15.1 Von unechten Nordlichtern ... :
Man konnte die Sonne zwar nicht sehen, dennoch waren die Auswirkungen ihres Untergehens überdeutlich. In weniger als einer Stunde würde die sowieso schon düstere Umgebung mit der Dunkelheit der Nacht verschmelzen. Bereits jetzt bestand die Ferne nur noch aus Schwärze, zeitgleich eine undurchdringliche Wand und Unendlichkeit.
Ihnen blieb nichts anderes übrig, als draußen zu schlafen. Diese Aussicht brachte die drei Prinzessinnen dazu, mit verschränkten Armen und kritischem Blick dabei zuzusehen, wie ihr Nachtlager in der Nähe der Straße, hinter einer Gruppe Bäume und Sträucher errichtet wurde.
Taïr zog an einem Stück Zeltstoff. Es war nicht so, dass er oder die Soldaten diese Situation besonders begrüßten.
Am nächsten Tag würden sie zusehen, dass sie die Grenze erreichten und den neuen Citer bekamen. Wäre auch für Mitch besser, der sich ständig umsah. Obwohl er wahrscheinlich nicht halb so viel erkannte wie Taïr.
Bevor sie die Finsternis ganz umarmen konnte, lag das Zelt ausgebreitet vor ihnen. Auf Knopfdruck entfaltete sich das Ungetüm, das aus drei Kammern bestand. Es war eineinhalb Meter hoch, drei Meter breit, sechs Meter lang und passte seine Farbe automatisch an die Umgebung an. Was hieß: Es war gerade pechschwarz. Zum Schutz bohrten die Soldaten lange Stäbe im Abstand von zwei Metern in den Boden um das Zelt. Mitch betätigte einen Schalter an einem der Stäbe und das wummernde Kraftfeld zwischen den Stangen erwachte zum Leben, schimmerte für einen Moment weißlich, bevor es unsichtbar wurde.
Während Menschenaugen draußen nichts mehr wahrnehmen konnten, das sich weiter weg als einen halben Meter befand, verbreiteten im Zelt drei Lampen ein warmgelbes Licht, das sanft über die orangenen Innenwände strich. Wärmekugeln und Luftfilter hätten mit dem Kraftfeld um die Wette gesummt, wenn das Zelt nicht alle Laute abschirmen würde.
Mitch übernahm die erste Wache, lauschte den Geräuschen von draußen durch seine Kopfhörer und hatte die Bilder der Kameras im Blick – Informationen, die der Sicherheitszaun übermittelte. Auf die Sicherheitssysteme des Zelts wollte er sich nicht verlassen.
Es war mittlerweile weit nach Mitternacht und Taïr döste vor sich hin, eingelullt von der Wärme des Thermo-Schlafsacks, als der alte Soldat ihn für seine Schicht weckte. Unnötig, fand er, aber er wollte nicht den Groll der Schlafenden auf sich ziehen, indem er jetzt anfing, mit Mitch zu diskutieren. Der alte, blasse Soldat mit den schwarzen Ringen unter den Augen reichte Taïr seine Kopfhörer und schob das Video-Holo über das Lager des Cyborgs.
Wenn sich etwas dem Zaun näherte, war es entweder so klein, dass es sofort verglühte oder nach dem Schockmoment Reißaus nahm. Taïr verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er war der Letzte, der sich über eine ereignislose Nacht beschweren würde.
Das Rascheln von Stoff befreite ihn eine Stunde später aus dem Gleichmut der Nacht. Eine Maskierte schälte sich aus ihrem Schlafsack, schlich am Rand des Zelts über die knisternde Bodenfolie und warf ihm einen langen Blick zu, ehe sie Luftfilter an ihrer Maske fixierte und in die Nacht verschwand.
Ebenso leise stand Taïr auf, schnappte sich eine transparente Atemmaske und, einer spontanen Eingebung nachgebend, eine Wasserflasche. Er folgte ihr, erst durch die schmale Luftschleuse und dann nach draußen.
Stumm saßen sie einige Minuten nebeneinander in der Finsternis vor dem Zelt. Bis er das Wasser auf das Kraftfeld des Sicherheitszauns spritzte. Es brummte kurz dumpfer, fast empört, dann verbreitete sich die Flüssigkeit, überzog das eigentlich unsichtbare Feld und ließ ein schwaches Farbenspiel entstehen.
„Selfmade Nordlichter." Stolz grinste er sie an.
Ein faustgroßer Schatten krachte dumpf gegen das Feld, was Holly zusammenzucken ließ. Facettenaugen reflektierten das Licht, bis es erlosch. Noch ein paar Sekunden summte das Tier auf und ab, dann entfernte sich das Geräusch.
Angehaltener Atem wurde kichernd ausgestoßen. „Das sollten wir vielleicht nicht wiederholen", mutmaßte Holly. „Wäre aber ein schönes Date, unter anderen Umständen." Ihre Stimme wollte leicht erscheinen, doch in seinen Ohren klang es so dumpf wie die wasserüberzogene Schutzschicht.
„Du machst dir Sorgen." Keine Frage, eine Feststellung.
„Ja, natürlich. Ich – ich habe Angst. Davor, wie das ausgehen könnte. Ich hätte nicht gedacht – Ich meine, die letzten Tage ... Ich hätte nicht gedacht ..."
„Ich werde dich beschützen, egal was kommt, das verspreche ich dir."
Sie zog die von einer dünnen blauen Jogginghose verhüllten Knie an und umschlang sie. „Nicht nur mich, Taïr, auch die anderen. Beschütze sie genauso, wie du mich beschützt. Und pass auf dich auf."
Der Cyborg schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Klar, selbstverständlich. Aber ich werde die Prinzessin nicht über dich stellen. Wenn, dann stehen alle auf derselben Stufe." Sie schwiegen eine Weile, bis er wieder das Wort ergriff, beiläufig. „Nochmal zu der Datesache zurück. Du könntest die Umstände verbessern, indem du zum Beispiel deine Maske gegen eine normale Atemmaske austauschst."
Ungläubig sah Holly zu ihm auf und schnaubte. „Wenn das dein einziges Problem ist ..."
Er blies die Backen auf und entließ die Luft wieder, kratzte sich dann im Nacken. „Na ja. Ich hatte schon größere Probleme. Sagen wir es so: Das Babysitten ist neu, die Gefahr ist es nicht. Man gewöhnt sich niemals ganz daran, so kann man das nicht nennen, aber man stumpft ab. Andererseits lernt man auch, aus jedem Moment das Beste zu machen."
Ein leises Klicken ertönte, als sie einen Mechanismus betätigte, der den oberen Teil der Maske vom unteren löste. Vorsichtig nahm sie das obere Maskenstück ab. „Zufrieden?"
Sein Blick strich über ihre Züge, bis sie errötete und zur Seite sah.
„Ja. Wenn ich dich wegen dieser dämlichen Atemmasken schon nicht küssen kann, dann werde ich mich wenigstens an dir sattsehen."
Wieder lag ihr Blick auf ihm. „Du bist manchmal wirklich seltsam."
„Manche würden das ‚romantisch' nennen."
Sie lachte. „Wer denn?"
Die Antwort blieb er ihr schuldig. Er rutschte näher zu ihr, seine Finger strichen über ihre kalten Wangen, wanderten durch ihre Haare. Einen Augenblick hielt er inne, bevor er sie in seinen Schoß zog, bis sie mit dem Rücken an ihn gelehnt dasaß. Seine Finger waren über ihrem Bauch verschränkt, seine Stirn ruhte an ihrem Hinterkopf. Ruhe breitete sich in ihm aus, als würde er in einem warmen Bad versinken.
„Taïr, ich muss dir etwas sagen."
Kalte Ströme durchzogen das warme Wasser. „Nein, musst du nicht. Verschieben wir das reden." Egal, was es war, er kannte so einen Ton und wollte es nicht hören. Einzelne Momente genießen. Das war alles, was er wollte.
Wie recht ihr das war, merkte er daran, wie sie sich endlich entspannte.
„Wenn es dir zu kalt oder ungemütlich wird, gib mir Bescheid", murmelte er.
Holly schnaubte. „Du bist wie eine Heizung, Taïr. Und keine Sorge ... Ich finde es gerade eher viel zu bequem." Einige Herzschläge verklangen in der Dunkelheit. „Taïr?"
„Hm?"
„Wenn du gehen könntest, wohin du willst, wohin würdest du gehen?" Sie legte den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufsehen zu können. Oder zum Himmel, so genau ließ sich das nicht sagen.
„Ich weiß es nicht. Keine der Optionen ist besonders prickelnd. Bei uns sagt man es so: In den Vereinten Arealen herrschen die Reichen, in den Östlichen Inselwelten – äh, für Dienstmädchen ohne Straßenerfahrung wohl eher bekannt als Ozeanisch-Australische-Staaten-Entität – die Maschinen und in Neu Eurasia herrscht das Chaos."
„Dann bleiben noch die Sperrgebiete. Was sagt die Straße denn über die?"
„Na ja, die wildesten Gerüchte handeln von Drachen und Pferden mit Hörnern und Flügeln."
„Dann machen wir eben eine Weltreise", platzte es aus ihr heraus. Ja, ihr Blick hing eindeutig an den Sternen. „Ich wollte schon immer mal ans Meer, an ein richtiges, nicht verseuchtes Meer. Oder irgendwohin, wo es echten Schnee gibt, der aus Wolken fällt. Kannst du dir das vorstellen? Oder einen Urwald sehen. Vielleicht gibt es auch noch Tiere in ihrer Urform. Oder unveränderte Nahrungsmittel." Während sie immer begeisterter geredet hatte, hatte sie sich aufgerichtet, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Jetzt sank sie wieder gegen ihn. „Und am Ende entscheiden wir uns einfach für den Ort, an dem es uns am besten gefallen hat."
Lachend nahm er ihre rechte Hand, zeichnete unsichtbare Kreise darauf. „Das klingt nach einem wundervollen Plan. Und wenn wir keinen Ort finden, reisen wir einfach zum Mond."
Das brachte jetzt sie zum Kichern. „Zum Mond?"
„Früher haben wir das immer gesagt. ‚Wenn uns die Ausbilder zu dumm kommen, hauen wir einfach ab. Wir reisen zum Mond, besiedeln ihn und stellen unsere eigenen Regeln auf. Kein Krieg mehr, kein frühes Aufstehen und so viel Pizza bis man platzt.' Thomas hatte wirklich Prioritäten." Er lachte leise vor sich hin und rieb sich die Feuchtigkeit aus den Augen. „Scheiße, wir waren noch so jung."
Holly drückte seine Hand. „So machen wir es."
Minute für Minute lösten sich wieder mehr Umrisse aus der Dunkelheit.
Nur deswegen konnten sie sehen, wie sich Unterholz teilte und ein Mann daraus hervor stolperte. Ein Bein zog er leicht nach, der Fuß verfing sich im Gestrüpp. Er verlor das Gleichgewicht und ging kurz zu Boden, stieß sich ab und rannte weiter, direkt auf sie zu. „Ihr müsst hier weg! Ihr –" Abgebremst wurde er erst von dem Kraftfeld, mit dem er kollidierte. Der Fremde taumelte zurück und schüttelte den Kopf, kam näher. Seine dürren Fäuste hämmerten gegen den Zaun und ließen ihn an den Stellen sichtbar werden. Die Schocks störten ihn nicht. „Bitte, ihr müsst mich reinlassen, bitte, sie sind hinter mir her, sie werden mich auffressen, bitte lasst mich rein." Die Worte kamen rau zwischen spröden, zitternden Lippen hervor, genauso farblos wie sein Gesicht.
Im selben Moment, in dem Taïr und die ihre Maske vervollständigende junge Frau auseinanderfuhren, öffnete sich das Zelt.
„Was ist hier los?", verlangte Mitch zu wissen, Hand am Holster seines Blasters.
Hinter ihm schoben sich die zwei jüngeren Soldaten ins Freie, die zwei anderen maskierten Frauen lugten an der Zeltplane vorbei.
„Bitte", setzte der Mann wieder an, schnappte nach Atem. „Sie sind hinter mir her. Bitte lasst mich rein, ich flehe euch an."
Der alte Soldat verzog keine Miene. „Wer ist hinter Ihnen her?"
„Irgendwelche Viecher. Mechanisierte Raubkatzen oder was weiß ich." Der Kopf des Mannes zuckte herum, er blickte in den dunklen Wald, bevor er sich wieder ihnen zuwandte. Seine Augen waren hinter einer schwarzen, undurchsichtigen Brille verborgen, die aus einem einzigen Glas bestand, das sich von seiner linken zu seiner rechten Schläfe zog. Er war dürr und blass, ähnelte einem Skelett auf zwei Beinen.
„Und wie kommen Sie hierher? Ich meine, man trifft nicht viele Menschen irgendwo inmitten von 7 an."
„Ich hatte einen Unfall. Irgendein unglückliches Arschloch ist die Abhänge der Treppen – äh, diese parallel verlaufenden Straßen – runtergefallen. Ich hatte Glück, dass mein Wagen nicht auch über die Kante ist, aber er ist nicht mehr angesprungen. Und dann bin ich weiter, Richtung 6, und dann waren da diese Viecher und dann habe ich euch gesehen."
Langsame Schritte waren zu hören, ein Cyborg-Tiger schob sich zwischen den Büschen hervor. Gemächlich trottete er näher, in dem Wissen, dass seine Beute nicht mehr entkommen konnte.
„Bitte", flehte der Fremde, klopfte mit den Handflächen gegen das Kraftfeld. Schwielen verteilten sich gelb und rötlich, die Nägel waren abgebrochen.
Mitch schüttelte den Kopf. „Das ist zu riskant."
Der Cyborg sah Folgendes: Eine der maskierten Frauen aus dem Zelt drückte sich an Mitch vorbei, rannte zum Zaun und öffnete ein Panel, sodass der Fremde nach innen fiel. In der Sekunde, in der sich das Feld wieder schloss, krachte der nun doch beschleunigende Säbelzahntiger dagegen. Seine Pfote hatte es in den Kreis geschafft, war dann aber von dem Zaun sauber abgetrennt worden. Hell aufjaulend fuhr das Tier herum und verschwand wieder in der Dunkelheit, während seine abgetrennte Klaue noch einige Sekunden orientierungslos zuckte.
Der fremde Mann starrte ihm hinterher, die Hände zu Fäusten verkrampft.
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