18.1 Von schwarzen Murmeln ... :
Am Rand seines linken Blickfelds schwebte nur für ihn sichtbar eine inoffizielle, halb durchsichtige Karte von 6. Taïrs Ziel, das Hauptrechenzentrum, war schon rot markiert und eine blaue Linie zeigte den berechneten besten Pfad dorthin an. Glücklicherweise war es eine bequeme Reiseroute.
Bei jedem Schritt erzitterten die Metallstufen dumpf, die ihn hoch zu einer der Schwebebahnstationen führten. Er hielt den Blick gesenkt, bewegte sich zügig, aber nicht eilig, so wie alle Menschen hier. Auch wenn sein System seine Identität den Kameras gegenüber verschleiern konnte, gab es noch menschliche Augen auf der Suche nach mehr oder minder schuldigen Straftätern.
Unter ihm wimmelte der nächste Schwall Menschen wie Ameisen durch die ordentlich schnurgeraden, von Lampen beleuchteten, Gassen. Arbeiter, die Nachtschicht hatten, vermutete Taïr.
Oben auf der Bahnsteigplattform angekommen folgte er einigen Leuten am Geländer entlang nach rechts. Die Schlangen vor den mit Stickern beklebten Ticketautomaten waren nicht lang, kaum eine Minute später tänzelte auf der mittleren Maschine eine silberne, grinsende Schwebebahnfigur vor ihm auf einem Hochseil. Während er sein Ziel eingab, seine Größe, sein Gewicht und sein Alter, scannte der Automat sein Gesicht. Nachdem der bunte Kasten ein paar weiße Geld-Chips mit knapp vier Zentimeter Durchmesser geschluckt hatte, wünschte er ‚Herrn Moore' eine ‚wundervoll fantastische' Reise.
In einer der vielen Menschengruppen vor der roten Linie auf dem Boden blieb Taïr erneut stehen. Man konnte meinen, er wäre der Kern eines unsichtbaren Feldes, das Menschen abstieß, so beiläufig nahm man einen minimal größeren Abstand von ihm. Einen Meter weiter befand sich die Bahnsteigkante. Behälter unter den Schienen sorgte dafür, dass Wartende nicht aus Versehen in den Tod stürzen konnten.
Die nächste Bahn kam angeschwebt, bremste leise brummend ab und hielt mit einem letzten Ruck vor ihnen an. Nur leicht pendelte sie auf und ab.
Tief durchatmend musterte er das selbst in der Realität wie neu glänzende Gefährt.
Sobald die Türen für die Wartenden zur Seite glitten, kam ihm eine saure Geruchswand entgegen, eine Mischung aus ungewaschenen Körpern, Krankheit und Verwesung. Dazu eine Geräuschkulisse, die entstand, wenn zu viele Menschen auf engem Raum versuchten, mit demjenigen zu reden, der am weitesten entfernt stand. Ohne innezuhalten stieg er ein, quetschte sich an Leuten vorbei, bis er eine der von Schweiß und anderen Sekreten schmierigen Haltestangen ergreifen konnte.
Die Beleuchtungskörper flackerten, als die Bahn mit einem störrischen Ruck anfuhr. Für kurze Zeit herrschte Dunkelheit in dem Gefährt, abgesehen von dem verschwommenen Schimmer hinter den getönten Scheiben. Dann strahlten die Lampen wieder ihr kaltes, weißes Licht nach unten, auf die grauen Wände, die Passagiere und das, was vom grauen Linoleumboden sichtbar war. Taïr legte den Kopf in den Nacken. Überall hatte man dieses Faible für kühles Licht. Ehrlich. Steril. Damit man auch ja nicht auf die Idee kam, es sich irgendwo gemütlich zu machen.
Er saß einige hundert Meter vom Rechenzentrum entfernt auf dem Boden, eine kühle Mauer im Rücken. Wie auch das Gefängnis war dieses Gebäude in die Wand der Höhle eingebaut worden. So dumm den Haupteingang zu nehmen war er nicht. Seinen Kalkulationen zufolge würde ihn der Wartungstunnel nah genug heranbringen, bevor sein System entdeckt und die Alarmanlage aktiviert werden würde.
Ein letztes Mal drehte er die Karte und schloss das Programm dann, um alle Kapazitäten auf das anstehende Problem zu fokussieren.
Mit seinem rechten Unterarm wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Während das System versuchte, die Sicherung des Eingangs ihm gegenüber zu knacken, lief der zuständige Teil seiner inneren, jetzt hell surrenden, Maschinerien heiß. Man stieß schnell an Grenzen, wenn man etwas tat, für das man nicht oder zumindest nur dürftig programmiert worden war.
Er sah sich um, betrachtete die kleinen Häuschen im Stil der Welt Davor – lange zweistöckige Quader mit verglasten Wänden, viele davon nur von einer Seite durchsichtig, alle geringstenfalls in der Lage Sichtschutz durch Hologramme oder Jalousien zu bieten.
Ein Piepen signalisierte den Erfolg seines Systems, gefolgt von einem Zischen, als die Tür zur Seite glitt. Schnell wie ein silber-schwarzer Schatten sprintete er zur Öffnung, schlüpfte hinein und ließ sie sich hinter ihm wieder schließen.
Was ihn umfing hätte man fast als Parallelwelt bezeichnen können. Taïrs Blick huschte von links nach rechts nach oben. Seine Schritte waren hier nicht zu hören und vielleicht noch nicht einmal seine Gedanken.
Rauschen, Stampfen, Pfeifen, Klopfen, Dröhnen, immer, überall. Riesige Zahnräder, Ventilatoren und Kolben waren in ständiger Bewegung, Röhren vibrierten, Dampf wurde ausgestoßen und der schwere, beißende Geruch von Öl, Metall und Rost lag allgegenwärtig in der Luft. Nicht wenige Arbeiter verloren in den Eingeweiden von so großen Maschinen den Verstand. Da nützte auch das beruhigende, hellblaue Licht nichts, das von den Wänden abgesondert wurde.
Summend balancierte Taïr auf einem Rohr. Als es einen Knick nach unten machte, nahm er Anlauf und überwand die zwei Meter zu einem anderen. Dort kletterte er mittels einer gelben Leiter eine Ebene höher. Der abgerundete Gang, dem er jetzt folgen konnte, war, auf die kühlen Temperaturen und die sich Schritt für Schritt ausbreitende Stille bezogen, sehr viel angenehmer.
Dafür fiel ihm nach ein paar Minuten etwas anderes Lästiges auf.
In ihm breitete sich das kribbelnde, juckende Gefühl aus, verfolgt zu werden. Drei Abzweigungen später gab es für ihn keinen Zweifel mehr. Wenn sein Verfolger geplant hatte, sich an ihn heranzuschleichen, machte er einen miesen Job. Seine Schritte waren nicht besonders laut, hallten aber trotzdem bis zu ihm. Wahrscheinlich bemühte er sich nicht einmal, sondern war einfach nur leicht. Mit erhobenem Blaster blieb Taïr stehen und wartete.
Ein Mann bog um die Ecke. Er hatte mit Dust gerechnet, aber nein. Blass und dürr. Haare nachtschwarz, als wollten sie alles Licht aufsaugen. Und Augen – Iris, Pupille, Sklera – von derselben Farbe. Wie schwarze Murmeln.
„Und wer bist du jetzt?", verlangte Taïr zu wissen, was seinem Gegenüber ein schmallippiges Lächeln entlockte.
„Der Mann, der deine Hilfe braucht, um dir helfen zu können, damit du der Prinzessin helfen kannst."
Taïr zog die Brauen nach oben. „Aha. Ich weiß zwar nicht, von welcher ‚Prinzessin' du redest, aber ... Geht das auch weniger kryptisch?"
Der Kerl verdrehte die Augen, kam auf ihn zu und lief an ihm vorbei, ließ sich nicht von der Mündung der Waffe stören, die stur auf seinen Kopf ausgerichtet blieb. „Weniger kryptisch? Ich will dir helfen – was ist daran kryptisch? Du willst doch in den Kontrollraum für die einzelnen Bezirke, oder? Und dann? Wie willst du deine Freunde aus dem System bekommen?"
Taïr hob die Schultern. „Ich dachte, ich schieße ein paar Mal auf das Computerzeug da und fertig."
Seinen Kopf zur Seite drehend musterte Schwarzhaar ihn aus dem Augenwinkel, mit leicht gerümpfter Nase und gerunzelter Stirn zweifelte er vermutlich am Geisteszustand des Cyborgs. Er seufzte leidend und ging schneller weiter. „Wie hast du das Auswahlverfahren bestanden, um Leibwächter der netten Damen zu werden?"
„Welche netten Damen?", spottete Taïr milde. „Und welches Auswahlverfahren? Inoffiziell: Wenn ich ehrlich bin, weiß ich auch nicht, wieso gerade ich in diese Scheiße reingezogen wurde."
„Ich glaube fast, Michi hat recht", flüsterte sein neuer Begleiter so leise, dass Taïr es nur dank seines künstlichen Ohrs verstand. Der unendliche Resignation ausdrückende Seufzer wäre sowieso gut zu vernehmen gewesen. „Natürlich hat er das."
Der Cyborg schloss zu ihm auf. „Wer? Und recht mit was?"
„Nichts", zischte Schwarzauge und sah abermals zurück. „Beeil dich. Halt mir die Roboter vom Leib und bring mich zum Kontrollraum."
„Ja, Sir." Taïr salutierte, was ihm ein erneutes Augenrollen einbrachte.
Den Blaster behielt er allerdings in der Hand.
Die Tür vor ihnen öffnete sich und gab den Weg zu den sterilen weißen Gängen des Rechenzentrums frei. Zügig bewegten sie sich durch die endlos scheinenden, gleich aussehenden Korridore.
Bis sie ein in den Ohren klingelndes Tröten, rotes Licht und Kraftfelder, die plötzlich Flure verriegelten, zwangsweise innehalten ließen. Noch deutlicher konnte man ihnen nicht mitteilen, dass man ihr Eindringen bemerkt hatte. Abgesehen von den beiden, zumindest von der Form her humanoiden Robotern, die um die Ecke bogen.
In den Kern des einen brannte sich ein Blasterschuss, doch der andere war in der Zeit zu nahe herangehechtet, drückte Taïrs rechten Arm nach oben, sodass der für ihn bestimmte Strahl danebenging. Mit seiner linken Metallhand umfasste der Cyborg den Hals der gesichtslosen Maschine. Er ließ sich gegen die Wand in seinem Rücken fallen und winkelte sein künstliches Bein an. Mit einem Knall streckte es sich aus, sodass sein Fuß auf den Brustkorb des Roboters prallte. Dieser flog zurück, nur der Hals mitsamt Kopf war noch in Taïrs Hand. Ein letztes Mal blinkte der kleine rote Punkt in der Mitte des glatten Gesichts auf – dort, wo sich bei einem Menschen die Nase befunden hätte – dann erlosch das Licht. Taïr ließ das Stück Metall fallen.
„Effektiv", kommentierte Schwarzauge, der in der Zwischenzeit eine der rot flackernden Sperren geöffnet hatte, schon dem dahinterliegenden Gang folgte und nun zu ihm zurücksah. „So sehr ich unseren kleinen Spaziergang hier genieße, sollten wir nicht trödeln."
Gemeinsam rannten sie weiter, stoppten erst vor der nächsten blockierten Abzweigung. Dort machte sich Schwarzauge erneut an die Arbeit.
Ein Roboter kam aus einem anderen Gang, richtete den Blaster auf Schwarzauge. Den ersten Schuss fing Taïr mit seinem Metallarm ab, die nächsten prallten gegen seinen Schutzschild, den er vor sich und seinem zeitweiligen Partner positioniert hatte.
Dann hob er selbst seinen auf höchste Stufe gestellten Blaster.
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