~ 34 ~
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es mittlerweile war. In dem Raum gab es kein Fenster oder sonst etwas, dass mir die Tageszeit verriet. Ich wusste ja nicht mal, wie lange ich außer Gefecht gesetzt war.
"Glaubst du, David sucht nach uns?", fragte Grace flüsternd.
Wir hatten uns vor nicht allzu langer Zeit auf eines der Feldbetten gesetzt. Noch länger auf dem kalten Betonfußboden zu sitzen, wäre keine gute Idee.
"Ich hoffe es."
Mir schwirren so viele Fragen durch den Kopf.
Würde David uns finden?
Wie viel Geld verlangte unser Vater für unsere Leben?
Waren wir das David wert?
Wie lange würden wir hier noch festsitzen?
Aber ich hatte keine Antwort.
Es wurde immer kälter in dem Raum. Meine Vermutung war, dass die Sonne sich bereits gesenkt hatte.
Die Metalltür machte erneut ihr grausames Geräusch beim Öffnen. Unser Vater betrat den kleinen Betonkasten von Raum.
"Es ist Zeit fürs Abendessen.", verkündigte er schon nahezu fröhlich. Doch als er die nicht angerührten Teller vom Mittag sah, verflog die scheinbar gute Laune. "Warum habt ihr nichts gegessen?"
Warum kümmerte es ihn, ob wir etwas aßen oder nicht? Hatte er wirklich etwas beigemischt, um uns zu vergiften?
"Ach komm, Claire. Denkst du wirklich, dass ich euch etwas unters Essen mische oder was?" Er stellte das neue Essen neben das alte.
"Würde mich nicht wundern. Ich kenne dich nicht mehr.", erwiderte ich. Ich wollte ihm noch so viel mehr sagen und an den Kopf werfen. Aber ich wusste nicht, was er mir antun würde. Was er uns antun würde.
"Warum sollte ich euch ein Haar krümmen, wenn ich euch lebend brauche? Denk doch mal nach, Claire. Du bist doch schlau genug, um Medizin zu studieren. Macht wenig Sinn, oder?"
Kopfschüttelnd nahm er das alte, kalte Essen in die Hand und verließ den Raum wieder.
Nach ein paar Minuten meldete sich Grace. "Glaubst du ihm?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht, Grace. Irgendwo hat er recht, aber ich traue ihm alles zu."
Warum sollte er David nicht bei dem Austausch hintergehen? Wenn David dem überhaupt zustimmte.
Grace löste sich von mir und stand von dem Feldbett auf. Wollte sie etwa wirklich etwas essen? Sie setzte sich auf das andere Bett, zog ihre Knie an sich und legte ihren Kopf darauf ab.
"Das ist alles meine Schuld.", schluchzte sie. Oh Gott, nein.
Rasch stand auch ich auf und setzte mich vor ihr auf das Bett. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und wischte ihr mit meinen Daumen die Tränen aus dem Gesicht.
"Grace, das stimmt nicht. Das ist nicht deine Schuld. Nicht mal ansatzweise."
"Doch, Claire!", rief sie auf. Überraschend wich ich etwas von ihr zurück. "Wenn ich nicht die Wohnung verlassen hätte, dann wäre das hier nie passiert. Wir wären immer noch sicher. Du und David würdet glücklich werden."
Dachte sie das wirklich? Dass David und ich glücklich werden würde?
Nein! Falscher Moment!
"Gracie. Niemand anderes als unser Vater ist daran schuld. ER hat uns entführt. ER benutzt uns. ER ist ein schlechter Mensch. Du bist die beste Schwester, die man sich vorstellen kann. Das musst du mir glauben."
"Du hast ihn doch gehört, Claire! Wenn ich nicht geboren wäre, dann wärt ihr noch alle zusammen und glücklich! Du, Mutter, Vater. Du hättest dich früher in David verliebt und wärt jetzt glücklich verheiratet. Du hättest das Leben, dass immer für dich bestimmt gewesen war."
Oh mein Gott.
Ging das wirklich alles in ihrem Kopf vor?
"Was redest du da, Grace? Ich könnte mich nicht glücklicher schätzen, dass du in meinem Leben bist. Ich kann und will mir kein Leben ohne dich vorstellen. Du bist mein Ein und Alles, Gracie. Ich weiß, dass wir es nicht immer leicht im Leben hatten und es tut mir auch unglaublich leid, dass du so leiden musstest in deinem jungen Leben. Das wäre das Einzige, was ich ändern würde."
Mir war nicht bewusst, wie Grace über diese Sache nachdachte. Mein Herz zuckte schmerzhaft zusammen. Niemand sollte denken, dass man nicht gewollt wird auf der Welt. Erst recht nicht meine kleine Schwester, die mir mehr als alles andere bedeutete.
"Aber wenn ich nicht wäre, dann wären wir nicht hier.", murmelte sie, während immer noch Tränen über ihr Gesicht liefen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass, wenn nicht jetzt, unser Vater uns zu einem anderen Zeitpunkt geholt hätte. Das ist nicht deine Schuld, Grace. Wer weiß, wie lange wir mit Bodyguards oder sonst was rumlaufen müsste, wenn er uns nicht jetzt geholt hätte. Das ist auch kein tolles Leben, oder?"
Sie schüttelte den Kopf. Aber das hätte auch genauso gut unser Leben werden können, wenn David sich wirklich um uns sorgte.
Ich setzte mich wieder neben Grace und nahm sie in dem Arm. "Es wird alles wieder okay, Grace. Das verspreche ich dir. Und wenn wir hier raus sind, dann reden wir noch mal darüber, wie wichtig du mir bist, damit du das ja nicht vergisst.", versprach ich ihr.
Nickend ließ sie ihren Kopf in meinen Schoß fallen. Automatisch begann ich, mit meiner Hand durch ihre Haare zu fahren. Das hatte ich auch immer gemacht, als wir noch jünger waren.
Wenn unsere Eltern sich mal wieder stritten und es durch unser großes Haus hallte. Als unser Vater uns verlassen hatte und wir das erste Mal in einer kleinen Wohnung das Bett teilten. Jedes Mal, wenn es ihr schlecht ging, war ich für sie da.
Aber wer war für mich da? Wenn es mir schlecht ging?
War es nicht auch mal für mich an der Zeit, jemanden zu haben, der sich um mich sorgt? Der sich um mich kümmert?
Jemanden wie David?
Am Anfang war er wirklich unausstehlich. Aber seit der Sache mit meinem Vater hat er wirklich Interesse an meinem Wohl gezeigt. Oder war das auch nur gespielt wie alles andere in unserem Leben?
All diese Fragen und Zweifel an allem, was in meinem Leben passiert und passieren wird, war einfach zu viel für mich. Klar, die Zukunft war immer ungewiss. Für jeden von uns. Aber das war einfach zu viel.
Die Tatsache, dass ich immer noch Davids Jacke anhatte und sie unglaublich stark nach ihm roch, machte alles nicht einfacher.
Ich atmete seinen Geruch tief ein. Warum hatte ich ausgerechnet heute seine Jacke schnappen müssen? Ich war so in Eile und Sorge um Grace, dass ich es einfach nicht mitbekommen hatte.
Wie dumm konnte ich eigentlich sein?
Grace war mittlerweile leise am Schnarchen. Das Streicheln ihrer Haare hatte sie wie erwartet total entspannt. So wie es sein sollte. Wenn ich schon nicht entspannen konnte, dann wenigstens sie.
Das Zimmer wurde immer kühler, weswegen ich eine der Decken nahm und Grace damit bedeckte. Hoffentlich würde sie nicht auch schwimmen, während ihr Kopf in meinen Schoß lag.
Weil es kälter wurde, zog ich an Davids Jacke und inhalierte seinen Geruch. Es war momentan scheinbar das Einzige, das mich ansatzweise beruhigte. Dann fiel mir auf, dass die linke Seite seiner Jacke schwerer war als die rechte.
Mein Vater war kein dummer Mann. Wie kam es, dass er die Jacke nicht durchgeguckt hat? Oder hatte er das?
Ich griff in die Jackentasche und erfüllte etwas Kaltes. Sein Portemonnaie.
Mein Handy hatte ich schon lange nicht mehr. Wenigstens das hatte mein Vater aus dem Entführerhandbuch richtig gemacht.
War in seinem Geldbeutel etwas, was uns hier raus helfen könnte?
Das schwarze Leder verriet, dass Davids Portemonnaie schon so einiges mitgemacht hat. Mich wunderte es auch nicht, dass es ausgeleiert war, denn selbst gerade hatte es mehrere Hundert Euro darin.
Bonze.
Aber das war ich jetzt auch.
Doch das Interessanteste in seiner Geldbörse war nicht die Menge an Geld oder die vielen Kreditkarten. Es war ein Bild.
Ein Bild von David und mir als Kinder.
Wir beide trugen schicke Kleidung. David hatte einen Anzug an und ich eines dieser hässlichen, aber teuren Kleider, in die mich meine Mutter gezwungen hatte. Ich bin vielleicht um die sechs Jahre alt und David so neun oder zehn. Ich kann mich noch an den Abend erinnern.
Meine Eltern hatte mich in das Kleid gezwungen, meine Haare machen lassen, ich trug sogar Make-up. David war ausnahmsweise mal recht nett zu mir an dem Abend. Ein ganz normaler Abend eigentlich. Einer der besten Abende zu der Zeit ehrlich gesagt.
Das Bild zeigte uns beide an einem dieser guten Abende, an denen mich David mal nicht zur Weißglut trieb. Ich hatte ein großes Lachen im Gesicht, weil David einen Witz über einen der Gäste gemacht hatte. Sein Arm war um meine Schulter gelehnt und er schaute im Gegensatz zu mir nicht in die Kamera.
Er schaute mich an.
Mit einem riesigen Lächeln im Gesicht.
Bei unserer Hochzeit hatte er etwas in seiner Rede erwähnt. Dass er als Neunjähriger im Auto mit Victoria und Hannes war und meinte, er würde mich später mal heiraten. Im Foto war er auch etwa neun Jahre alt.
Aber das konnte nicht sein, nein.
Er hat mich damals nicht gemocht. Im Gegenteil. Er hat mich doch ständig geärgert. Warum machte er dann so etwas? Warum hatte er so etwas gesagt?
Ich schüttelte meinen Kopf, als würde ich meine Gedanken wegschütteln können. Das war gerade definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um mir über Davids und meine Beziehung zu sorgen. Wenn es so etwas überhaupt gab.
Hastig packte ich das Foto von uns wieder in sein Portemonnaie, dass ich dann wieder in die Jackentaschen steckte. Ich würde darüber keine weiteren Gedanken mehr verschwenden. Es gab gerade Wichtiges als das.
Plötzlich formte sich ein großer Kloß in meinem Hals und ich spürte, wie mir die Tränen kamen. Das war einfach zu viel für mich.
Es war eine Zeit her, seit ich das letzte Mal geweint habe. Aber ich konnte nicht mehr. Das hier gab mir den Rest. Ich stand an einer Klippe und das hier war der letzte Stoß.
Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf meine Atmung.
Durch die Nase einatmen, halten, durch den Mund ausatmen, halt.
Alles wird okay.
Durch die Nase einatmen, halten, durch den Mund ausatmen, halt.
Wir kommen hier wieder raus.
Durch die Nase einatmen, halten, durch den Mund ausatmen, halt.
David wird uns retten.
Oh Gott, da war er wieder.
Warum war er immer in meinem Kopf?
Ich will das nicht mehr.
Das hat er nicht verdient.
Das habe ich nicht verdient.
Plötzlich hörte ich einen Lärm auf der anderen Seite der Metalltür. War das überhaupt möglich, so dick, wie sie war? Da wollte ich gar nicht wissen, wie laut es wohl auf der anderen Seite war.
Aber was war da los?
Ich schüttelte Grace leicht, damit sie aufwachte.
"Was ist los?", nuschelte sie noch immer halb am Schlafen.
"Ich weiß es nicht. Ich höre nur mehrere Stimmen laut rufen.", erklärte ich. Grace Augen weiteten sich.
Sie sprang auf und schlug mit der flachen Hand gegen die schwere Tür. "HILFE!"+
Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob das wirklich eine gute Idee war, stellte ich mich zu ihr. Ich hoffte einfach nur, dass sie Personen auf der anderen Seite nicht schlimmer waren als unser Vater.
Ich hämmerte mit der Seite meiner Faust auf die Metalltür ein ebenso wie Grace. "HILFE! WIR BRAUCHEN HILFE!"
Die Stimmen wurden immer lauter, bis wir den Schlüssel im Türschloss drehen hörte.
"Oh mein Gott.", hauchte Grace, als wir von der Tür wichen, die sich in den Raum öffnete.
Auf der anderen Seite standen uniformierte Polizisten. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr über die Polizei gefreut. Sonst waren sie ja nicht die vertrauenswürdigsten Menschen.
"Claire! Gracie!"
"Oh mein Gott!" Sofort lief in Davids Arm, als ich ihn sah. "Ich hab dich so vermisst.", murmelte ich an seine Brust.
"Claire, ich muss dir was sagen." Ich schaute David erwartungsvoll an. "Ich-ich-"
~~~
Was ist euer Lieblingstier?
Es wird spannend 😍 nur noch 3 Kapitel, was glaubt ihr, was noch passiert? Und was will David sagen? 😏
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro