Ein Bild des Grauens
Die Berichte, welche Oberstleutnant Nikolai Woronzow erreichten, waren von Anbeginn klar formuliert.
Wenngleich er zu Beginn seiner Überlegungen das geschilderte Schreckens- Szenarium in seiner ganzen Bandbreite innerlich anzweifelte, so wandelte sich dieser Zweifel mehr und mehr in eine traurige Gewissheit. Berichte aus mehreren inoffiziellen Quellen untermauerten die vorgelegten Berichte der studentischen Suchgruppen und der eingesetzten Kräfte von Armee und Miliz.
Allerdings bot sich kein klar erscheinendes Motivbild, dass die Schilderungen in ein plausibles Verhältnis gebracht hätte.
Für einen Analytiker wie Woronzow hatten die Berichte nur eine Erklärung: Keine, welche logisch zusammen geführt werden konnte oder im Ansatz plausibel erschien.
Generalmajor Semtzyn wollte eines: Antworten!
Diese Antworten konnte Woronzow in dieser dringlichen Angelegenheit jedoch nicht geben, auch wenn der General mit Berichtspflichten gegenüber Moskau argumentierte und ungehalten sein Missfallen zum Ausdruck brachte. Deutlich und nachdrücklich zum Ausdruck brachte!
Woronzow war nur in der Lage, über die Fakten zu berichten, welche er zusammengeführt hatte.
Man hatte ab dem 21.02. 1959 angefangen, die Suche nach den Expeditionsteilnehmern durchzuführen. Mit einem Kräfteeinsatz von 3 Wandergruppen, welche aus Studenten der UPI, Soldaten, zwei Förstern und zwei mansischen Jägern bestanden. Ebenfalls wurden noch Suchhunde zum Einsatz gebracht. Im Nachgang wurde bekannt, dass mehrere Erkundungsflüge mit Hubschraubern durchgeführt wurden. Der gleiche Kräfteeinsatz setzte die Suche auch am Folgetag fort.
Am 23.02.1959 kamen freiwillige Studentengruppen des UPI hinzu, welche- dank guter Wetterlage- mit Hubschraubern in das Suchgebiet geflogen wurden.
Am Folgetag wurde das Suchgebiet in Richtung Süden und Osten des Bergkammes ausgeweitet, dennoch gab es keine Erkenntnisse zum Verbleib der Expeditionsgruppe. Noch einen tag später begann die Suche nach Vorratslagern- ohne Erfolge.
Erst am 26.02.1959 nachmittags fanden Suchmannschaften der Studenten den ersten brauchbaren Hinweis: das verlassene Zelt der Gruppe. Es befand sich allerdings abseits der vorgesehenen Route am nordöstlichen Plateau des Berges 'Cholat Sjachl'. Die Suche wurde wegen Schlechtwetterlage allerdings abgebrochen. Jetzt jedoch hatte man einen ersten Hinweis!
Am 27.02.1959- also erst eine Woche nach Beschluss über den Rettungseinsatz- wurde das Zelt in Augenschein genommen. Da bislang keine Hinweise auf die Personen vorhanden waren, beschloss man neue Suchfelder- ausgehend vom Fundort des Zeltes in alle vier Himmelsrichtungen neu festzulegen.
Und dies führte noch an diesem Tag zu einem grausigen Fund: Gut Zwei Kilometer in Richtung der Loswa fand man Überreste eines Lagerfeuers und zwei Leichen. Es waren die leblosen Körper von Wassili Koroljow und Iwan Gregorov, die nahe der Feuerstelle gefunden wurden.
Nur spärlich bekleidet waren beide Körper. Koroljow war in Bauchlage
Und obwohl sich im ersten Blick der Suchkräfte keinerlei Spuren einer gewaltsamen Einwirkung aufzeigten, zog die Staatsanwaltschaft in Idwel- wie es bei Leichensachen üblich war- die Ermittlungen an sich. Drei Kriminalisten aus Idwel kamen vor Ort.
Ein Armeehubschrauber flog am Nachmittag die Leichname Nach Idwel. In der Leichenhalle der Rechtsmedizin Idwel wurde sofort mit Untersuchungen begonnen und bereits am Abend gab es die Nachricht, dass Unterkühlung bei beiden die Todesursache war.
Doch einige Dinge der Untersuchungsberichte waren seltsam, wie Woronzow für sich feststellte. Nicht der Leichnam Koroljows- hier waren Hautabschürfungen, kleine Blutergüsse und Prellungen sowie die Erfrierungen an Fingern und Zehen festgestellt- verwirrte den KGB- Mann. Derlei Dinge sind bei einer hastigen Flucht denkbar und die Erfrierungsmerkmale nicht untypisch.
Die Leiche Iwan Gregorovs- der Bauleiter aus Tscheljabinsk und als Informant des KGB geführt- hatte eine Brandwunde am Unterschenkel und Haut eines Mittelfingers im Mundraum. Auch fehlte seine Nasenspitze. Konnte letzteres auf Tierfraß deuten und die Sache mit der Haut ein Zufall- die Brandwunde erklärte sich nicht.
Und die grausigen Funde des Tages gingen weiter.
Suchketten mit Skistöcken und Lawinensonden trugen zum Auffinden der Leiche des Expeditionsleiters Juri Olbekin bei. Man fand Olbekins Leichnam in fast direkter Linie zwischen der Feuerstelle und dem Zelt in Bauchlage liegend in einer kleineren, schneebedeckten Senke. Auch Olbekin verstarb wohl nachweislich an Unterkühlung, hatte ebenfalls nur Schürfwunden und kleinere Blutergüsse- keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Sein Schuhwerk war als "nur flüchtig zugebunden" dokumentiert. Die Kriminalisten äußerten den Verdacht, dass Olbekin auf seiner überhasteten Flucht an der felsigen Senkenkante ausrutschte und auf dem hartgefrorenen Schnee in Folge des Sturzes Verletzungen bekam. Kraftlos und unterkühlt konnte er der Witterung in seiner spärlichen Bekleidung wenig entgegensetzen.
Ebenfalls mit Schnee überdeckt fand man noch näher zum Zelt hin die Leiche der Studentin Julia Radenowa. Ihr Körper wies nach dem rechtsmedizinischen Gutachten ebenfalls Schürfwunden auf. Auch ein Lungenödem wurde nachgewiesen. Die Verletzungen sprachen auch hier für eine Sturzfolge auf harten Gegenstand. man legte sich auf 'Tod durch gewaltsamen Unfall' im Gutachten fest.
Woronzow hatte sich Durchschläge der Berichte und Lageskizzen kommen lassen. In einer ersten Handskizze- vom Wem diese auch immer erstellt war- war erkennbar, dass alle drei Fundorte der Leichen in einer Linie vom Zelt aus gesehen nach Osten lagen. Seltsam erschien der Umstand, dass die Köpfe aller vier Körper nach Westen lagen.
Dann kamen mehrere Tage keine neuen Erkenntnisse der Suchmannschaften. Ein Unwettertief zog über die Berge des Ural.
Erst am 01. März 1959 konnten die Suchmaßnahmen fortgeführt werden.
Schon einen Tag später konnte nun endlich das Vorratslager der Expeditionsgruppe gefunden werden. Doch niemand konnte sich auch nur ansatzweise erklären, weshalb sich das Lager mit den Reservevorräten im oberen Tal des Flusses 'Auspija' befand. Das Lager war augenscheinlich unberührt. Es wirkte gut verschnürt und war nahe der oberen Baumgrenze zwischen mehreren Bäumen angelegt. Auch die Überdeckung durch eine Plane schien nicht beschädigt. Schnee hatte die Lagerstelle überweht, weshalb die Stelle wohl nicht bei den nachweislich vier erfolgten Überflügen der Suchhubschrauber in diesem Suchfeld festgestellt worden war.
Oberstleutnant Woronzow sah die Berichte wieder und wieder durch.
Von besonderem Interesse für den KGB- Offizier war das Notizheft des Expeditionsleiters Juri Olbekin. Man hatte es beim Entkleiden der Leiche Olbekins in der Rechtsmedizin der Stadt Idwel gesichert und an die Kriminalisten der örtlichen Miliz übergeben. Eine Abschrift der Eintragungen hatte man ihm - nach Auskunftersuchen- bereits am 01. März übergeben. Keiner hatte sich zu fragen getraut, welches hohes Interesse die KGB- Dienststelle in dieser Sache hat. Und falls doch Jemand neugierig gewesen wäre, so hätte die Spur nicht zwangsläufig zu seiner Dienststelle geführt, da Woronzow so vorsichtig war, über Telegramm die kleinere Dienststelle in Jekatarinburg mit der Anforderung zu betrauen.
Nun- einen Monat nach den vermuteten Ereignissen- waren immer noch mehrere Personen vermisst oder deren Leichname gefunden.
So fehlten immer noch vier Mitarbeiter des KGB, welche mit zwei verschiedenen Aufträgen in diese Expedition eingeschleust worden waren.
Selbst Generalmajor Semtzyn war beunruhigt. Er hatte im vertraulichen Gespräch eine als "Streng geheim" eingestufte Akte mit Auftragsfakten, einem Intern- Befehl Nr. 11/ 1958 vom Dezember des Vorjahres und verschiedene Informationen zu den KGB- Agenten der Expeditions- Tour zugearbeitet. Der General war seit Feststellung der Leichenfunde sogar mittlerweile geduldiger als vorher- gleichwohl besorgt über den Verbleib der Agenten und der Proben radioaktiven Materiales.
Für Woronzow lag auf der Hand, dass die Sorgen seines Vorgesetzten sich wohl mehr um die Proben als um die Leben der Agenten bewegten. So hatte der Generalmajor eine Risiken- Analyse von Woronzow im Hinblick auf einen möglichen Überfall durch die ausländischen Kontaktmänner auf die Tour- Teilnehmer erbeten. Damit wollte er aufgeklärt wissen, ob die Möglichkeit bestand, dass alle bislang gefundenen Leichen durch Fehleinschätzungen im eigenen Haus über die Gesamtsituation begründbar waren.
Zumindest in diesem Punkt konnte Woronzow seinen Vorgesetzten etwas beruhigen- jetzt, da Woronzow mit allen Fakten arbeiten durfte und General Semtzyn nicht mehr darauf drängte, dass den rangniederen Oberstleutnant manche Informationen 'höherer Ziele' nicht zustanden. Woronzow hatte ermitteln können, dass der ausländische Agent des französischen Geheimdienstes nach vermutetem Scheitern einer Übergabe noch drei Tage am beabsichtigten Übergabeort Wischai -unter einer als Legende angelegten Identität- verblieben war und sich dann durch einen Fahrer eines Versorgungs- Lastkraftwagen mitnehmen ließ bis zum nächst größeren Ort mit einer Bahnstation. Abgesetzt am Bahnhof der Ortschaft Liebko habe der französische Kontaktagent eine Fahrkarte nach Swerdlowsk gelöst. Dort habe der Franzose eine Nacht später den Transkontinental- Zug nach Jekatarinburg bestiegen, wie sich ein Bahnmitarbeiter erinnerte. Nahe liegt, dass der Agent irgendwann die Identität wechselte, vielleicht sogar mittlerweile unter diplomatischer Immunität sogar schon das Land verlassen hatte. Diese letzte Spekulation konnte sich schon demnächst vielleicht durch Zuarbeiten der Büro's in Jekatarinburg und Moskau bestätigen lassen. Kontakte zu Dritten und ein Überfall des Agenten auf die Gruppe in den Weiten des Ural konnten schon aus Weg- Zeit- Analysen der Fakten ausgeschlossen werden.
Doch wo waren die vermissten vier Agenten abgeblieben? Waren auch Sie vielleicht schon tot?
Hinsichtlich der wichtigsten Mission, die von dem KGB- Mitarbeiter Warjakow auszuführen war, traten weitere Erkenntnisse hinzu, welche man bislang nicht so offen erhalten hatte. Man kann sagen, die Informationen hätten gegebenenfalls sogar Zweifel an der Rechtschaffenheit und Systemtreue des Agenten Warjakow begründen können. So war Warjakow aus freien Stücken eineinhalb Wochen vor Beginn der Expedition von der mehr als lukrativen Position des Obersten Wanderführers der Hütte Kourowka überraschend zurück getreten. Kein Mensch mit Verstand- und ohne vielleicht Hintergedanken zu haben- hätte sich diesen Posten entgehen lassen. Noch dazu, weil Warjakow es selbst war, der über ein Jahr um eine Einsetzung beim Auswahlkomitee vorsprach und sogar die Fürsprache des KGB dafür erbat.
Dies passte nach Ansicht von Oberstleutnant Woronzow nicht.
Und die Abschriften des Expeditions- Tagebuches?
Wadim Rodin, der als Einziger die Tour abgebrochen hatte, bestätigte die Informationen bis zu dem Punkt, als er aus gesundheitlichem Grund die Teilnahme abbrechen musste. Seine Vernehmung lag Woronzow ebenfalls vor. Auch der mansische Wildnisführer, der Rodin von der Berkwerksiedlung 'Wtoroi Sewerny' erkrankt zurück zur Waldarbeitersiedlung '41. Quartal' gebracht hatte, bestätigte Rodin's Angaben. Jedoch erklärte der Wildnisführer, dass er berechtigt Zweifel an den Angaben der Eintragungen habe, da Warjakow und ein weiterer Tourteilnehmer sich offen beraten haben sollen, einen Weg abseits der Route des 'Loswa'-Tals zu nehmen- eine Route in mansisches Schutzgebiet im 'Auspija'- Tal, obgleich der Wildnisführer von einem Abweichen der Route deutlich warnte.
Soweit stimmten die Angaben, dann jedoch scheint Olbekin vielleicht falsche Eintragungen vorgenommen zu haben, wenn man der Einschätzung des Mansen folgt. Vielleicht hatte man sich "bewusst" verirrt? Eine andere Route genommen, um Zeit zu gewinnen und abzukürzen? Ein rein menschlicher 'Fehler', um es sich leichter zu machen? Doch wo sind die Leute dann entlang? Die Aufzeichnungen sprechen von Fichtenwäldern. Wollten sie einen anderen Bergpass suchen?
Viele Fragen blieben. Und mehr noch. Immer neue Fragen ergaben sich.
Die Kriminalabteilung der Miliz in Idwel hatte mehrere Großgaragen leergeräumt, damit dort die Beweismittel der Tragödie ausgebreitet und untersucht werden konnten. So hatte man eine Doppelgarage nur für "Ereignisort Zelt" vorgesehen.
Auch hierüber und die ersten Untersuchungsergebnisse hatte Oberstleutnant Woronzow schon Berichte zugearbeitet bekommen. Während das Deckblatt der Durchschrift nur sehr schlecht und mit Mühen lesbar war, so war die Einzelauflistung der Spuren von guter Lesbarkeit.
Erst nach mehreren, wiederholten Betrachtungen der Liste war Woronzow ein fast belangloses etwas ins Auge gefallen: ein abgerissener oliv- grüner Stofffetzen aus dem Innenbereich des Zeltes.
Dieses Stück Stoff und viele andere Materialspuren wurden zur Zeit analysiert über ein Gutachten der Staatsanwaltschaft. Woronzow konnte sich die Herkunft, wie es das Gutachten in einer ersten Stellungnahme aufwarf, nicht erklären. Man schätzte das Alter des Stoff- Stückes auf zirka 35 Jahre (plus/ minus 5 Jahre), legte man Zustand und Färbemittel zu Grunde.
Da jedoch fast ausnahmslos die Teilnehmer der Expedition neuere Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung hatten, widersprach dieser Fakt dem sonst- festgestellten Gesamtbild. Entweder hatte jemand ein Andenken dabei, oder der Stoff kam durch ungeklärte Umstände in das Zelt. Eine logische Erklärung darüber gab es nicht.
Am 05.03.1959 kam eine weitere Neuigkeit. Zwischen den bereits aufgefundenen Leichnamen von Olbekin und der Radenowa hatte ein Suchtrupp einen weiteren Leichnam gefunden. In Bauchlage und mit Schnee überdeckt hatte man den leblosen Körper von Sasha Resutkin aufgefunden. Resutkin- ein Boxer, Langstreckenläufer und Extremwanderer den Informationen nach- war nur mäßig bekleidet gefunden worden. Schürfwunden an den Händen und Schenkeln deuteten darauf hin, dass er eine gewisse Strecke über den festgefrorenen Grund gekrochen sein musste, bevor er entkräftet in einer Senke liegen blieb und erfror. Der offizielle Bericht würde wohl alsbald folgen.
Unterdessen schien sich der eingesetzte Staatsanwalt aus Idwel verschiedene Theorien zu bilden. Vom Erfrierungstod nach ungeklärter Ursache der Flucht aus dem Zelt bis hin zu einer Theorie, dass Jäger der Mansen die Schuld am Tod der Leute haben könnten. Auch wenn aktuell sich auf diese letztgenannte Version keine Indizien ergaben, so gebe es im Volk der Mansen eine alte Legende aus dem Jahr 1780. Schon damals seien nach Leuchterscheinungen am Himmel neun Jäger tot aufgefunden worden. Der Staatsanwalt mutmaßte, dass einige Mansen die Wanderer überfallen haben könnten, weil die Expedition nahe einem heiligen mansischen Pfad gekommen sei, welcher zu einem 'Tschum', oder einer heiligen Stätte führe. Die Mansen wollten- durch Aufleben dieser alten Legende- vielleicht auf die Einhaltung und Achtung ihrer Rechte und heiligen Stätten hinweisen.
Doch dafür gab es keinen Beleg. Weder für mansische Aktivitäten- noch für solch einen seltsamen Ort in dieser unwirklichen Gegend, wie sich der KGB- Offizier schon aus logischem Grunde festlegen wollte.
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