12.1 Von Hackfleisch ... :
Dreizehn Kilometer. So hoch war das Kleine-Kaledoniden-Appalachen-Gebirge mit seinem MENZ, dem Mount Everest Nummer Zwei, der eine Höhe von 13.131 Kilometern erreichte. Dieses künstlich angelegte Gebirge erhob sich vor ihnen, auf seine raue Art beeindruckender als die Mauer, die 10 von 9 getrennt hatte. Es erstreckte sich unendlich nach links und rechts, trennte so die Areale 4, 5, 7 und 8, die den Verseuchten Gürtel bildeten, vom Rest des Landes. Hätte man an klaren Tagen die Mauer mit der Gebirgskette verglichen, die doppelte Höhe des Gebirges wäre sofort aufgefallen. Hier, an der Grenze zu 7, gab es aber keine klaren Tage. Alles verschwand in einem gräulichen Nebel, der sich in Tropfenform auf den Citer legte.
Megan strich sich über die Arme. „Ist euch auch kalt? Also mir ist kalt. Und es wird immer kälter. Je näher wir dem Nichtszulachen-Gebirge kommen. Wollen wir nicht noch eine Nacht in 9 verbringen?"
„Du kannst dir sicher sein, dass wir alle gerne noch etwas Urlaub machen würden." Wolf sah in den Rückspiegel, lächelte Hestia an und zwinkerte ihr zu. „Aber vielleicht nicht in einem Areal, in dem man uns vergiften will."
„Klar", erwiderte Megan und der Blick des jungen Soldaten zuckte endlich zur richtigen Person. „Ich werde so viel lieber aufgefressen als vergiftet."
Der halbkreisförmige Tunneleingang tat sich vor ihnen auf wie das Maul eines Monsters, das sich mit seinen scharfen nach innen gerichteten Zähnen in den Boden gegraben hatte und hier verendet war. Rechts und links leuchteten Fenster im Zwielicht und verliehen dem Ungetüm Augen. Erst als sie eindrangen, sprangen nach und nach die Lampen an der Decke an. Selbst die Farbe des Tunnels war falsch, nicht Grau, sondern Dunkelbraun.
Kein Wächter war zu sehen gewesen, aber dass man sie aus den Gebäuden neben der Öffnung beobachtet hatte, stand außer Frage. Man musste nur niemanden aufhalten, der die Grenze von 9 zu 7 überqueren wollte. Man musste das aufhalten, was von 7 zu 9 wollte.
Als der Tunnel schon unendlich schien, schied er sie wieder aus.
Über ihnen stürmten schwarze Wolken gegen das Gebirge an. Auf der Seite von 7 war es nicht grau, sondern dunkelbraungrün, von den Pflanzen, die sich in den Fels fraßen.
Die Atmosphäre hier war anders. Schlimmer als die Randbezirke von 10. Schlimmer als alles, was die jungen Frauen und Snow und Wolf je zu Gesicht bekommen hatten. Und je weiter sie fuhren, desto mehr brach ihnen der Schweiß aus. Megan nestelte unentwegt an ihren Luftfiltern in ihrem Schoß herum – welche, die man an den Masken, die die drei trugen, befestigen konnte.
Alles war bedeckt von einer grauen Schicht, wie Asche. Die gelblichen Knochen, die vereinzelt herumlagen oder zu Kunstwerken drapiert waren, traten so nur stechender hervor. Es war nicht so, dass hier nichts wuchs. Was es schaffte, hier zu überleben, sah allerdings krank aus. Schwarz, verdorrt, fleckig, stachelig und giftig.
Selbst die Filter des Citers konnten den süßlichen, pelzigen Geruch nicht ganz aus der Luft entfernen. Verwesungsgestank legte sich auf alle Insassen des Wagens.
Die Straßen waren kaputt, kurvig und teilweise nicht passierbar. Kleine Löcher, dort, wo der Asphalt den Kampf gegen die schwere, immer noch herumstehende und langsam verrostende, Kriegsmaschinerie verloren hatte. Oder gegen die Natur, wie besonders ein kühnes Bäumchen bewies, das mitten auf der Straße aus dem rissigen Grau ragte. Größere Krater zeugten von Explosionen, gaben den Blick auf die Schichten der Straße frei. Der Autopilot stand für diese Gegend nicht zur Verfügung und die übliche Höchstgeschwindigkeit konnte man erst recht nicht erreichen.
Tot. Es war, als wären sie in eine Welt eingetaucht, in der König Tod gemeinsam mit seiner Königin Krankheit herrschte. Und wenn es eines gab, dass das eifersüchtige Regentenpaar nicht duldete, dann waren es Lebende.
Hollys Kopf fühlte sich an, als würde jemand versuchen, ihn mit blank polierten Knochen einzuschlagen. Oder als würden tausend Blicke wie Pfeile auf ihn niederprasseln. „I...ich muss kurz raus."
Mit zusammengezogenen Brauen musterte Mitch sie.
„Mir ist übel ...", fügte Holly an.
„Dann nimm dir einen Beutel. Draußen solltest du die Atemmaske nur im Notfall abnehmen."
„Ich muss sofort hier raus!"
Mitch musste gar nichts mehr sagen, Wolf lenkte hastig ein.
Nachdem sie sich einige Meter vom Citer entfernt und ihren Mageninhalt der zerstörten Landschaft hinzugefügt hatte, stützte sie sich keuchend auf ihre Knie. Ein Rascheln ließ sie innehalten, ihr Blick zuckte in der Dunkelheit vor ihr umher, glitt von Blatt zu Blatt.
„Taïr?"
Etwas kam näher.
„Taïr?", piepste sie. „Beim zweiten Mal wird es nicht witziger!"
Ein kleines Tier hüpfte aus dem Unterholz. Sie fuhr zurück, verlor das Gleichgewicht und landete auf ihrem Hintern. Graue Partikel stoben auf. Nach ein paar Sekunden der Verarbeitung brach sich ihr Lachen Bahn.
„Du hast mir ja einen Schrecken eingejagt." Sie sah zu Mitch zurück, der schon den Blaster auf das Ding ausgerichtet hatte. „Erschieß es bitte nicht", rief sie ihm zu.
Das Tierchen hob die Nase in die Luft, seine Schnurrhaare zuckten. Eigentlich wäre es ganz süß, hätte es Fell, anstelle von Pilzen, die aus seiner schwarzgescheckten Haut wuchsen. Und zwei Augen. Anstelle von vielleicht zehn. So ähnlich hatten einmal Hasen ausgesehen, vermutete sie.
Es kam näher, schnüffelte interessiert an ihrem Erbrochenem. So etwas Nahrhaftes gab es hier nur selten.
Holly lachte auf. „Ew, nein, bitte", flehte sie und hob eine Hand vor die Augen. Als sie sie wieder nach unten nahm, sah sie gerade, wie das Tier im Unterholz verschwand.
Erneut raschelte etwas in diesem undurchdringlichen Dickicht.
Mitch kam näher. „Lass uns gehen."
Zustimmend rappelte sich Holly auf, folgte ihm, bis sie wieder zu den anderen stießen, die am Waldrand gewartet hatten.
„Alles in Ordnung?", erkundigte sich Wolf.
Holly nickte.
„Was wird das hier?", schnappte der alte Soldat. „Ein Picknick? Alle sofort wieder in den –"
Ein Knacken hinter Mitch und Holly. Etwas war ihnen aus dem Wald gefolgt. Etwas, das die anderen mit großen Augen anstarrten. Selbst Taïrs Stirn legte sich in Falten.
„Was ist das?", hauchte Megan, kaum mehr als ein unstetes Rascheln von Blättern.
Mitch und Holly drehten sich langsam um.
„Was ..." Mehr brachte Holly nicht heraus.
„Nicht bewegen", murmelte Mitch.
Beim Fortbewegen erzeugte das Ding ein feucht schmatzendes Geräusch und hinterließ eine rötlich schleimige Spur auf dem kranken Boden. Die Masse schob sich gemächlich vorwärts. Etwas von ihr tropfte auf den Boden, als es den Kopf schräg legte. Es glitt weiter. Auf Holly zu. Eines seiner Augen rutschte von seiner Stirn etwas weiter in die Kopfmitte.
„Nein!", hörten sie noch Snows Stimme.
Aus dem Augenwinkel sah Holly, wie Wolf seinen Blaster zückte.
Ein Zischen ertönte, die Munition brannte sich direkt in das Gesicht des Dings.
Brüllend riss es sein Maul auf, das die Größe hatte, einem Menschen den Kopf abzubeißen. Perfekt kombiniert mit Zähnen, die sich sicherlich einmal von der einen zur anderen Seite bohren konnten.
In der Ferne schallte ein Knall zu ihnen. Als die Kugel traf, krampfte sich das Vieh zusammen, stieß ein helles Gurren aus und kroch zurück. Kleine Blitze zuckten über seine Haut, die brutzelte, wie Fleisch in der Pfanne.
Röhren klang vielstimmig aus dem Wald, ein Donnern aus unzähligen Kehlen.
„Lauft!", brüllte Mitch, packte Holly und Megan und zog sie auf den Citer zu, schubste sie hinein und stopfte sich selbst noch hinterher.
Schüsse zerrissen die Laute der Tiere und das Rascheln des Waldes.
Die Türen schlossen sich, der Wagen fuhr an und Holly erlaubte sich einen Blick zurück. Fünf dieser Tiere standen versteinert auf der Stelle, paralysiert von Schockmunition, die keiner ihrer Aufpasser verschossen hatte. Eines entkam seiner rechts neben ihm einschlagenden Kugel, sprang mit riesigen, unmöglichen Sätzen auf den Citer zu. Und hinter ihm schälten sich noch mehr aus dem Dunkel des Waldes.
„Fahr!", kam es aus sechs Mündern, in unterschiedlicher Lautstärke und verschiedenen Stadien der Panik.
In der Ferne sah Holly einen matten, schwarzen Citer, der schnell näher kam. Jemand beugte sich aus einem Fenster auf der Beifahrerseite, hinter einer Waffe wehten lila Haare. Auf dem Dach des Fahrzeugs lag eine andere Person, ebenfalls hinter einer längeren und massiveren Waffe verborgen.
Vielleicht hatten diese Tiere keine sehr hohe Ausdauer oder schlichtweg keine Lust, sie weiter zu verfolgen. Aus welchem Grund auch immer waren wenige Minuten später keine Jäger mehr hinter ihnen.
„Was zur Ursuppe waren das für Dinger?", jammerte Megan, Stimme weiterhin unstet, aber deutlich lauter.
„Vielleicht war das einmal so etwas wie ein Bär." Hestia rieb sich über die Stelle ihrer Maske, an der sich ihre Lippen befanden.
„Der Sex hatte mit einer Nacktschnecke?", wollte Megan wissen. „Oder einem Frosch? Oder mit Hackfleisch?"
„So was in der Art. Mich interessiert eher, wer uns da Feuerschutz gegeben hat." Taïr sah zurück, die Falten wollten seine Stirn gar nicht mehr verlassen. „Ich hab irgendwas Lilafarbenes gesehen, glaube ich. Die Entführerin in 9 hatte ein Faible für Lila."
„Das heißt, sie will uns helfen?" Das Interesse an der Frau schien Megan von ihrer Panik abzulenken.
Wolf antwortete ihr. „Das heißt, sie ist nicht allein und sie wollen die Prinzessin höchstwahrscheinlich lebend."
„Scheiße", kam es von Mitch, womit er sofort die gesamte Aufmerksamkeit hatte. „Fahr schneller!"
„Hm?" Wolf sah in den Rückspiegel. Eine ganze Meute Bärenhackfleisch rollte hinter ihnen aus dem Wald. „Scheiße", stimmte der junge Soldat zu. Er beschleunigte, wich Bäumen und liegen gebliebenen Citern und älteren Panzern aus, die kaum noch sichtbare Straße und das Navi fest im Blick.
„Schneller!", kam es erneut mehrstimmig von hinten.
„Wenn ich schneller fahre, bauen wir einen Unfall, also haltet die Klappen!"
Der Citer schlenkerte nach rechts und eines der Viecher klatschte links neben ihnen auf den Boden.
Blutige Fetzen überzogen eine Seite des Wagens, die drei Prinzessinnen schrien auf. Dampf stieg von Metall und Glas auf, als sich Säure begann, hindurchzufressen. Ein Auge klebte mitsamt etwas Haut an einem Fenster. Die drei starrten wie gebannt auf das Spektakel. Dann richtete das Auge seinen Blick auf Megan. Kreischend drückten sie sich alle auf die andere Seite des Wagens.
„Ich will nicht mehr", jammerte Megan. „Was ist das für eine kranke Scheiße!?"
Snow betätigte ein paar Knöpfe und ein zweites Steuerpult klappte aus dem Armaturenbrett. Allerdings nicht für den Citer. Nicht direkt.
Surrend fuhr ein siebenläufiges Gatling-Gewehr außen aus dem hinteren Teil des Fahrzeugs. Snow setzte sich eine getönte Brille auf, deren papierdünne Gläser nur oben am Gestell befestigt waren, und packte den Steuerknüppel. Kugeln bohrten sich im nächsten Moment in die Meute, blutige rosa Fetzen spritzten zu allen Seiten weg.
Etwas Silbernes blitzte links am Rande von Hollys Sichtfeld auf. Es sah aus wie ein raubkatzenähnlicher Roboter, der sich jetzt auf eines der Hackfleischtiere warf. Und ein zweiter Roboter sprang aus dem Dickicht, landete direkt auf einem ihrer fleischigeren Verfolger. Dann waren sie auch schon daran vorbei.
„Habt ihr das gesehen?" Ihre Stimme war leise vor Verwunderung.
„Was gesehen?", hakte Megan nach. „Die hundert Mutantenviecher, die uns fressen wollen? Das Auge? Die Scheiß-Säure?"
Hestia nickte Holly zu. „Du meinst diese Roboter? Ja. Ein seltsames Areal."
„Seltsam?" Megan vergrub ihren Kopf in ihren Händen, nur um sich sofort wieder aufzurichten und aus der Heckscheibe zu blicken. „Wie kannst du so ruhig bleiben?!"
„Es sind nicht alle so hysterisch wie du", murmelte sie und griff nach einer Strähne ihres Haares.
Eine Stunde später hatten sie auch endlich den letzten Mutanten abgehängt und nach einer weiteren Stunde eine der Sicherheitszonen erreicht. Das zerkratzte, verbeulte Tor hob sich, Wolf hielt den Wagen auf dem zugewiesenen Parkplatz an. Niemand rührte sich.
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