wir uns doch sowieso nicht mehr wirklich sehen? Haben wir also beide nichts zu verlieren."
Holly spürte seinen warmen Atem, jetzt fast sogar seine Lippenbewegungen. Zittrig atmete sie aus, ihr Herzschlag pochte in ihren Fingerspitzen. Sie hatte alles zu verlieren.
„Wir kennen uns doch kaum. Bitte. Altaïr, bitte." Dabei hatte sie keine Ahnung, um was sie ihn eigentlich bat.
Er zog sich zurück, bewegte sich aber nicht weg. Musterte sie nur wieder auf diese ruhige Art.
Ihre Gedanken überschlugen sich, drehten sich immer wieder um dasselbe, sie konnte das nicht tun, durfte das nicht tun ... Aber dieses kleine, verständnisvolle Lächeln auf seinen Lippen. Dieser Ausdruck in seinem Auge, während das andere erloschen war, nicht wie sonst blau strahlte. Wahrscheinlich um sie nicht zu blenden. Dieser Gedanke ließ sie ebenfalls lächeln.
Ihr fiel auf, dass er sie nicht festhielt, sie konnte jederzeit zur Seite weg, sollte auch einfach gehen und ... Sie ballte die Hände zu Fäusten. Ihren ersten Kuss wollte sie keinem Mann schenken, dem sie ihn schenken musste. Ihr erster Kuss sollte ihre Entscheidung sein. Und vielleicht war es nicht perfekt, aber ... Sie überwand die letzten Zentimeter, legte ihre Lippen sanft auf die seinen.
Nach anfänglichem Zögern erwiderte er den Kuss, zart und keusch.
Holly zog sich zurück, spürte allzu deutlich, wie ihre Wangen glühten und ihr Herz klopfte. Wenn sie jetzt an der Aufregung starb, dann würde ihr wenigstens die Zukunft erspart bleiben.
„Alles in Ordnung?"
„Ja." Sie fuhr sich durch die Haare und hob die Schultern. „Das war ja nur ein Kuss."
„Dein erster?"
Holly zuckte zusammen. Bevor ihr Gehirn eine passende Antwort gefunden hatte, sprach Taïr weiter.
„Meinen ersten Kuss habe ich einer Hure geschenkt, vor meiner ersten Schlacht. Wusste ja nicht, ob ich das überlebe. Hab's nie bereut."
Adrenalin entlud sich in einem Kichern, doch sie bedeckte schnell ihren Mund.
Schritte waren zu hören, sie hallten aus einem der von Nachtlichtern ausgeleuchteten Flure und wurden immer lauter.
„Ich muss gehen ... Ich hätte niemals –"
Einen letzten Kuss drückte er auf ihre Lippen, den sie erwiderte. Dann rannte sie den Korridor entlang, während er sich leise in sein Zimmer zurückzog.
Früh am nächsten Morgen legte sich das Weckersystem im Zimmer des Cyborg-Söldners ins Zeug. Da Taïr ihn nicht gestellt hatte, schreckte er hoch, erwartete auf dem Bett kauernd den nächsten Überfall. Über der an die Wand projizierten roten Weckerfigur, die lachend im Kreis tanzte, stand in Grün: SPEISESAAL.
Gähnend schaltete er das Licht an und brachte die hüpfende Uhr mit einer Handbewegung zum Schweigen.
Er betrachtete sich im Spiegel und seufzte seinem Abbild entgegen, das genauso schrecklich aussah, wie er sich fühlte. Blass, mit dunklen Ringen unter den Augen. Bunte Flecken zeugten von der gestrigen Showeinlage während des Abendessens. Und dort, wo seine Armprothese in die Haut überging, war das Fleisch rot und wund. Er schnalzte mit der Zunge und zog ein kleines Döschen aus seiner Manteltasche. Die Tabletten darin sorgten dafür, dass sich sein Körper mit den Metallteilen in ihm vertrug. Zumindest taten sie das die meiste Zeit.
Um sich aufzuwecken, nahm er eine kalte Dusche, bevor er sich auf den Weg machte. Viel zu spät, aber: Dass zu spät kommen in Mode war, war ihm schon am Vortag aufgefallen.
Das wichtigste Mitglied des Teams war der alte Kämpfer Mitch, der, wie Taïr dank seiner Technologie wusste, keine künstlichen Körperteile besaß.
Genug Menschen waren gegen Cyborgs, hatten Angst vor einer Cyborg-Society, bestehend aus den besten Kämpfern, die die Areal-Kriege hervorgebracht hatten. Alle Cyborgs waren ehemalige Soldaten, außer die wenigen, die bei einem Unfall ein Körperteil verloren hatten und sich Ersatzteile leisten konnten. Und wollten. Denn: Entweder man war ein Mensch oder eine Halbmaschine. Und die Menschen hatten Angst. Was dafür sorgte, dass sie die Cyborgs einschränkten und streng kontrollierten. Was diese wiederum wütend machte. Als wären sie nur für den Krieg gut genug, als wäre Krieg ihre einzige Daseinsberechtigung. Taïr war diese Wut nicht fremd. Aber was sollte man tun. Sie waren eine aussterbende Laune der Menschheit, nicht mehr genug, um einen Aufstand anzuzetteln. Und sie brauchten die Medikamente, die die Oberschicht ihnen bereitstellte.
Außer Mitch würden noch zwei Soldaten aus der Leibgarde mitgehen, Snow und Wolf. Die beiden fähigsten, wie der König gesagt hatte. Trotzdem oder gerade deswegen befürchtete er, mit den, glücklicherweise in schwarz und nicht giftgrün gekleideten, Schraubenmuttern nichts anfangen zu können.
Stumm saßen sie alle am Tisch. Mitch nippte an seinem Kaffee. Snow, die entgegen ihrem Namen einen nachtschwarzen Bob und gebräunte Haut hatte, aß gerade ihr drittes Brötchen. Der blonde Lockenkopf Wolf überflutete seine Pancakes mit einer grünen Flüssigkeit. Darüber, was der König schon alles gegessen hatte, hatte er den Überblick verloren, während seine Gattin überhaupt nichts zu sich genommen hatte. Ihr reichte es, sie nacheinander niederzustarren.
Nach dem Frühstück mit seinem neuen Team, dem König und der Königin öffnete sich die Tür und drei Frauen kamen herein. Taïr starrte sie verblüfft an.
Sie sahen identisch aus, nicht nur gleiche Kleidung – Turnschuhe, Jeans, schwarzer Trenchcoat – und gleiche Masken, sondern auch dieselben hellbraunen Haare – Perücken –, dieselbe braune Augenfarbe – Kontaktlinsen – , sogar dieselbe Statur.
Holly konnte er beim besten Willen nicht erkennen, sie bewegten sich sogar identisch. Er bezweifelte, dass Mitch wusste, wer die Echte war.
„Und verwirrt?", höhnte die Rechte. „Ich verzeihe dir dein respektloses Starren und sehe darüber hinweg, dass du dich verbeugen solltest."
„Willow! Er soll doch nicht wissen, wer wer ist." Der König wirkte verärgert.
Eine andere trat vor, die Mittlere, sprach mit derselben Stimme. „Wer sagt denn, dass sie es ist?" Sie verschränkte die Arme. „Außerdem würde er uns sowieso wieder verwechseln, wenn wir rausgehen und wieder reinkommen würden."
Die drei fingen an zu kichern.
Sein persönlicher Albtraum. Das würde er nicht aushalten. Eine war schon schlimm genug. Aber eine davon war Holly, die, die nichts gesagt hatte, wahrscheinlich. Oder auch nicht, wenn sie eine gute Schauspielerin war.
Sogar die Stirn des Königs hatte sich in Falten gelegt, während sein Blick von einer zur anderen glitt. Der Königin merkte man nichts an, ihr Gesicht hatte selbst ohne Maske etwas Erstarrtes.
„Weißt du, wer die Echte ist, Mitch?", wollte nun der König wissen.
Der Alte trat vor, schritt bedächtig an den Mädchen vorbei, blieb schließlich vor der Mittleren stehen, verneigte sich leicht und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Erwartungsvoll lagen alle Blicke auf ihr und sie nickte. „Er hat recht", bestätigte sie.
Taïrs Augen verengten sich. Wie hatte er das nur herausbekommen? Und wer war Holly?
Tatsächlich konnte er kurz darauf nicht mehr sagen, welche der drei nun die Prinzessin war. Das frustrierte ihn mehr, als er es jemals zugegeben hätte, während er stumm hinter den anderen einen langen Korridor entlanglief. Der Palast bestand nur aus unendlichen Korridoren. Unendlich kalt und leer wie das Innere der Besitzer dieses Monstrums.
Der Flur führte schließlich zu einem Raum in der Größe einer Halle, mit einem unscheinbaren, blauen Citer darin.
Groß war das Gefährt. Es hatte eine dreieckige Form, abgerundete Kanten und glänzte, abgesehen von einigen Schrammen, sauber und aerodynamisch im künstlich grellen Licht. Unscheinbar, ja, aber trotzdem ein schönes Teil. Und seinen Informationen gemäß vollständig gepanzert.
Hier in der Tiefgarage bekam Taïr seine eigenen Waffen und die Waffen, um die er gebeten hatte, zurück, was seine Laune hob. Zusätzlich wurde in seinem künstlichen Ohr ein Programm installiert, mit dem er über Funk Kontakt zu den anderen halten konnte.
Vier Türen des Citers glitten mit leisem Surren nach oben auf, gaben den Blick frei auf die schwarze Lederausstattung und das Steuerpult.
Beide Soldaten stiegen vorne ein, der blonde Lockenkopf auf der Fahrerseite. Mitch setzte sich in der mittleren Sitzreihe nach rechts und Taïr nahm ganz hinten Platz, am linken Fenster. Zwei Frauen ließen sich neben Mitch nieder, die andere neben Taïr.
Da er nicht erwartete, dass sich die Prinzessin neben ihn setzte, konnte das jetzt Holly oder die Andere sein. Oder auch nicht.
Er hatte nicht wirklich angenommen, sie nicht erkennen zu können. Noch nicht einmal seine Systeme waren ihm eine Hilfe. Seine Metallfinger tippten einen Rhythmus auf seinen Oberschenkel.
„Ist das der Wagen, Michi?", ertönte Blues tiefe Bassstimme.
„Ist das unser Ziel?" Eine viel höhere weibliche Stimme, die vor Erwartung zitterte. Violet.
Der angesprochene schob die Sonnenbrille nach oben und stellte seinen Sitz wieder in eine aufrechtere Position. Seine blauen Augen passten ihre Sicht in einer Millisekunde an die gegebenen Lichtverhältnisse an und zoomten dann heran. Miscellaneous' Blick glitt über die zerkratzte blaue Lackierung. „Mhm, das sind sie." Grinsend stützte er seine Unterarme auf dem grauen Armaturenbrett ab und bettete sein Kinn darauf. „Geben wir ihnen einen kleinen Vorsprung. Wir wissen sowieso, wo es hingeht." Er beobachtete das gemächlich die Straße entlang schwebende Fahrzeug, bis es hinter ein paar Häusern verschwunden war. Konstant einen Meter über dem Boden hatte es sich gehalten, ohne zu ruckeln, ohne zu schwanken. Dabei kein Staubkorn aufgewirbelt. Ein Wolf im Schafspelz, der auf dieser Reise seinen verschrammten blauen Mantel nur ablegen würde, wenn es unvermeidbar war. Michi leckte sich über die Lippen, er hatte schon immer ein Faible für schnelle Citer gehabt.
„Was die Route angeht ... Der Kerl, von dem du sie hast, ist wirklich vertrauenswürdig?", hakte Sable nach.
Fast konnte Blue Sables Blick spüren, wie er sich durch den Stoff des Sitzes in seinen und Miscellaneous' Hinterkopf brannte.
Miscellaneous sah auf zu dem Grau, das man hier als Himmel bezeichnete und trommelte auf dem billigen Kunstleder einen schnellen Rhythmus. „Vertrauenswürdiger als ich, mein Freund."
Hinter Blue ertönten ein helles Kichern von Violet und ein Schnauben von Sable.
Blue fuhr sich über den Bart und zuckte mit den Schultern, bevor er sich zurücklehnte und die Kappe ins Gesicht zog. Miscellaneous ‚Michi' war der Boss. Und er hatte im Krieg oft genug bewiesen, dass er's definitiv drauf hatte. Er linste unter seiner Kopfbedeckung hervor, betrachtete Michi und wusste schon jetzt, dass dieser Trip der reinste Wahnsinn werden würde.
Ein Grinsen ließ Michis silbernes Gebiss aufblitzen. Auch nur ein Metallgott wie er konnte dazu in der Lage sein, sogar in seinen künstlichen Augen ein Funkeln zu entfachen, das pure freudige Erwartung ähnlich der von Violet ausdrückte. Lediglich die Trübung darin war neu, was sie zu bedeuten hatte ungewiss.
Michis Lächeln war so verstörend, wie es ansteckend war. Der Schatten in den Frohsinnsfunken verschwunden und vielleicht auch nie dagewesen. Ja, Blue konnte das Chaos kaum erwarten, in das ihn sein Boss da wieder hineinzog.
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