4.2 ... und gefressen werden:
Taïr reagierte, bevor sie überhaupt eine weitere Bewegung machen, geschweige denn etwas sagen konnten. Jetzt erwies sich das viele Besteck doch als nützlich, hatte er damit wenigstens ein paar Wurfmesser zur Hand, die die Fremden zum Ausweichen zwangen. Anfänger. So gepanzert wie sie waren, mussten sie keine Angst vor Brotmesserchen haben.
Aus dem Augenwinkel sah der Söldner, wie die Königsfamilie von Soldaten geschützt wurde. Außer Gefahr. Gut.
Er stürmte in Richtung des ersten Angreifers, duckte sich und entging einer Kugel, war nun dicht vor ihm und packte seinen Arm. Als Taïrs Metallfaust auf Muskeln und Knochen traf, erklang ein befriedigendes Knacken. Ein weiterer Kerl links hinter ihm bekam seinen Metallellenbogen ins schwarz getönte Visier, das sich gefährlich nach innen wölbte und splitterte. Er drehte sich und trat einem Dritten in den Bauch, sodass dieser gegen die Wand geschleudert wurde. In einer fließenden Bewegung hob Taïr die Schusswaffe vom Boden auf, die der erste hatte fallen lassen, schoss und ... erstarrte. Auf der schwarzen Uniform eines Feindes prangte ein großer blauer Fleck. Farbe. Farbkugeln.
„Was zum ...?"
Man konnte sagen: Die Angreifer konnten sich glücklich schätzen, dass er sie nicht getötet hatte. Sie sahen das mit dem ‚glücklich schätzen' allerdings ein bisschen anders. Ein paar schwarze Visiere glitten zur Seite in die Kopfpanzerungen und die Gesichter, die zum Vorschein kamen, sprachen deutlich von verletztem Stolz. Und verletzten Körperteilen.
Er hörte den Typen hinter sich, eine rote Warnmeldung zuckte durch das Sichtfeld seines linken Auges. Einer der fake Angreifer schlug ihm einen Gewehrgriff auf den Hinterkopf. Taïr tat ihm den Gefallen und ging in die Knie. Das nutzten die anderen aus, kreisten ihn ein und traten zu, bohrten ihre schweren, metallverstärkten Boots in seine Seiten und in seine Arme, mit denen er seinen Kopf schützte.
Jeder einzelne von ihnen hatte einen Stammbaum, so beeindruckend, hätte einer der wenigen noch existierenden überzüchteten Rassehunde einen Blick darauf werfen können, er wäre vor Neid gestorben. Eine Schmach, wie dieser Trupp sie in den letzten paar Minuten hatte erfahren müssen, war einfach inakzeptabel. Ihnen kam es wohl nicht in den Sinn, dass sie es mit ihrem momentanen Verhalten nicht besser machten.
Stumm ließ Taïr ihre Wut über sich ergehen. Wenn es den möchtegern Spezialisten dabei half, diese kleine Episode zu vergessen, war ihm das recht. Er wollte nichts sehnlicher, als jedweden weiteren Ärger zu vermeiden.
Taïr sah, wie die Prinzessin näher kam, bedächtig, Haupt hoch erhoben. Lange Sekunden später stand sie vor ihnen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Das reicht ihr Idioten", zischte sie. „Mir wäre es egal, wenn ihr ihn zu Brei schlagt, aber er muss mich noch beschützen können. Sagt Folgendes zu denjenigen, die darauf Wetten, dass er die Tage vor der Abreise nicht überlebt: Sollten sie auch nur in irgendeiner Weise nachhelfen, werde ich dafür sorgen, dass sie mich auf meiner Reise begleiten dürfen. Und sie dann im Verseuchten Gürtel aussetzen."
Gehorsam traten sie zwei Schritte zurück, sahen die Prinzessin an, verneigten sich und verließen den Raum.
Taïr hievte sich in eine sitzende Position, in der er schwankend verharrte.
Der König legte Messer und Gabel beiseite, schluckte Essen hinunter, und klatschte in die Hände. „Bravo, bravo! Das war unglaublich. Obwohl Sie das Schauspiel leider sehr früh durchschaut haben, zweifele ich nicht daran, dass Sie den kleinen Trupp hätten auslöschen können. Somit haben Sie den letzten – und, zugegeben, ersten richtigen Test, bei dem wir Ihre Fähigkeiten persönlich begutachten konnten – bestanden. Herzlichen Glückwunsch! Sie dürfen sich jetzt zurückziehen, wenn Sie wollen." Dann widmete er sich wieder seinem Teller.
Der Söldner am Boden zweifelte indes nicht daran, dass dieses ‚Schauspiel' keineswegs dazu gedient hatte, ihn zu testen, sondern vielmehr, um den Herrschaften etwas Unterhaltung zu bieten.
„Danke", brachte Taïr heraus, ohne allzu sarkastisch zu klingen, bevor er sich aufrichtete und aus dem Raum humpelte. So schnell wie möglich weg von diesen irren Adeligen, für die Menschen doch nur Zahnrädchen in ihren Spieluhren waren.
Taïr ignorierte seine innere Navigationshilfe so lange, bis sie ihr, „Um zu Ihrer Unterkunft zurückzugelangen, kehren Sie bitte um", schließlich einstellte. Es war purem Zufall zu verdanken, dass er auf den prächtigen Schatz in den oberen Etagen im Herzen des Schlosses stieß.
„Die können mich alle mal –", setzte er gerade seine Schimpftirade fort, da streifte sein Blick die Glasfront. Sein Mund blieb ihm offen stehen, seine Stirn war leicht gerunzelt und seine Hand fuhr wie von selbst über einen der Touchscreens, die in regelmäßigen Abständen an der Wand angebracht waren.
Geräuschlos glitten Glastüren auseinander und ein Geruch stieg ihm in die Nase, der in Kontrast zur beißenden Luft draußen, aber auch zu der reinen Luft drinnen stand. Und garantiert nichts mit dem Parfum gemein hatte, in dem der Adel zu baden schien. Fein zurechtgestutzte Büsche und Bäume wuchsen hier und Blumen, die er nur aus Büchern kannte. Rosen, Sonnenblumen, Orchideen ... Sie verströmten diesen seltsamen süßlichen Duft. Und waren schon nahezu übertrieben bunt. Über ihm wölbte sich eine große durchsichtige Kuppel, die an klaren Tagen das Sonnenlicht hereinlassen konnte.
Dieser Anblick, gepaart mit einer frischen künstlichen Brise, ließ seine verkrampften Muskeln wieder entspannen und blies auch die schwarzen Gedanken aus seinem Gehirn. Zumindest so weit, dass er sich zutraute, wieder hineinzugehen, ohne die Garnitur auseinanderzunehmen.
In seinem Zimmer angelangt zog er das Hemd aus und betrachtete die Verletzungen im Spiegel, tastete mit seinen Fingern über seine Rippen. Nichts Ernstes, nur Ärgerliches, das ihn minimal beim Kämpfen stören würde.
Es klopfte an die Tür.
„Jetzt nicht", bellte er.
„Später?"
Er erkannte die leise Stimme. Sie wäre schwer verständlich gewesen, wenn er die Empfindlichkeit seines künstlichen Ohrs nach dem Angriff nicht ein wenig hochgeschraubt hätte.
Taïr musterte sich im Spiegel. Er sah aus, als wolle er jemanden ermorden. Tief atmete er durch. „Nein, nein, komm rein."
Im nächsten Moment schlüpfte Holly ins Zimmer, die ihn sah und erstarrte.
„Hallo, schön, dass du es einrichten konntest", sagte Taïr, lächelte höflich.
„Ich habe gehört, was passiert ist. Tut mir leid, das hätten sie nicht tun sollen." Sie biss sich auf die Unterlippe und mied wieder seinen Blick.
„Warst du dabei? Ich meine, einer dieser ...?"
„Nein, aber –"
„Dann muss dir auch nichts leidtun. Höchstens der Königsfamilie und den anderen Clowns am Tisch, die zugesehen und sich prächtig amüsiert haben." Dabei fiel sein Blick auf den silbernen Koffer, den sie in der Hand trug. Fragend sah er sie an. „Was ist das?" ‚Bombe' war das Erste, was sein gereiztes Hirn vorschlug.
„Oh, das ... Ja, na ja, ich dachte ... Darin sind Heilsalben und ich dachte ..."
Es dauerte etwas, bis er ihren Satz verarbeitet hatte. „Sehr nett, vielen Dank." Er bemühte sich, seinem Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu verleihen. Grinsen, Lächeln, Lachen – das beruhigte andere, wenn es ehrlich rüberkam. Wenigstens ein paar anständige Menschen gab es im Palast und die wollte er nicht vergraulen.
Holly stellte den Koffer auf den kleinen Metalltisch an der Wand, klappte ihn auf und wühlte einige Zeit darin herum, bis sie sich für ein hellgrünes Döschen entschied. Dann schraubte sie das Gefäß auf, langte hinein.
„Setz dich?" Es klang wie eine unsichere Frage, war aber wahrscheinlich nicht als eine gedacht.
Grinsend ließ er sich auf dem Bett nieder und sie kletterte hinter ihn.
„Dauert nicht lang. Sie zieht schnell ein. Man massiert sie ein und das war es."
Sie begann, die Salbe zu verteilen und einzureiben, achtete darauf, von seinem Metall fernzubleiben. Federleicht war ihre Berührung, scheu, als wäre er eine der Felibestien, die sich schnurrend streicheln ließen, nur um einem eine Sekunde später den Arm abzubeißen.
Wann hatte ihn jemand das letzte Mal so zart berührt? Ohne Geld oder etwas anderes zu verlangen?
Ihre Bewegungen wurden sicherer, er konnte ein leichtes Erzittern irgendwann nicht mehr unterdrücken.
Die Reaktion beraubte seiner Haut Hollys Berührung. „Habe ich Ihnen wehgetan?", fragte sie. „Tut mir leid, ich –"
Er lachte auf. „Wehgetan? Nein, wirklich nicht. Du bist so zart und vorsichtig. Und mir ist gar nicht aufgefallen, wie verspannt ich bin. Das tut gut. Du bist gut darin. Musst du die Prinzessin häufiger massieren?"
Sie machte weiter, summte nur, weder ein Ja noch ein Nein. Bevor sie selbst für Taïr fast viel zu leise etwas von ‚gute Ehefrau' und ‚kümmern' nuschelte.
„Hm?"
„Ach, vergiss das. Ich habe gelernt, wie man Menschen massiert, ja."
Nach einer Weile klopfte sie ihm zufrieden auf die Schulter. „Fertig. Willst du dich umdrehen?"
Die Frage klang scherzhaft, trotzdem ließ er sich zurückfallen, spürte, wie sich der Stoff der Laken an seinen Rücken schmiegte. Sie sah kurz auf ihn herab, machte sich dann an die Arbeit. Diesmal ließ sie sich mehr Zeit. Holly fuhr seine Narben nach, die Stirn gerunzelt, den Mund leicht geöffnet. Bis sie seinem Blick begegnete und errötete.
„Fertig", meinte sie leise, schraubte das Gefäß zu und wollte aufstehen. Eine metallene Hand schloss sich sachte um ihr Handgelenk. Nach Luft schnappend riss sie die Hand zurück, doch er ließ nicht los, wartete, bis sie ihn ansah. Mit Angst im Blick. Was ihn schmerzte, wie es das immer tat. Aber nicht überraschte, schon lange nicht mehr.
Vielleicht war er auch für sie nur eine tödliche Kuriosität.
Andererseits war Holly nett. Das Mittel hatte sich schon an die Arbeit gemacht und reparierte die Schäden, die die Tritte verursacht hatten. Teures Zeug, wahrscheinlich, zu dem einfache Schrauben wie er keinen Zugriff hatten. Die Frage, ob sie es für ihn gestohlen hatte, zuckte kalt durch seinen Geist. Sie sollte sich nicht in Schwierigkeiten bringen, nicht wegen ihm.
„Danke." Er nahm die Hand weg. „Wie wäre es, wenn ich dich heute etwas ausführe?" Um sie nicht zu erschrecken, richtete er sich langsam auf, ging zur Tür, schnappte sich auf dem Weg ein T-Shirt und eine Jacke aus dem Schrank. „Komm schon", wiederholte er ihre Worte vom Vortag, lächelte und hob herausfordernd die Augenbrauen.
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