Wir müssen weiter!
Die mansische Hütte bot nur wenig Platz und war mehr ein Stall mit Wohnbereich. Die Besitzerin wurde Bashuna genannt. Ihr vom Leben und Alter zerfurchtes Gesicht hatte viel erlebt. Einen Mann hatte Bashuna überlebt und auch zwei ihrer fünf Kinder. Dennoch strahlte das Gesicht der Frau eine besondere Freundlichkeit und Zuversicht aus. Hierzu kam in diesen Tagen auch ein Gefühl des Stolzes.
Stolz und ein gewisses Maß an Ehrerbietung für ihre Gäste. Es kam nicht oft vor, dass ein Haus die drei Erwählten des Mansenvolkes zeitgleich in seinen Wänden begrüßen konnte. Üblicherweise hielten sich die Erwählten in verschiedenen größeren Siedlungen über das Jahr auf und kamen nur für die Erwählten- Wanderung im Frühjahr und Herbst zueinander.
Lonok war mit Bashuna sehr gut bekannt. Er suchte sie regelmäßig auf, brachte Nachrichten aus den anderen Siedlungen mit und gab Hoffnung und Zuversicht in Gesprächen- so, wie es allen Erwählten eigen war. Vielleicht war auch diese Art Mensch mit ihren besonderen Eigenschaften, welche Bashuna schätzte. Insbesondere jetzt, in diesen langen Wintertagen, welche mehr Dunkelheit und Kälte hatten als Licht und Wärme. Gutgemeinte Worte voll Zuversicht waren auch Bashuna da sehr willkommen.
Und auch diese junge Frau hatte etwas besonderes an sich. Sie sah nicht aus wie eine Mansin, eher wie eine der Russinen von jenseits des Ural. Doch sie sprach das Mansi fließend und akzentfrei- wie eine von ihnen. Und die junge Frau wirkte auf die lebenserfahrene Bashuna wie ein "warmer andauernder Sonnenschein"- so hatte Bashuna es Lonok gesagt. Die junge Frau, die von allen Erwählten hoch geschätzt- ja fast ehrfurchtsvoll verehrt wurde- war auch der alten Bashuna vom ersten Moment des Besuches in ihrer Hütte willkommen. Und dies aus tiefstem Herz und nicht nur, weil der jüngste Erwählte Bors sie zu ihr brachte.
Nachdem auch Lonok eingetroffen war, kam nun heute am Tag auch Relan und ein weiterer Manse als sein Begleiter noch hinzu.
Umtriebig bewirtete Bashuna ihre vier Gäste. Sie bot Tee an, Trockenfrüchte und eine warme Suppe aus wintergelagerten Rüben mit großen Stücken Hühnerfleisch. dennoch beschämte es Bashuna, nicht mehr oder besseres auf den kleinen Tisch bringen zu können. Selbst die erkennbare und ehrliche Dankbarkeit der Gäste schien Bashuna darüber nicht hinweg zu trösten. Nach dem Essen räumte Bashuna den Tisch frei, das nur noch die Teebecher dort standen.
Eng gedrängt saßen die Gäste nun um den Tisch. Lonok ergriff das Wort:
"Ihr wisst alle um was es geht. Wir benötigen eine sichere Zuflucht- nicht mehr und auch nicht weniger! Und wenn ihr in Euch geht, dann wisst ihr es- Relan, Bors. Ihr wisst es ebenso, wie ich. Die Zuflucht, welche wir finden müssen, kann nun nicht mehr bei Uns sein."
Lonok gab einen nachdrücklichen und ernsten Blick an Relan und Bors. Relan nickte nach einem Moment des Innehaltens zustimmend. Bors schien auch seiner innerer Stimme zu folgen. Er senkte erst den Kopf, um sich dem Augenkontakt von Lonok zu entziehen, dass nickte auch er. Bors zustimmen wurde von einem langen Seufzer beim Ausatmen begleitet. Es schien fast so, als würde Bors in seiner persönlichen Enttäuschung darüber, traurig in sich zusammenrutschen.
Auch Lonok zeigte eine gewisse Enttäuschung. Er kniff seine Lippen aufeinander, dass am Kinn ein Grübchen in Falten gelegt erkennbar wurde. Dann fing er sich.
"Dennoch. Wir müssen nun besonnen sein- weiter denken. Wie Bors berichtet- und ich spüre es ebenfalls- ist die große Gefahr wohl für den Moment abgewendet. Doch wie lange? Keiner kann es sagen."
Hierbei warf Lonok einen Blick auf Marica, die Lonok voller Hoffnung anblickte.
"Wir müssen für Euch ein neues Obdach finden!", sprach Relan von der Seite ganz offen aus.
Die alte Bashuna hatte sich fest vorgenommen, die Besprechung der Erwählten nicht zu stören, aber als Bashuna erkannte, dass es um ein neues Zuhause für die junge Frau mit Namen Marica in dieser Unterredung ging, da konnte auch sie nicht an sich halten.
"Ein Obdach sucht ihr für das Mädchen? sie kann bei mir bleiben! So lang sie es möchte. Wie eine eigene Tochter soll sie mir sein. Und sollte ich irgendwann in die Welt der Geister gehen, so soll sie meine Hütte und all meinen Besitz bekommen- sollte ich ihr damit helfen. Das liebe Ding kann gern bei mir bleiben!"
Marica beschenkte die alte Frau mit einem liebevollen, dankbaren Lächeln.
Auch Lonok lächelte Bashuna zu- nicht abfällig, nein eher dankbar für diesen Einwurf. Lonok hatte sich in Bashuna und ihrer Güte nicht getäuscht. Schon aus diesem Grund war die Wahl auf sie gefallen- auch, weil ihre Hütte abseits der Mansensiedlung lag und dadurch weniger Gefahr bestand, zu viel Aufmerksamkeit auf Marica zu ziehen. Je weniger von dieser Unterredung erfuhren, desto besser.
"Bashuna, du gute Seele. Marica muss uns leider verlassen. Sie weiß es. Und wir wissen es leider auch. Wir hätten sie auch gern hier bei Uns behalten. Doch glaube mir- es muss sein. Wir müssen sie fortbringen- zu ihrer eigenen Sicherheit."
In Bashuna's Kopf arbeitete es. Die Erwählten sind weise. Wenn dies auch der Wunsch der jungen Frau ist, so wird sie Gründe haben. Vielleicht sucht sie Schutz vor einem grausamen Mann? So hübsch, wie sie ist, würde es Bashuna nicht wundern, wenn ihr ein Mann nachstellt- sie behalten versucht. Nein- soll sie Sicherheit finden. Die Erwählten wissen, was für das junge Ding gut ist.
Lonok wandte sich an Relan und seinen Begleiter- einen verwegen aussehenden Mansen um die vierzig Jahre mit dichtem, dicken Bartwuchs. "Und? Konntet ihr beschaffen, worum ich Euch gebeten hatte?"
Der Bärtige nickte zustimmend. Relan untermauerte dies. "Wir haben eine Urkunde- nicht die Beste. Aber mit Stempel des Rayon versehen. Damit wird sie genügen und neugierige Fragesteller - so denken wir- überzeugen. Ein ausgeblichenes Dokument haben wir auch. Das Foto ist kaum erkennbar- die Eintragungen auch kaum. Wenn wir wie besprochen handeln, sollte es jedoch zu der Geschichte passen. Yorik würde Euch mit dem Lastkraftwagen mitnehmen. Auch genügend Rubel konnten wir recht schnell und mehr als ausreichend zusammen bringen- Du weißt ja, wie die Leute zusammenhalten."
"Sehr gut!", lobte Lonok. "Es soll so sein, wie es Marica sagte: Wir dürfen nicht an der Vergangenheit festhalten. Wir müssen Angst und Traurigkeit bei Seite schieben. Wir haben nach vorn auf die Zukunft zu blicken und der Hoffnung einen neuen Platz einzuräumen. Also müssen wir- um Marica's Willen- auch weiter. Dies ist mit unberechenbaren Risiken verbunden. jeder von Uns weiß dies. So lasst uns weiter beraten."
Die Erwählten sprachen bei der Besprechung von Marica, wie von einer jungen Frau die um Hilfe ersucht hat. Niemand sprach sie nun mit Herrin an oder titulierte Marica als Göttin, solange weitere Personen anwesend waren. Ein solches Verhalten hätte nur für Irritationen und Unverständnis- vielleicht sogar für noch andere Unannehmlichkeiten sorgen können. Je weniger Dritte- wie Bashuna und der LKW- Fahrer Yorik- erfuhren, desto besser war es für alle Beteiligten dieser nicht ganz legalen Sache wohl. Das Leben und die Zukunft von Marica waren zu wichtig- nicht nur für die Göttin selbst- nein, auch für die Menschheit, die Natur und das Leben.
Lonok schilderte noch einmal - fast konspirativ und leise- den verwegenen Plan, als Yorik schon den Motor des Lastkraftwagen vorheizte und Bashuna die Tiere versorgte. Der Plan sah vor, Marica über normale Wege und Möglichkeiten weit nach Sibirien hinein zu bringen- mit falschen, kaum lesbaren Papieren und versehen mit einer glaubwürdigen Geschichte.
Folgender Ablauf war geplant: Über- Land mit Yorik bis nach Tjumen fahren. Dann mit der Bahn auf der transsibirischen Route bis Omsk reisen und von dort der Nordtrasse über Nowosibirsk bis nach Toischet. Über Irkutsk und den Verkehrsknoten Tschira weiter nach Nord- Osten- über Tynda mit der Jekutien- Bahn nach Nerjungi. Dort wird man dann irgendwie Anschluss nach Norden finden müssen.
Lonok hatte ein Ziel vor Augen und war entschlossen, diesen Plan so zu verwirklichen. "Am Baikal und hinter Tschita wird häufiger kontrolliert. Mit den Papieren- sie werden dafür hoffentlich genügen, mit unserer Geschichte- wird es schon gut gehen."
Mit 'unserer Geschichte' meinte Lonok seine Idee. Er würde als 'Großvater' das junge 'Paar', also Bors und Marica, bis zu Bors Verwandtschaft begleiten. Da Bors ein Turk- Stämmiger war und Marica als 'Russin' aus dem europäischen Teil der Sowjetunion durchging, sollten sie auf Nachfrage darstellen, dass sich das 'Paar' beim Studium in Tjumen kennengelernt hat und nun die Hochzeitsreise mit dem Großvater zu den verwandten Turk- Stämmigen im Osten macht, um die Braut dort zu zeigen. Als Beweis dafür habe man ein traditionelles Braut- Gewand im Gepäck. Danach wollen sie Marica's vermeintliche Schwester in Komsomolsk besuchen. Dort jedoch wollen Sie nicht hin letztlich.
Lonok wollte bei dem Turkvolk der Ewenen, Tunkusen oder Dolganen- welche allesamt als Jakuten in der östlichen Republik Sacha lebten im Grenzbezirk zur Republik Chabarowsk mit Schamanen sprechen und für Marica eine sichere neue Heimat finden. Mehr nicht. Sei dies gelungen, würden die zwei erwählten zu ihrem Volk zurückkehren. Dann jedoch würde man nur noch den heiligen Ort- das Tschum- aufsuchen können in der Zukunft. So traurig dies auch sei- ohne die dortige Herrin. Marica wird dann in Sibirien als Zolotaya Baba ein neues Leben unter dem Schutz der Schamanen finden.
In Sibirien leben unter den Jakutenstämmen viele Teilvölker, welche noch mit ihren Schamanen den alten Glauben der Allbeseeltheit leben, wie auch die Mansen hierzulande am östlichen Uralgebiet in den Wäldern. Dort wird Marica Schutz erhalten. Man muss nur die Schamanen überzeugen, dass Marica die wiedergeborene Tengri nach Auffassung der Mansen ist. Dies wird die schwere Aufgabe der Reise. Nur wenige Schamanen werden dafür zu überzeugen sein.
Yorik schaute in die Hütte herein. Leichtes Schneetreiben folgte dem Öffnen der Tür, blieb jedoch an der als Windfang aufgehangenen dicken Wolldecke zum großen Teil liegen. "Wir könnten dann losfahren. Ich bin soweit. Und wenn uns nichts aufhält, könnten wir bei der Schutzhütte in Netritschk zum Abend ankommen. Dann kommen wir bis morgen auf die Straße nach Tjumen."
Obgleich alle wussten, dass der Abschied bevor stand- Abschied ist immer schwer. Relan war von Traurigkeit erfasst, Lonok und die Herrin mit Bors allein auf die weite Reise zu verabschieden. Noch dazu, wo es ein Abschied für immer von Herrin Marica war.
Und auch Bashuna schien es schwer um ihr Herz. Ohne lang zu fragen, zog sie Marica an sich und drückte sie fest. "Lauf, Mädchen. Komm aber wieder, wenn die Sache ausgestanden ist. Was immer dich fortzieht, vergiss mich nicht."
Marica war von der Herzlichkeit der alten Frau sehr angetan. Sie blickte Bashuna tief in die Augen, also wollte sie der alten Frau die Sorgen nehmen. Und auf für Bashuna unerklärliche Weise gelang es Marica auch. Bashuna verspürte eine Art von wohltuender Wärme und Zuversicht, als die junge Frau ihr zum Abschied in die Augen und die Seele blickte.
Bors und Yorik hatten schon einen Koffer und einige Taschen zum LKW geschleppt und verstaut. Vier Leute mussten in dem Fahrerhaus auf engem Raum auskommen.
Lonok sah Relan an. "Wir müssen weiter, alter Freund. Es wird schon gut gehen. Gesundheit wünsche ich Euch. Auf ein Wiedersehen."
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