5.2 ... und der goldenen Hure:
Holly starrte auf die großen, abblätternden, goldenen Schriftzeichen des Wirtshauses ‚Zur goldenen Hure'. Und auf die sich lasziv räkelnde, halbnackte Frau auf der Fassade.
Je weiter sie in die Stadt eingedrungen waren, desto heruntergekommener hatte sie sich ihnen präsentiert.
Zuerst gab es noch asphaltierte Wege, die hübsche bunte Geschäfte mit Schaufenstern voller Lämpchen verbanden. Hier und da wuchs sogar ein Baum, kränklich und klein zwar, aber immerhin. Verdanken konnte man das der ständigen Pflege und den Luftfiltern, die es so nahe des Schlosses gab. Noch ein paar Menschen flanierten umher und sahen sich die Waren hinter den Scheiben an oder den Cyborg, der es wagte, sich hier Blicken zu lassen. Kein Haar war bei diesen Leuten nicht an seinem Platz, keine ungewollten Falten in der Kleidung. Die meisten trugen mit Edelsteinen verzierte Masken und führten niedliche kleine Hunde spazieren, die genauso geschniegelt und gestriegelt aussahen wie ihre Besitzer. Reich waren diese Leute sicherlich nicht, sonst würden sie hier nicht einkaufen, zur Unterschicht gehörten sie aber auch nicht.
Denn wo die obere Unterschicht lebte, gab es nur matschige ausgetretene Pfade. Die bunte Farbe wich braunem Dreck. Bäume suchte man hier vergeblich, höchstens stacheliges Unkraut trotzte allen Widrigkeiten. Menschen liefen, wenn überhaupt, leicht gebeugt, als würde ihr Leben sie niederdrücken, und steckten in fadenscheiniger, löchriger, einfacher Kleidung. Hier waren sie es, die kränklich und klein wirkten. Und gefährlich. Sie hatte nicht nur einen Blick auf ihrem Körper gespürt, bei dem sich ihre Nackenhaare aufgestellt hatten. Und die lächerlichen Hunde waren ihr auch tausendmal lieber gewesen, als die kleinen sechsäugigen Biester, die sich quiekend in den Schatten herumtrieben und vielleicht einmal so etwas wie Ratten gewesen waren. Im besten Fall.
In einer Gasse hatten sich Uniformierte versammelt und sie hatte erleichtert aufgeatmet. Doch dann war klar geworden, dass sie eine Person am Boden traten. Eine Person mit metallenen Gliedmaßen. Taïr hatte sie weitergezogen. Die Geräusche von Schuhen, die sich in einen Sack Mehl bohrten, verklangen genauso hinter ihnen wie das Keuchen. Sie konnte nicht sagen, ob der Cyborg neben ihr es überhaupt bemerkt hatte.
Es fühlte sich an, als würde sich die stickige Luft in ihrem Gehirn ausbreiten. Mittlerweile klebte ihr die Zunge am Gaumen. Und das ständige Zwielicht und das Gesehene machten sie nervös.
Sie standen immer noch vor dem ‚Wirtshaus'. Holly hätte diesen Ort niemals alleine besucht. Auch nicht mit irgendjemandem, den sie kannte. Und jetzt war sie mit Taïr hier.
Ihr stand ihre Sorge wohl ins Gesicht geschrieben, denn der Cyborg beugte sich zu ihr herab. „Keine Angst, das ist ein echter Geheimtipp."
Nicht wirklich überzeugt folgte sie ihm hinein.
Kühlere, frischere Luft schloss sie in die Arme. Sie nahm die Atemmaske ab und bereute es gleich. Es stank nach Rauch und anderen Substanzen, die sie nicht näher identifizieren konnte. Wenn es ein Geheimtipp war, dann für Cyborgs, denn von denen wimmelte es hier geradezu.
Und jeder schien Taïr zu kennen, er wurde stürmisch begrüßt und umarmt. Man klopfte ihm auf den Rücken und drückte ihm ein Glas voll lila Flüssigkeit in die Hand. Sie lehnte währenddessen an der Theke, ließ den Blick schweifen. Uralte bunt zusammengewürfelte Kunstholzmöbel. Ein Dielenboden aus Kunstholz, der aus mehr undefinierbaren roten, gelb-orangenen oder grünen Flecken bestand, als aus Boden. Kunstholzvertäfelte Wände, an denen sie ebenfalls rote Kleckse ausmachen konnte. Einschusslöcher und Brandflecken, zwischen den ganzen Tierschädeln, die man hier angebracht hatte. Und junge Cyborgfrauen und -männer mit polierten, goldschimmernden Prothesen. Sie flanierten von Gast zu Gast und sorgten dafür, dass die Gläser immer gefüllt blieben. Und die Gemüter der Leute ausgelassen.
Taïr, inzwischen auf einer Bank eingeklemmt zwischen lachenden und plappernden Menschen, warf ihr zwar immer wieder einen Blick zu und gestikulierte ihr, näher zu kommen, doch sie winkte ab.
Seufzend verschränkte sie die Arme. Zwar war sie Menschenmengen gewohnt, aber das hier war etwas anderes. Selbst auf den größten Festen hatte niemals solch ein Lärm und Gestank die Oberhand gewonnen. Ihre Eltern hätte es für kein Geld der Welt hierher verschlagen. Sie legte den Kopf schräg. Na ja. Gut, für ein richtig gutes Angebot taten sie fast alles. Ein dumpfer Druck hinter ihren Augen kündigte Kopfschmerzen an. Dieser Ort alleine war viel überwältigender, als sie es sich jemals hätte ausmalen können.
„Na, was habn wirn da?", säuselte ihr jemand ins Ohr. Auch wenn sie folgend nicht sein säuerlicher Atem umwölkt hätte, wäre ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen.
Bevor sie irgendetwas sagen konnte, kam er näher, zwang sie, zurückzuweichen, bis ihr Rucksack gegen die Wand stieß und sich in ihren Rücken bohrte. Links neben ihr grinste der verstaubte Schädel irgendeines Nagetiers.
Anerkennend stieß er einen Pfiff zwischen breiten Lippen aus. „Bist noch hübscher, als ich gedacht hab. Bist neu hier, hm, Süße?"
Holly wollte sich an ihm vorbeiquetschen, doch er packte ihr linkes Handgelenk.
„Na na, wo willstn so schnell hin?"
„Lassen Sie mich los. Sonst werden Sie das bereuen." Ihre Stimme war ein leises Zischen, fest und selbstsicher. Trotz der Unruhe, die in ihrem Inneren herrschte. Schwieriger fiel es ihr, einen ebenso überzeugenden Gesichtsausdruck aufzusetzen.
„Das glaub ich nich ganz", säuselte er und packte jetzt auch ihr anderes Handgelenk.
Solche Unverschämtheit war sie ebenfalls nicht gewohnt. „Ich bitte Sie", presste sie hervor.
Doch er lachte nur. Kam näher.
Bevor sich ihre Lippen berühren konnten, zog sie ihr Knie nach oben, traf. Seine Hände lockerten den Griff um ihre Handgelenke, sie riss sich los, wirbelte um ihn herum, verdrehte ihm den Arm und hielt ihm ein Messer, das sie am Gürtel bei sich trug, an den Hals.
„Ich habe gesagt, ich habe kein Interesse, verstanden?", fauchte sie.
Jemand schob sie zur Seite. Taïr. Er zog den Typen herum, nur um ihm einen Kinnhaken und einen Schlag in den Magen zu verpassen. Zischend ging der Typ zu Boden, umklammerte seinen Bauch. Doch Taïr zog ihn wieder hoch, drückte ihn an die Wand. Mehr sah sie nicht, die Klinge des Messers klappte wieder ein und sie schob sich an Gaffern vorbei aus dem Gebäude, ließ eine Meute johlender und lachender Menschen hinter sich.
Holly setzte einen Fuß vor den anderen, bis ihr Herz ruhiger pochte und die Ränder ihres Sichtfelds nicht mehr flimmerten. Erst dann sah sie sich um.
Eine Brücke bewachsen von Moos wölbte sich vor ihr. Sie konnte nicht sicher sagen, dass sie ihr bekannt vorkam. Jede Gasse sah gleich heruntergekommen aus.
Fünf Sekunden schwebte ihre Hand über ihrem Handgelenksscreen, bevor sie sie sinken ließ. Das Navi stand nicht zur Verfügung, wenn sie hier draußen nicht geortet werden wollte.
Gewissheiten drückten sie nieder: Alleine würde sie niemals zurückfinden. Alleine wollte sie auch nicht durch diese Straßen.
Verwünschungen zogen durch ihre Gedanken, sie senkte den Kopf. Tränen, ausgelöst von Wut und Abscheu und Schock, liefen ihr heiß über die Wangen, sammelten sich am Rand der Atemmaske, um dort gebündelt herunterzufließen.
Zittrig stieg sie einen Trampelpfad, der neben der Brücke zum Fluss führte, herunter, bevor sie noch jemand in diesem jämmerlichen Zustand sah und das als Einladung verstand. Das in ihrem Heimatbezirk so klare Wasser schob sich hier als träge, grünbraune Masse dahin.
Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter.
Als sie sich erschrocken umdrehte, ihre Hand an ihrem Messer, sah Taïr ihr tränennasses Gesicht und zuckte zusammen. „Alles in Ordnung? Hat er dir etwas angetan? Ich schwöre, wenn Wire dir noch mal zu nahe kommt –" Er stockte, bemerkte ihren Blick.
„Was? Bringst du ihn um? Weil du nicht aufgepasst hast? Wenn du auf der Reise so auf ... Wenn du so auf die Prinzessin aufpasst, dann gute Nacht. Ich bin gut klargekommen, obwohl du mich alleine gelassen hast. Dein Einmischen war vollkommen unnötig, du hättest dich ruhig weiter amüsieren können."
Darauf sah er sie eine Weile einfach nur an, seufzte und lächelte.
„Manchmal erinnerst du mich an ein kleines Kind."
Ihre Augen weiteten sich und sie wurde rot. „Du hast dich doch aufgeführt wie ein kampflustiger Teenager. Was weißt du denn schon von ..." Kindern. Immerhin war er seiner Akte zufolge früh zu einem Elitesoldaten ausgebildet worden. Nach all den furchtbaren Geschichten, die kursierten, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er jemals Zeit gehabt hatte, sich kindisch zu verhalten.
„Ich wollte nur, dass das Arschloch es auch begreift. Tut mir leid. Ich war kurz abgelenkt und hab dich aus den Augen verloren. Hör mal. Gib mir noch eine Chance, ich verspreche, ich bleibe dicht bei dir. Und gib den Leuten eine Chance." Lächelnd legte er den Kopf schief. „Bitte?"
Er hob seine rechte Hand und strich ihr sanft die Tränen von den Wangen.
Mit so einem Verhalten hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich Söldner immer ganz anders vorgestellt. Vor allem Cyborg-Söldner.
Holly stieß die Luft aus und schlug seine Hand beiseite. „Gut, gehen wir wieder rein." Mit solch einer letzten Erinnerung wollte sie nicht ins Schloss zurückkehren.
Er hatte schon daran gezweifelt, aber wie sich herausstellte, konnte die Kleine sich tatsächlich amüsieren. Taïr stellte ihr seine Freunde vor und nach anfänglicher Unbeholfenheit – sie wussten nicht, wie sie mit ihrem feinen Gehabe umgehen sollten, und sie lehnte es ab, sich auf das Niveau seiner Freunde herabzulassen – lachten sie bald gemeinsam über alte Geschichten. Heroische Kämpfe, tragische Liebeskamellen und alberne Wetten. Vor allem Letzteres, gaben sie doch zu gerne zum Besten, wie er vor zehn Jahren vollkommen unbekleidet vor dem Haus seiner damals Angebeteten ein Ständchen geträllert hatte. Die Dame hatte es witziger gefunden, als ihre Eltern, die ihn mit ein paar Wachen durch die halbe Unterstadt von 10 gejagt hatten.
Die Geschichten versiegten erst, als etwas später eine Fläche geräumt wurde, um den Leuten Platz zum Tanzen zu geben.
„Wie wär's, Taïr?", fragte Holly, wieder dieses Glitzern in den Augen. Wie ein Kind zur alljährlichen Friedensfeier, wenn es die Geschenke erblickte, die schon in der Küche neben einem Festmahl warteten.
„Was? Tanzen? Ich? Nein. Ich tanze nicht. Ich kann nicht tanzen."
„Ach was, dafür kann ich tanzen, das reicht. Es ist gar nicht schwer. Etwas die Hüften bewegen, die Arme ... Komm schon. Als Wiedergutmachung." Sie blinzelte liebenswürdig zu ihm auf. Eines musste man ihr lassen, mit den Augen sprechen konnte sie.
Seine Mundwinkel zuckten, er fuhr sich durch die Haare. „Nein."
„Stell dich nicht so an", forderte sie. Ein paar Leute um sie herum lachten. Was sie zu ermutigen schien, denn sie packte seine rechte Hand. „Bitte."
„Alles, nur nicht tanzen, mein Zahnrädchen."
Eine Falte bildete sich für eine Sekunde auf ihrer Stirn, bevor sich das Lächeln wieder manifestierte. „Bitte. Komm schon. Wer weiß, wann sich wieder so eine Gelegenheit bietet."
Jetzt drückten seine Freunde ihn Richtung Tanzfläche.
„Los." „Erfüll der Süßen den Gefallen." „Wird dich nich umbringen."
Er quittierte das mit einem gemurmelten: „Tolle Freunde seid ihr."
Gäste hatten bereits mit den Huren ihren Spaß auf der Tanzfläche. Bei deren Anblick drückte Holly Miene Unverständnis aus, das sie mit einem Kopfschütteln loswurde, ehe sie sich an ihn wandte.
„Es ist wirklich ganz einfach. Achte nur immer auf die Musik." Sie bewegte ihren Körper im Takt eines schnellen Beats.
Sein Blick fuhr über ihre Gestalt und er schluckte unwillkürlich. Dass ihm ihre Bewegungen nicht gefielen, konnte er nicht sagen. Dabei waren sie nicht halb so obszön wie die der anderen Tanzenden. Vielleicht machte gerade das den Reiz aus.
„Willst du mich nur anstarren?" Trotz ihrer kecken Worte war sie rot geworden. Bevor er widersprechen konnte, nahm sie seine Hände und zog lachend an ihnen. „Na los."
Ihre Pupillen waren geweitet, ihre Wangen glühten.
Er wusste, er hatte verloren.
Schmunzelnd drehte er sie ein paarmal um ihre Achse, sodass sie am Ende laut lachend gegen ihn taumelte. Er roch gut, für jemanden, der aus dieser Gegend kam. Sauber und süßlich und nur ganz leicht nach Metall. Die Tage im Palast hatten ihm gutgetan. Im selben Moment wurde die Musik langsamer und sie tanzte die Dauer des Liedes an ihn gelehnt.
Die Feste, die im Schloss gefeiert wurden, waren bei weitem nicht so ausgelassen. Alle waren steif, hatten ein falsches Lächeln aufgesetzt und achteten auf jedes Wort, das sie sagten und darauf, dass ja kein Härchen am falschen Platz lag. Das hier war anders. Ein Raum voller Menschen, die so offen glücklich waren und sich über nichts Sorgen zu machen schienen. Als würden sie ihren letzten Tag auf Erden zelebrieren, ohne einen Gedanken an Morgen zu verschwenden. Diese Menschen lebten. Es war berauschend.
Schnelle und langsame Lieder wechselten sich immer wieder ab.
Nach zwei weiteren Stücken gönnten sie sich eine Pause und Taïr verschwand um etwas zu trinken zu holen, ließ sie aber in der Obhut einer Freundin, Cassandra oder Cass, wie sie sich vorgestellt hatte.
Neugierig stützte Cass ihr Kinn auf ihrer Hand ab, die Haare ihres Sidecuts fielen vor ihr linkes Auge. Mit dem Zeigefingernagel kratzte sie an einem Loch im Tisch. „Alles in Ordnung?"
„Hm?"
„Du hattest ja keinen guten Start ... Dieser Wichser Wire, mein ich."
„Ach so, ja, alles in Ordnung. Er hat mich nur kurz aus dem Konzept gebracht."
Cass lachte. „War keine schlechte Show. Verteidigen kannste dich ja zumindest ganz ordentlich. Und ein gebildetes Mäuschen biste noch dazu, kommst ja aus dem Palast. Aber nich überheblich. Zumindest nich überheblicher, als man sich ein kleines Mäuschen vorstellt, das in die große weite Unterwelt hinaushuscht, um sich dort die Ratten mal anzusehen." Sie zwinkerte ihr zu. „Schade, dass du dich nich früher hierher verirrt hast. Hier gibt es hauptsächlich Kerle und mit den goldenen Süßen kann man kaum reden. Halten sich für Edelcybs." Ein Grinsen ließ einen Silberzahn aufblitzen. „Taïr scheint dich zu mögen. Du hast ihn immerhin dazu gebracht, zu tanzen. Das habe ich gleich aufgezeichnet." Sie tippte sich neben ihr künstliches rechtes Auge.
Holly winkte ab. „Er war mir nur noch etwas schuldig und ihr wart ja auch alle behilflich."
Cass wollte noch etwas sagen, doch da kam Taïr mit drei Gläsern wieder zurück.
Er ließ sich gegenüber von ihnen nieder. „Was grinst ihr so? Wenn Cass so grinst, hat das nie was Gutes zu bedeuten."
„Nichts, nichts", versicherte Holly unschuldig und nahm einen Schluck. Verzog den Mund. Versuchte, nicht zu husten, obwohl ihr die lilagepunktete Flüssigkeit im Rachen kitzelte. Und verlor den Kampf in einem bellenden Hustenanfall.
Jetzt war sie diejenige, die angegrinst wurde. Sie hoffte, dass Cass ihr Mienenspiel nicht ebenfalls aufgezeichnet hatte.
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