Ein Geheimnis wird gelüftet
Eisige Winde rüttelten an der Wand des kleinen Zeltes. Bei minus 35 Grad Celsius war diese sibirische Winternacht eine Herausforderung.
In der Enge des Zeltes hatte man das 'Abendessen' eingenommen. Trockenfleisch, Kompleckte- Brot aus drei Metalldosen, Dosenfisch mit einer Tunke aus Oel und Tomatensoße. Das Einzige, was wirklich gut und schnell in den Magen herunter kam, schien der Schluck Wodka zu sein, auch wenn dieser eiskalt und aus einer Feldflasche herumgereicht war.
Kleine Lichtkegel von Taschenlampen huschten hin und her.Man besprach den kommenden Tag, den 1. Februar 1959, und was man sich für ein Ziel zutrauen durfte.
Würde sich dieses unbeständige, stürmische Wetter halten- und davon musste im schlimmsten Fall derzeit ausgegangen werden- so würde eine Überquerung des vor Ihnen liegenden langen Passes in das benachbarte 'Loswa'- Tal hier am Cholat Sjachl- dem Berg des Todes, wie ihn die Mansen nannten- in einem Tag zu schaffen sein. Dazu müssten die 3,5 bis 4 Kilometer über den Pass früh und beherzt angegangen werden. Tagesziel sollte dann das Nachbartal sein, wo man gegen vier Uhr nachmittags ein neues Lager errichten musste.
Juri Olbekin führte sein Tagebuch der Expedition fort. Mit einem Bleistift schrieb er die Festlegungen zum nächsten Tag in sein Heft. „Alle sind guten Mutes und bei guter Gesundheit. Ich bin zuversichtlich, dass wir morgen diesen Pass am Cholat Sjachl queren können."- fügte er am Ende seines Tagesberichts hinzu.
Unwohl fühlte er sich schon dabei. Juri war dafür bekannt, ein äußert korrekter Mensch zu sein. Er konnte hier und jetzt allerdings nicht offen darüber Notizen machen, dass man das 'Auspija'- Tal bewusst ausgewählt und die Strecke dann genommen hatte. Schließlich hatte man den mansischen Wanderführer über die Wegstrecke einvernehmlich getäuscht. So hatte Juri Olbekin vor zwei Tagen eingetragen, dass man auf Grund der starken Winde vom Weg abgekommen sei, jedoch einen guten Lagerplatz gefunden habe. Und für Gestern hatte er ebenfalls bei den Eintragungen geschummelt. Er beschrieb hier unwegsames Gelände und Fichtenwälder im Bericht. Von dort habe man sich über einen Berg-Grad bei schlechter Sicht bewegen müssen. Man sei nach dem Kartenmaterial auf dem Berg-Grad zum 'Auspija'- Tal, welches in südwestlicher Richtung erkannt wurde. „Nur auf Grund schlechter Sichtverhältnisse, starken Windes und einbrechender Dunkelheit wurde entschieden, das Lager in einem geschützten Tal südlich und nahe der Bergkette zu errichten."- stand hier geschrieben.
Insgeheim hoffte Olbekin, dass man ihn hierüber nicht um Erklärungen bitten würde.
Eng aneinander lag man im Zelt. Jedes Stück des vorhandenen Platzes war ausgenutzt.
Die Teilnehmer der Tour mussten zwar Flüssigkeit zu sich nehmen- aber in Anbetracht dessen, dass man für sein 'Geschäft' zum einen Unruhe und Bewegung in das Zelt brachte und dort draußen mit großer Kälte zu rechnen hatte, versuchten sich alle ab dem Abendessen mit dem Trinken zu zügeln.
Viktor Oribatow drehte sich in seinem Schlafsack auf die andere Seite, in der Hoffnung so besser ruhen zu können. Hierbei streckte er sich kurz aus, wobei er den Tornister- Rucksack von Natasha Sobitowa mit den Füßen wohl umstieß.
Ein lautes Scheppern zeugte davon, dass am Fußende Natasha's Rucksack umkippte und sich der Inhalt zu den Füßen der Ruhenden verteilte.
„Ach Viktor! Was bist du ungeschickt!", sprach Julia Radonowa ins Dunkel des Zeltes. „Warte Natasha. Ich leuchte Dir. Nicht dass deine Sachen bei der Kälte Schaden nehmen."
Fluchs und behände richtete sich Julia auf und öffnete den Reißverschluss ihres Schlafsackes. Heraus kam ihre Hand mit der Taschenlampe, welche sofort von Julia angeschaltet wurde, um den Schaden zu Natasha's Füßen zu begutachten.
Auch Natasha Sobitowa richtete sich nun auf. Fast hektisch versuchte sie, ihre Hände schnell aus dem Schlafsack und der Wärme darin herauszuholen.
Doch der 'Schaden', wie Julia es nannte, war da schon eingetreten.
Julia Radonowa kannte sich zwar nicht besonders gut mit Fototechnik aus, jedoch was ihr hier ins Auge stach war ein Fotoapparat, der nicht bislang auf der Expedition für die Dokumentationen genutzt worden war. Er war so groß, wie ein normaler Fotoapparat, hatte jedoch ein sehr teuer wirkendes längeres Objektiv.
Schon hatte Julia den Apparat in der Hand und befunzelte ihn mit dem Lampenlicht.„Was ist das für ein Stück, Natasha? Sieht ja furchterregend und teuer aus?"
„Lass! Gib schon her. Ich will ihn gleich verstauen, bevor er kaputt geht.", fauchte Natasha unfreundlich.
Da Julia jedoch wie gebannt das Gerät bewunderte und begutachtete und zudem- „Lass es mich doch wenigstens einmal besehen!" - sprach, hatte auch Wassili Koroljow einen Blick auf den Fotoapparat, um zu erfahren, was seine Angebetete da so beeindruckte.
Auch der 'Boxer', Sasha Resutkin, bekam die Kamera zu Gesicht. Sasha verstand sich nicht nur auf das Spielen der Mandoline oder darauf, im Boxring ordentlich auszuteilen- er erkannte ebenfalls, dass sich hier ein Technik-Schatz in der Ausrüstung von Natasha befand.
„Beim Bart meines Großvaters- ein Teleobjektiv. Und dann noch auf solch teurer Kamera? Bist mutig, so etwas Wertvolles hierher mitzunehmen. Die Kamera kostet mehr Rubelchen, als ich in zwei Jahren als Ingenieur verdiene.", sprach der 'Boxer'.
Er hätte schweigen sollen.
Denn kaum hatte Sasha dies ausgesprochen, waren auch der 'Franzmann' und Juri Olbekin interessiert, um was es hier ging.
Juri kannte jedes Stück der Ausrüstung, welches dem Expeditions- Team durch das UPI- Institut bewilligt worden war. Auch Kameras hatte er selbst dem Forschungsrat in zähen Verhandlungen in großer Stückzahl abgerungen- zehn Stück, um genau zu sein, sowie reichlich Filme. Und man hatte ihm gedroht, darauf aufpassen zu müssen. Ein Ratsmitglied des Komitee hat sogar gedroht, ihn als Leiter der Expedition in Regress- also in eine persönliche finanzielle Haftung- zu nehmen, sollte der Technik etwas geschehen.Und Natasha? Sie schleppte in ihrem Tornister eine Kamera, deren aktuellen Preis man nicht einmal beziffern konnte, so wertvoll war sie.
Sofort war Juri Olbekin, aber auch Sasha Resutkin und Wassili Koroljow klar, dass hier irgendetwas nicht so recht stimmen konnte.
„Natasha? Woher hast Du DIE denn?", fragte Wassili, noch bevor Juri oder ein anderer des Teams fragen konnte.
„Julia? Komm- zeig sie mir mal näher!", forderte ein begeisterter Sasha.
Julia war ein wenig verdutzt, weil Natasha ihr gegenüber so aufgebracht und bereits nervös wirkte. Sie wollte nicht, dass die Kamera in dem kleinen Zelt die Runde macht und von Hand zu Hand geht.
„Gib schon her!", forderte Natasha forsch.
„Nein Natasha." Juri Olbekin wollte es jetzt auch genauer wissen. „Vielleicht kannst Du es mir ja erklären? Wie kommt eine so hochwertige Kamera in denen Besitz? Und wo wir schon dabei sind- wenn dies deine Kamera sein sollte, was bewegt dich dazu, dieses gute Stück hier mit her zu nehmen, wo doch jeder von uns weiß, dass es bei gefährlichen Wetterlagen schnell auch einmal zum Verlust von Ausrüstung kommen kann? Ich glaube genauso wenig wie Sasha oder Julia daran, dass du dir leisten kannst, so eine teure Kamera notfalls zurück zu lassen."
Natasha sah sich in Erklärungsnöten- jetzt noch umso mehr.„Die Kamera ist nur geliehen. Ich wollte ein paar schöne Aufnahmen machen, wenn wir oben in den Bergen sind."
„Niemand, den ich kenne, könnte ich dazu bewegen, mir so eine Kamera zu leihen. Mich haben auch viele angesprochen, ob ich einige Aufnahmen machen kann! Und dafür haben wir ja vom UPI die Standartgeräte bekommen. Und mal ehrlich- wen kennst Du, den wir auch kennen, der Dir für unsere Expedition so ein Schmuckstück einfach mal so mitgibt? Wir fahren nicht nach Moskau um den Kreml zu fotografieren. Wir gehen unter schwersten Bedingungen in einer unwirtlichen Gegend unter Einsatz unserer Gesundheit auf eine Expedition! Halt uns nicht für dumm!"
Juri's Nachfrage klang jetzt hart und vorwurfsvoll. Es war damit klar, dass er Natasha nicht ihre erfundene Geschichte abkaufte. Sie log offensichtlich! Die Frage war: Warum?
Natasha Sobitowa sah flehend um Hilfe in ihrer Not zu Viktor Oribatow hinüber, der im Lampenschein einen Schlafplätze weiter lag.
Viktor jedoch sah ebenso entsetzt aus wie alle anderen im Zelt. Er machte keine Anstalten, etwas zur Aufklärung der Sache beitragen zu wollen.
Und dies ärgerte Natasha in diesem Moment maßlos- denn Viktor wusste, woher die Kamera stammte und wofür sie dienen sollte.
Keiner half ihr? Nicht einmal Viktor?In Natasha erwuchs der Wunsch, die Wahrheit einfach den Anderen einzugestehen.
Die fordernden Blicke lasteten nur auf ihr- wie schneidende Stiche in das Vertrauen, dass man hier zueinander haben musste, waren diese Blicke. Dies war auch kein Spass mehr für Natasha, denn es stand einiges auf dem Spiel- vielleicht sogar neben den „Freundschaften" auch ihre eigene Zukunft.
Nein! So nicht mit mir! Wenn ich mich schon erklären soll, so soll es Viktor auch!- ging es durch Natasha's Gedankenwelt, als sie sich entschloss der Wahrheit nun und sofort Genüge zu tun.
„Viktor? Vielleicht möchtest Du ja etwas dazu sagen?", geifte Natasha durch das kleine Zelt.
„Ich? Wieso denn ich?" Viktor gab sich vollkommen ahnungslos.
Dennoch erreichten nun auch Viktor die fragenden Blicke- vor allem von Julia, Wassili und Juri.
Auch Boris, der 'Franzmann', und Sasha, der 'Boxer', sahen nun befremdet und voller Fragen zu Viktor Oribatow hinüber.
„Ja Viktor! Wieso DU?", forderte Juri Olbekin hart um Aufklärung- ließ jedoch danach wieder seinen Blick zu Natasha zurück fallen, die dies sicherlich aufklären konnte.
Viktor Oribatow schwieg. Er tat vollkommen ahnungslos und unschuldig, zuckte mit den Schultern.
„Natasha? Ist da etwas, was Du uns zu sagen hast?", forderte nun auch Wassili Koroljow.
Viktor vergrub sofort, als Natasha anfing zu reden, sein Gesicht hinter den Handschuhen. Die Wahrheit- wie sie jetzt wohl von Natasha vorgebracht wurde- war ein Dolchstoß für Jeden, der glaubte, ihn und Natasha zu kennen.
„Viktor war über drei Jahre in einer 'geheimen Einrichtung' als Laborant tätig. Er hatte diese Arbeit in der Zeit angenommen, als er in Moskau beim Ministerium für Maschinenbau arbeitete. Gute Rubel für ordentliche Arbeit. Sie forschten nahe Swerdlowsk. Wie sich herausstellte auch für die Atomindustrie und für die Sowjetarmee. So zumindest kenne ich es von ihm. In der Einrichtung gab es einen Unfall. Und spätestens da wurde ihm klar, dass das Komitee für Staatssicherheit auch seine Informationen hatte und wohl auch die Fingerchen und Ohren in den Laboren."
Natasha lies es bei den Informationen- jedoch verbunden mit einer verbalen unterschwelligen Drohung an Viktor, nicht so unschuldig zu tun.
Juri war entsetzt. „Du? Beim KGB?"
Viktor rollte die Augen, als er die Handschuhe herab nahm und sein Gesicht zeigte.„Nein. Ich bin nicht beim KGB!" Vorwurfsvoll sah Viktor Natasha an. Wer weiß, was sie noch so an Unwahrheiten ausplappert!- dachte er.„Naja- nicht so direkt jedenfalls."
Wassili zeigte offen, dass er dieses Verwirrspiel und die Informationen noch nicht so klar zu deuten vermochte.
„Na was nun? Ja- KGB!, oder Nein- Nicht KGB?"
Viktor wackelte mit dem Kopf- unschlüssig, wie er seinen Standpunkt bestmöglich erklären konnte.
„Eher so ein - Jein! Mit etwas Komitee für Staatssicherheit. Ich habe keine Stelle dort, wenn ihr das wissen wollt. Aber..., naja, gewisse Vorzüge! Prämien sozusagen?" - und um es Natasha mit gleicher Münze zurück zu zahlen, setzte er noch eins darauf: „Natasha auch!"
„Dann seid ihr Zwei also Spitzel? Oder wie die TSCHEKA Geheimpolizisten!", warf der 'Boxer' ein.
„Nein!", erklärte Natasha, denn in diese Schublade wollte sie nicht gebracht werden. „Viktor musste eine Vereinbarung unterschreiben, damit er in dem Labor forschen konnte. Dafür gab es dann ... mehr Geld. Und kleinere Prämien. Mich hat man an der UPI angesprochen- im dritten Studienjahr, weil ich zu der Leistungsspitze gehörte. Nach dem Studium soll ich für das Militär mein Wissen im Bauwesen anwenden. Bespitzelt haben wir niemanden! Ich verspreche es Euch."
Julia hielt die teuere „Super- Kamera" anklagend und fragend hoch. „Und Die hier? Wie erklärst du Uns, dass Du so eine Kamera hier mit Dir im Gepäck herumschleppst?"
Viktor erklärte dies- wohl auch für Natasha gleich mit: „Wir haben da einen 'speziellen Auftrag' erhalten- wir gemeinsam. Für Natasha ist es der erste Auftrag, um ihre Loyalität zu beweisen. Und- um die Wahrheit zu sagen- auch ich habe die baugleiche Kamera in meinem Gepäck. Ihr solltet davon nichts mitgekommen. Dumm gelaufen. Entschuldigt!"
„Ja. Bitte entschuldigt. Ich verstehe, wenn ihr uns nun weniger vertraut als vorher."
Natasha schien dies ehrlich zu meinen.Doch darauf wollten es Juri und Wassili nicht beruhen lassen. Mit einer Entschuldigung ist noch immer nichts erklärt.
„Was für ein 'Spezial- Auftrag'? Was hattet ihr mit den Kameras zu schaffen? Uns ausspionieren? Heimlich irgendetwas Belastendendes suchen und die Beweise schön nach Moskau schicken? Wollt ihr uns alle ins Arbeitslager bringen? Wollt ihr das?"
Juri war aufgebracht. Und nicht nur er. Auch der sonst so gelassene 'Boxer' Sasha schien dies zu vermuten.
„Nein- Nein! Bitte. Ich sagt es Euch besser, bevor ihr uns noch in die Nacht hinaus schickt. Natasha und ich sollen Foto's machen- ja. Von Euch? Nein. Unser Auftrag ist ein anderer."
„Und? Ich höre?", fragte Sasha Resutkin energisch nach.
Es war Viktor mehr als peinlich, all dies hier in dem kleinen Zelt dem ganzen Expeditionsteam erklären zu müssen.
„Wir Zwei sollen Foto's für die Armee machen- so zumindest ist der Plan. Keine Landschaftsaufnahmen! Keine Foto's von Euch oder unserer Tour. Und ganz ehrlich: Ich habe mich wirklich sehr auf unsere Expedition gefreut und hätte sie vielleicht sogar auch ohne diesen Auftrag der Armee mitgemacht. Die Foto's, die Natasha und ich fertigen sollen sind Aufnahmen eines Raketentestes, der auf dem Übungsgelände im Osten in sechs Tagen stattfinden wird. Unser Auftrag ist es, den Flug und die Flugbahn der zwei Flugkörper durch Foto's zu dokumentieren. Der KGB in Ufa hat uns dazu bestimmt, dies zu tun. Und von den Bergen des Ural hat man eine gute Fernsicht- sollte das Wetter mitspielen. Deshalb diese guten Kameras und Objektive. Jeder hat eine Kamera, dass- sollte etwas nicht funktionieren- zumindest ein Film die Flugbahn belegen kann. Wir haben nur zu fotografieren und die Kameras und Filme in Ufa nach Rückkehr abzugeben. Das ist alles."
Natasha nickte zustimmend.
„Na wunderbar! Fabelhaft!", sagte Juri Olbekin. „Dann müssen wir den Expeditionsplan also jetzt schon für Armee und KGB ausrichten. War's das damit? Oder habt ihr noch andere Neuigkeiten, von denen ich als Leiter besser wissen sollte?"
Viktor schüttelte den Kopf. „Nein. das war alles. Natasha und ich setzen uns in sechs Tagen nur einmal kurz ab für ein Stündchen- dann ist das alles vorbei und wir sind wieder ganz normale Teilnehmer der Expedition."
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