13. Von toten Augen:
Seine Sensoren rissen Taïr so sanft wie das durchdringende Pfeifen einer akustischen Rückkopplung aus dem Schlaf. Er musste nur den Kopf heben, um zu sehen, was die Systeme so in Aufruhr versetzt hatte.
„Wolf", flüsterte er. „Wolf. Wach auf. Wolf. Wolf."
Snows Hand schlug gegen die Schulter ihres Partners, bevor die Soldatin sich grummelnd aufsetzte und über die Augen rieb.
„Hmmmng?!", kam es von Wolf.
„Leise", meinte Taïr. „Fahr."
„Soll ich leise sein oder fahren, Altaïr?" Wolf richtete sich auf, versteckte ein Gähnen hinter seiner Hand. Der junge Soldat hielt in der Bewegung inne, als er sich einem silbernen Wesen auf der Nase des Citers gegenübersah, das sich aus der langsam zerfließenden Dunkelheit der Nacht schälte. „Ist das ein Kampfroboter-Säbelzahntiger?" Es war schwer zu sagen, ob sein Flüstern von der Müdigkeit, Angst oder ehrlicher Begeisterung kam.
Mittlerweile war auch Mitch aufgewacht, seine Augen zuckten hin und her, während er versuchte, das reglose Ding draußen zu erfassen.
Die Frau im Sitz vor Taïr regte sich. „Nein. Das sieht aus wie ein Cyborg-Säbelzahntiger. Zwei dieser Sorte haben uns mit den Hackfleischbären geholfen, glaube ich."
„Du denkst also, der ist ungefährlich?" Der Soldat am Steuer beugte sich vor, musterte das Ding mit gerunzelter Stirn.
„Müssten die nicht schon ausgestorben sein?", hakte die Maskierte neben Taïr nach. „Tiger allgemein, aber erst recht Säbelzahntiger?"
„Erst fahren, dann Rätselraten", stellte Mitch klar.
„Aber der Cyb-Tiger kann doch sowieso nicht hier rein, oder?" Im Blick der Frau neben ihm lag Faszination, ähnlich der von Wolf. Es war die Art Verzauberung, der auch Menschen erlagen, wenn sie Taïr zum ersten Mal sahen.
Der mit kleinen Hörnern versehene Kopf des Tieres zuckte nach unten. Vielleicht hatte es die Frage gehört und wollte ebenfalls eine Antwort darauf. Das Vieh schlug seinen Kopf gegen die Frontscheibe, wieder und wieder, bis sich spinnwebartige Risse über das Glas zogen. Die letzte junge Frau, die schlief wie die Untote aus dem Märchen mit der Spindel und den Dornen, das Taïr so gerne mochte, fuhr bei diesem sich wiederholenden dumpfen Klopfen auch endlich nach oben. Ein schriller Schrei schnitt durch das Innere des Wagens, während Wolf anfuhr, so ruckartig, dass das hintere Teil des Citers funkensprühend auf dem Boden aufsetzte, bevor sich das Fahrzeug stabilisierte.
Zwischen den Metallkomponenten des Wesens pressten sich vereinzelt braune Fellbüschel hervor, die im Fahrtwind wehten. Und ebenso ein paar getrocknete Fleischfetzen.
Das Hybridvieh riss das Maul auf und stieß ein blechernes Brüllen aus. Einige Zähne fehlten, darunter einer der beiden vorderen, langen Reißzähne; zwischen den noch vorhandenen hatten bräunlichrote Stückchen einen dauerhafteren Platz gefunden.
Vier dünne Streifen zierten die Windschutzscheibe nach einem Prankenhieb.
Wolf steuerte den Wagen nach links und rechts, doch das Vieh schien festzukleben.
„Ich glaube, es hat seine Krallen in die oberste Metallschicht der Nase gebohrt", murmelte Wolf. Er fuhr eine scharfe Kurve, die Raubkatze presste sich auf das blaue Metall und betrachtete unbeeindruckt das Innere des Wagens. Zwei von einem weißen Schleier vernebelte und blutunterlaufene Augen, an den Stellen, an denen sich Augen normalerweise befanden, saßen tot in ihren Sockeln. Aber die vier Objektive, zwei zwischen und jeweils eines außen neben den echten Augen, bewegten sich, zuckten unabhängig voneinander in einer bläulichen Flüssigkeit umher, vergrößerten und verkleinerten ihre Blenden im spärlichen, aber durch die Bäume sprunghaft wechselnden, Lichteinfall immerzu.
Das Bewusstsein des Tieres war unumkehrbar mit dem Programm verbunden. Und hatte so nicht mitbekommen, dass sein Körper schon lange tot war und es selbst eigentlich seine Arbeit hätte einstellen sollen. Genau an dieser Stelle fing die ganze Sache an, kompliziert zu werden. Ein paar Grenzen sollte man nicht überschreiten, aber es gab genug Menschen, die Dinge taten, eben weil man sie nicht tun sollte. Neugierde war schon seit jeher eine der besten und gefährlichsten Eigenschaften von Wissenschaftlern gewesen. Taïr wusste das, besser als ihm lieb war.
„Schnallt euch an!" Wolf beschleunigte, weiter, immer weiter, die Hände um das Lenkrad gekrampft, die Stirn gerunzelt. „Haltet euch fest!"
Taïr drückte seine Sitznachbarin schützend an sich.
Dann bremste Wolf ab, der Citer schrie gequält auf und die Cyb-Katze prallte gegen die Windschutzscheibe, bevor sie von der Citer-Nase rutschte. Eine braungelbliche Flüssigkeit rann am Glas herab, gesellte sich zu schwarzem Dreck und rotem Hackfleischblut. Taïr spähte auf der Suche nach dem Tier aus den Scheiben, verspürte Mitleid mit dem Ding, das wahrscheinlich einfach nur alten Programmroutinen folgte, auf ewig oder bis nicht mehr genug übrig sein würde.
Etwas rammte den Citer von hinten, Krallen kratzten über den Lack.
„Fuck." Wolf fuhr wieder an, drei neue Cyb-Katzen preschten hinterher.
„Was ist das für ein kaputtes Albtraum Areal!?", heulte eine der jungen Frauen vor Taïr auf. „Wer wohnt denn schon bitte freiwillig hier, hä?! Nur Verrückte, die verrücktes Zeug fressen und Selbstmordwaffen bei sich tragen!"
Taïr beschloss, sie zukünftig ‚die Hysterische' zu nennen, obwohl etwas Sorge momentan nicht unangebracht war.
„Im Citer sind wir sicher. Sie kommen weder durch alle Schichten des Metalls, noch durch alle Schichten Glas durch." Mitch sah der Hysterischen fest in die Augen. „Das verspreche ich."
Das versprach er und hatte dabei selbst eine schweißnasse Stirn. Aber gut, wenn er recht hatte, konnte sich keiner beschweren. Und wenn er unrecht hatte und die Katzen den Citer knacken konnten, würde sich letztendlich auch niemand mehr beklagen können.
Etwas blitzte links auf, wie ein silberner Pfeil, krachte in den vorderen Teil des Citers und riss damit die Nase nach rechts, die ganz vorne an einem alten Kriegsfahrzeug hängen blieb. Fünf Leute schrien auf. Der Citer kreiselte zweimal um die eigene Achse, kollidierte mit einer der Cyb-Katzen und schleuderte sie weg wie ein Schläger einen Ball. Drei weitere Drehungen und der Wagen prallte mit einem Knall gegen einen Panzer, was ihn abrupt zum Anhalten brachte.
Im Inneren bekam die Luft eine verschmorte Note. Der Cyborg sah in die kalkweißen Gesichter oder zumindest geweiteten Augen des Trupps, begegnete Wolfs Blick im Rückspiegel. Mit zitternden Händen überprüfte der junge Soldat die Fahrzeugfunktionen. Alle Lämpchen leuchteten grün. Beim Anfahren rumpelte es im hinteren Bereich des Citers. Es knallte, zwei Doppelgängerinnen schrien auf, dann glitt das Fahrzeug über die Straße. Das Rumpeln schwächte sich zu einem stetig wiederkehrenden Klopfen ab, eine Lampe färbte sich Orange.
„Geht es allen gut?", fragte Wolf mit leicht zitternder Stimme.
Paralysierte Stille war die Antwort, eine deutliche, aber eine, die Wolf nicht akzeptierte.
„Ich will ein ‚Ja' oder ‚Nein' hören, Leute. Falls es euch interessiert: Mir geht es gerade beschissen. Ich würde mich am Liebsten übergeben, aber ich befürchte, dass ich damit die Laune nicht unbedingt heben würde. Also lasse ich das mal und konzentriere mich aufs Fahren, denke ich. Also. ‚Ja' oder ‚Nein'."
„Ja", kam es nacheinander von allen.
„Sehr schön. Nächste Frage. Sollen wir ein bisschen Munition verschwenden oder würde das die Viecher nur wütender machen?"
Auf Taïrs Gesicht erschien ein Grinsen. Seine Hand kratzte über seinen Dreitagebart und versuchte, es zu verbergen. So schnell ließ Wolf sich nicht unterkriegen, das musste er dem Kerl lassen. „Hat das Schätzchen auch Schockmunition? Der Stufe schwarz?"
Snow räusperte sich zweimal, bevor sie Taïr antworten konnte. „Ja. Aber nicht sehr viel." Sie atmete durch, schlug sich mit den flachen Händen auf die Wangen, dass es klatschte und alle zu ihr herumfuhren. Die Soldatin lächelte in die Runde. „Dann wollen wir mal."
Doch sobald sich das Geschütz aufgebaut hatte, blieben zwei Tiger stehen. Der letzte tänzelte ein paar Sekunden um die Salven herum und hielt schließlich ebenfalls an. Sah ihnen nach, wie eine Statue, die schnell kleiner wurde.
Hinter ihnen war nichts mehr zu sehen. Nichts offensichtlich Gefährliches abgesehen von der kaputten Straße unter dem Citer, dem verhangenen Himmel über und dem dunklen Wald links und rechts von ihnen, zumindest. In den letzten Stunden war den drei jungen Frauen jegliche Gehässigkeit abhandengekommen. Sie saßen auf ihren Plätzen, zwei die Welt hinter den Fenstern nicht aus den Augen lassend und eine in sich zusammengesunken. Sie würden keine unnötigen Pausen mehr einlegen, sich ein paar Stunden überwachte Nachtruhe gönnen und sonst abwechselnd weiterfahren, bis zum Ende des Areals.
„Was soll das?", kam es von der Zusammengesunkenen, von der Hysterischen. „Gab es denn keine andere Möglichkeit als dieses Scheißareal zu durchqueren?!"
Bevor Taïr den Mund aufmachen konnte, drehte sich die Frau neben ihm vom Fenster weg, beugte sich ruckartig nach vorne und krallte ihre Finger in den Sitz. Die Knöchel traten weiß hervor. „Denkst du denn, wir hätten diesen Weg gewählt, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe? Irgendwie mussten wir ja den Verseuchten Gürtel durchqueren! Es gefällt uns allen nicht, aber niemand jammert so herum wie du. Was hast du denn gedacht, wie das hier abläuft? Wie ein Shopping-Trip? Ein bisschen Sightseeing? Werde endlich erwachsen. Was macht es überhaupt für einen Unterschied? Sterben müssen wir doch sowieso!"
„Oh, ich bin diejenige, die das hier für einen Sightseeing-Trip hält? Ich bin nicht erwachsen? Wer hat denn die ganzen Pflanzen in 9 abgeknutscht, hm? Wer kommt denn mit seinem Leben nicht klar, so zugegebenermaßen beschissen es auch ist, hm? Finde du dich erst einmal mit der Realität ab, dann kannst du mich vielleicht dafür verurteilen, dass ich mich nicht mit 7 abfinden kann."
Taïr hatte das Gefühl, nicht alles von dem Gespräch zu verstehen. Aber zumindest wusste er jetzt, dass er neben der naturverbundenen Nymphe saß.
„Ich dachte, wir könnten diesen letzten gemeinsamen Trip genießen", murmelte die Dritte, die, die im Sitz genau vor ihm lehnte und zur Decke starrte. „Ein dummer Gedanke? Vielleicht. Aber wir haben das Recht, etwas von der Welt sehen zu wollen. Wir haben das Recht zu jammern."
„Ach, haben wir das?" Die Stimme der Nymphe war tief geworden, schien durch den Körper der Dritten zu vibrieren, so heftig zuckte diese zusammen. Auch die Nymphe hatte das nicht übersehen, der Ausdruck in ihren Augen wurde sofort weicher. „Tut mir leid. Ich weiß doch, dass ..."
„Ja. Schon gut. Mir tut es auch leid."
Er hätte gerne gesagt, dass er froh war, dass sie wieder stumm waren. Aber dieses Schweigen fühlte sich so an, als würden sie ein Problem ignorieren, dass die Eigenschaften von Acid-Balloon hatte. Es füllte den Raum ganz aus und zersetzte alles, das mit ihm in Berührung kam. So einig wie die drei immer waren, war diese Auseinandersetzung regelrecht schockierend.
Er beobachtete die Welt außerhalb des Citers, nahm jede Wärmesignatur auf und ließ sie kategorisieren. Gerade flog ein kopfgroßer, rotgelber Ball auf sie zu, drehte eine Runde über dem Citer und zog desinteressiert von dannen. Braver Ball, dachte Taïr.
„Taïr?"
Er schreckte aus seinen Gedanken, drehte den Kopf und sah in der Dunkelheit die Umrisse der Frau, die den Platz vor ihm einnahm. Also weder die Nymphe, noch die Hysterische.
Sie schien um Worte zu ringen und legte dann doch nur wieder ihren Kopf auf der Polsterung ab. Das war ihm nur recht – hier drinnen ein längeres Gespräch auf Distanz zu führen war gefährlich. Dennoch musste er ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass es ihr nicht gut ging. Ein Vögelchen, das aus seinem goldenen Käfig geflattert war, in der Hoffnung auf Freiheit, vergessend, dass der Käfig nicht nur dafür da gewesen war, es von der Welt fernzuhalten, sondern auch die ganzen Mutantenviecher von ihm. Er rutschte nach vorne, bis er auf dem Boden vor ihrem, sich in waagerechter Position befindenden Sitz hockte. Dann legte er ihr eine Hand auf den Kopf, strich ihr sanft durch die Haare und umfasste ihre Finger.
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