Rechtfertigung
Nikolai Woronzow hatte den großen Vorzug, in Swerdlowsk nicht nur eine der neu fertiggestellten Neubauwohnungen erhalten zu haben. Das Besondere war, dass Woronzow's Wohnung sogar mit einem Telefonanschluss versorgt war. Dies machte ihn zu einem Anwohner hervorgehobener Stellung, denn soweit Woronzow in Erfahrung gebracht hatte, hatten in der gesamten Wohneinheit nur noch zwei weitere Personen ein Telefon. Dies waren die Chefbuchhalterin des Kombinat Metshestwo und der Parteisekretär des Staatlichen Postamt Swerdlowsk.
Woronzow hatte auf Grund seiner beruflichen Stellung ein Telefon angeschlossen bekommen, denn mit seinen achtunddreißig Jahren war er einer der jüngsten Absolventen der Moskauer Führungsakademie der Sicherheitsorgane der Sowjetunion. Die Akademie ist international besucht- nur mit einem Abschluss der Akademie hatte man die Berechtigung zum höheren Offiziersdienstgrad.
Man hatte ihn frühzeitig zum KGB geworben. Sein Vater war ein hohes Parteimitglied. Und er hatte selbst bislang keine Gelegenheit, eine Familie zu gründen. Nicht aus Mangel an Gelegenheiten- eher, weil ihm die Karriere und ein schneller Aufstieg wichtiger waren. Auch wenn er sich hier in Swerdlowsk fast strafversetzt fühlen musste mit seinen Qualifikationen- die schnelle Beförderung zum Oberstleutnant hatte die Versetzung versüßt. Man wollte Woronzow nicht nur hier halten auf seinem Posten als Leiter der Inlandsaufklärung des Oblast- es gab noch Luft nach oben, wenn man sich keine Fehler leistete.
An diesem Abend des 19. Februar 1959 hätte er sich jedoch gewünscht, kein Telefon zu besitzen. Er hatte es sich schon auf seinem Sofa bequem gemacht und gelesen. Hierbei hatte ihn die Müdigkeit irgendwann übermannt.
Nun jedoch wurde er durch das schrille Klingeln unliebsam aus dem Schlaf gerissen. Halb benommen setzte er sich auf und rieb sich kurz und fest sein Gesicht wach. Mehrfach riss er dabei die Augen weit auf, um wieder zur Konzentration zu finden.
Anrufe- selbst zu diesen Abendstunden- waren für den Offizier keine Seltenheit. Oftmals wurde er nur über Sachlagen unterrichtet oder ein wenig entscheidungsfreudiger Unterstellter wollte sich rückversichern. Manchmal gab es Vorkommnisse mit jungen Rekruten oder Armeeangehörigen, die auf Urlaub oder in der Freizeit über die Stränge schlugen.
Doch heute war dies anders.
"Woronzow.", meldete sich der Offizier kurz angebunden und fast fragend.
"Genosse Oberstleutnant? Leutnant Markow hier, Offizier vom Dienst. Soeben ist der Genosse Generalmajor vorgefahren und bei mir im Diensthabenden- Zimmer erschienen. Der Genosse Generalmajor erbittet Ihre sofortige Anwesenheit! Hier in der Zentrale. Und ich soll Ihnen sagen, dass dies keine Alarmierung ist."
"Gut. Ich mache mich fertig. Bin auf dem Weg, falls einer fragen sollte. Dreißig Minuten werde ich aber brauchen. Hat der Genosse General Semtzyn gesagt, worum es geht?"
"Nein Genosse Oberstleutnant. Nur das sie kommen sollen."
"Also dann. Bis nachher."
"Jawohl. Und entschuldigen Sie die Störung." Mit dieser Bestätigung beendete der Offizier vom Dienst das Telefonat.
Nikolai Woronzow schlüpfte in seine Stiefel. Insgeheim hoffte er, dass sie sich nicht auf den Wegen am Haus zu sehr verschmutzten, wollte er dem General gut gepflegt entgegentreten.
Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch, kaum das Woronzow vor das Haus getreten war. Man hatte zwar diese angenehmen Wohneinheiten gebaut, allerdings nur die Baugruben um die Häuser mit Erde verfüllt und keine richtigen Wege bis zur Straße angelegt. So musste er durch diesen Misch- Masch aus Schnee und teilweise gefrorenen Schlamm seinen Weg zu seinem Auto vom Typ Wolga finden, wobei es fast aussichtslos war, nicht Dreck an den Stiefeln davon zu tragen. Erst beim Einsteigen ins Fahrzeug klopfte er das Gröbste davon ab, indem er die Stiefelsohlen aneinander schlug.
Die Fahrt zur Zentrale war um diese Zeit angenehm. Bis auf mehrere Trolley- Busse der Hauptlinie zum Wohngebiet war kaum Bewegung auf Straßen und Gehwegen. Die Winternächte luden nicht zum Verweilen auf den Promenaden ein. Dennoch huschten hier und dort einige menschliche Gestalten im Scheinwerferlicht vorbei.
Ein Rekrut als Einlassposten öffnete die Schranke zum Innenhof der KGB- Zentrale und entbot die Ehrenbezeigung. Mehrere andere Wachen schauten durch das Fenster des Wachhäuschen, um zu sehen, wen es hier mitten in der Nacht ins Gelände trieb. Normalerweise hätte auch Woronzow seinen Dienstausweis zeigen müssen, doch sein Rang hatte den Vorteil, dass die Wachhabenden sowohl ihn und sein Fahrzeug bereits kannten. So parkte er im Innenhof und ging durch den Hintereingang in das Treppenhaus.
Im Foyer saß ein junger Leutnant an einem Schreibtisch. Er trug eine rote Armbinde, die ihn als Offizier vom Dienst auswies. Er bemerkte Woronzow, sprang sofort auf und nahm Haltung an. Dann erklärte er sich.
"Genosse Oberstleutnant. Ich hatte Sie angerufen. Ich bin Leutnant Markow. Generalmajor Semtzyn befindet sich in seinem Arbeitszimmer. Sie sollen bitte sofort zu ihm kommen."
"Ja, ja. Ich weiß Bescheid, Genosse. Bin ja hier zu Hause."
"Jawohl!"
Woronzow stieg die Treppen hinauf in das zweite Obergeschoss. Lautes Klacken seiner Stiefel hallte in dem um diese Zeit leeren Gebäude wieder.
Generalmajor Semtzyn war für seine Unterstellten ein schwieriger Charakter. Man erzählte sich die wildesten Geschichten über ihn und wenn nur ein Viertel der Gerüchte der Wahrheit entsprachen, so war er zuweilen jähzornig und voller Ärgernis darüber, in dieser Abgeschiedenheit Mittelrusslands auf den Ruhestand warten zu müssen. Er hatte in der Vergangenheit größere Pläne für sich selbst. Dies hatte ihn jedoch in der Moskauer Zentrale des KGB zu einem unliebsamen Miteiferer um Posten gemacht. Während der General wohl keine Karrieremöglichkeit mehr hatte, stand Woronzow noch vieles offen. Man musste nur auf sich aufmerksam machen und parteitreu die Linie mitfahren.
Er klopfte, trat in das Vorzimmer. Um diese Tageszeit war dort keine Vorzimmerdame. Die Tür zum Chef war einladend offen.
"Woronzow? Sind sie das?", dröhnte von dort die Stimme des Generals.
"Jawohl Genosse Generalmajor."
"Kommen sie herein- und bringen sie sich eine Tasse mit. Ich habe uns Tee bringen lassen."
Wie erbeten, nahm Nikolai Woronzow diese Einladung an. Wenn 'der Alte' so gut aufgelegt scheint, so sollte man dies ausnutzen für sich.
"Komm herein, Nikolai Iwanowitsch. Nimm Platz."
Semtzyn rauchte genüsslich eine- in Woronzows Sinnesorganen furchtbar riechende- Zigarre. Hierbei saß er in deren Dunstwolke. Niemand hätte vermutet, dass der General erst kurz in seinem Zimmer ist, man hätte mutmaßen können, dass er seit Stunden in dieser Dampfwolke auf seinem Thron am Schreibtisch festsaß.
"Sie haben mich rufen lassen? Was gibt es, wenn ich so frei heraus fragen darf?"
Der General nickte. "Operation Wetterleuchten. Haben Sie da jetzt schon ein Rückmeldung unserer Agenten? Wie ist der Sachstand der Operation?"
Woronzow war nun doch etwas unwohl. Die Operation hatte noch immer keine Vollzugsmeldung- war im Ergebnis offen. Warum auch immer, niemand hat sich bislang dazu erklärt. Keine Kontaktleute und auch nicht die drei eingesetzten Agenten- keiner hatte sich gemeldet.
Woronzow zog es daher vor, etwas zu taktieren. Er nippte an dem heißen Tee.
"Und? Was gibt es zur 'Operation Wetterleuchten' zu berichten?"
"Offen gestanden: Nichts! Genosse Generalmajor, wir haben in unserer Operationsabteilung zwei Leute abgestellt, die auf die Kontaktaufnahmen der Agenten warten. Aber sie haben sich noch nicht gemeldet. Zumindest nicht bis heute Nachmittag- Stand siebzehn Uhr."
"Und? Beunruhigt Sie das nicht in Anbetracht der zugewiesenen Wichtigkeit der Operation als Stufe II?", hakte der General nach.
"Nun. Die Mitarbeiter der Operationsabteilung habe ich angewiesen, sofort bei Erkenntnisgewinn an mich Nachricht zu geben. Doch wie ich schon sagte: Die Agenten antworten nicht. Beunruhigt bin ich schon, aber wenn man den Quellen glauben kann, hat oben im Ural über Tage ein Schneesturm gewütet. Dies wird die Gruppe und die Agenten vielleicht gezwungen haben, auszuharren. Eigentlicher Meldetag war der 16. Februar, spätestens am 17. Februar sollten sie zu Uns Kontakt aufnehmen von einer Telegraphen- Station. Zumindest laut Plan. Naja und heute ich der 19.Februar. Wenn es Verzögerungen gab- und damit war absehbar zu rechnen- werden sich die Agenten erklären, soweit wir Kontakt bekommen. Erst dann erfahren wir, ob die Übergabe vollzogen wurde zu den ausländischen Agenten. Warum fragen sie?"
Generalmajor Semtzyn lehnte sich zurück.
"Wissen Sie, warum ich hier bin, Genosse Oberstleutnant?"
Semtzyn taxierte mit einem Blick den jungen Offizier.
Woronzow schwieg. Er wusste es nicht- auch nicht, warum er selbst in dieser Nacht her zitiert wurde.
"Ich sag es Ihnen. Ich hatte eine Unterredung mit einem Genossen, dessen Namen ich Ihnen nicht nennen möchte. Nur soviel- der Genosse ist jemand, den selbst ich nicht abzuweisen wage, wenn das Telefon klingelt. Ein Ranghöherer bei der Roten Armee, Abteilung 'Besondere Angelegenheiten'. Dieser Mensch forderte von mir eine Erklärung, wie es sein kann, dass WIR eine von seinen Operationen unterminieren und er fragte mich direkt, wie es denn bei UNS sein kann, dass die eine Hand nicht weiß, was die andere Hand macht. So soll von der KGB- Leitstelle in Ufa ein Operationsbefehl vorliegen, der einen Agenten- Einsatzbefehl für einen Militärischen Test absichert. Und zeitgleich führen WIR eine Operation in gleicher Lage des Ural durch."
Woronzow wurde bleich. Wenn dies stimmte, dann kann dies den Erfolg der 'Operation Wetterleuchten' gefährdet haben. Sollte man wirklich so damit beschäftigt sein, Geheimnisse für sich zu behalten, dass es zwischen der Armee und dem KGB wieder einmal eine Reibungsfläche gab? Das wäre fatal- noch dazu bei der Wichtigkeit der 'Operation Wetterleuchten', die mit Vorrang die Moskauer Interessen umsetzen sollte.
"Aber dann hat sich die Armee in unsere Angelegenheiten eingemischt, wenn sie es wissen sollten!", rechtfertigte sich Woronzow.
"Oder Wir uns in deren Angelegenheiten. Das wäre der erste Fall innerhalb unserer Sowjetunion, sollte sich das bestätigen, dass der militärische Geheimdienst, die Inlandsaufklärung und die Auslandsspionage so nahe operierte und - sollten nicht bald Erkenntnisse unserer Agenten vorliegen, die UNS Erfolg bescheinigen- ein komplettes Versagen aller Dienste bedeuten könnte. Verstehen Sie mich da? Genosse?"
"Jawohl Herr General."
"Gut. Soweit dazu."
"Ich werde mich persönlich am morgigen Tag darum kümmern und unserer Operationskontrolle Feuer machen. Ich werde um schnelle Ergebnisse und Klärung der Sachlagen kämpfen."
"Oh, da bin ich mir sicher.", sprach der Generalmajor zynisch.
Woronzow stellte sein Teeglas ab und stand auf, nahm Haltung an. Er hatte nun wohl seinen Auftrag- und auch eine sinnbildliche Ohrfeige, in Worte gehüllt, bekommen.
"Ach und Woronzow? Lenken Sie bitte auch ihre Aufmerksamkeit am morgigen Tag auf das UPI. Wie mir Jemand zugetragen hat, soll es im Sportklub des Institutes morgen eine 'außerordentliche Sitzung' geben. Gegenstand dort ist wohl die Überfälligkeit einer Ski- Wanderungs- Expedition des Sportklubs zu Ehren des XXI. Parteitages unserer KPdSU. Sorgen Sie dafür, dass dort jemand von Uns dabei ist und wir dieses Mal die Entwicklungen nicht verschlafen. Wir- oder besser Sie, Genosse Oberstleutnant- können uns bei Operation Wetterleuchten nicht noch einen Patzer erlauben."
Schlimmer ging es für Woronzow nicht. Nun hatten wohl andere noch mehr Informationen als er und die Operationsabteilung von 'Wetterleuchten'. Wenn publik wird, was der KGB hier angeschoben hatte, konnte dies bereits das Ende seiner noch jungen Karriere beim KGB sein und man würde ihn umsetzen oder degradieren. Wo hatte der 'Alte' nur wieder seine Zuträger. Was für eine Katastrophe für Woronzow selbst.
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