Die skeptische Schamanin
Ein Zwischenaufenthalt in Nerjungi war leider nicht zu umgehen. Die Unterkunft wurde zwar von den Einheimischen als "Hotel" benannt, war jedoch alles andere als komfortabel. Es war mehr als deutlich, dass das 'Hotel' eher eine Unterkunft für jene Leute war, welche sich von hier anschickten Ihre Reiseziele zu finden und einfach nur ein aufwärmendes Nachtlager und etwas warmes zum Essen zu bekommen, weil man hier sonst kein anderes Obdach hatte. Die Reisenden wollten entweder mit Anschlusszügen nach Süden in Richtung Tynda oder Irkutsk oder sie kamen- wie Lonok, Bors und Marica- aus dieser Richtung und suchten eine Möglichkeit zu Siedlungen oder anderen Orten mitzufahren.
Es gab vier größere Unterkunftsräume in dieser Herberge. Drei Räume waren für Männer bestimmt und ein kleinerer Raum war nur den Frauen vorbehalten.
Ein kleiner schmaler Verschlag mit Holzriegel diente als Waschraum für alle. Eine Art Waschzuber schien hier bei Tag und Nacht unter Feuer zu stehen, damit der Raum etwas Wärme bot und warmes Wasser, welches wohl auch in der Küche Verwendung fand. Drei Emaille- Schüsseln mit Rostansatz waren die Waschbecken für die Leute. Das Klo waren drei enge Holzkammern mit Loch im Boden und abgerissenen Fetzen der Zeitung 'Pravda' an Nägeln, die in einem Holzverschlag hinter dem Haus waren. Ein Bewirtungsraum war vorhanden. Hier wurde den ganzen Tag aus einem Topf eine Kohlrübensuppe mit seltsamen Eigengeschmack an die Gäste ausgeschenkt.
Das 'Hotel' war dennoch willkommen. So war es Lonok und Bors ermöglicht, sich nach Möglichkeiten umzuhören, wie man von Nerjungi aus zu den Siedlungen der Ewenken kommen könnte.
Und das Bemühen der Erwählten war belohnt worden. Ein Raupenfahrzeug hatte den Auftrag mit Lebensmitteln zu zwei Siedlungen zu fahren und von einer Pelztierfarm der Sowchose Erzeugnisse nach Nerjungi zurück zu bringen. Eine schnellere und bessere Chance konnte sich nicht bieten. Lonok hatte dem Fahrer neben guten Worten auch einige Rubel versprochen, wenn er sich in Geduld fasst. So wollte er notfalls auch abwarten, falls man die 'Verwandten'- natürlich meinte Lonok damit die Schamanen der Siedlungen- nicht antraf, um die Besucher wieder zurück zu nehmen. Sollte man nichts bei den Ewenken erreichen blieb damit wenigstens eine Rückfahrt gesichert.
Der Raupenfahrzeug- Führer war auch ein Ewenken- Stämmiger, wie sich heraus stellte. Über die Fahrt stellte Lonok immer wieder Fragen- auch wo er, der selbst als Schamane seiner Sippe einen Namen habe örtliche Schamanen antreffen könnte. So bekamen die reisenden Drei ihre Informationen.
Laut röhrend bahnte sich der Raupenschlepper seinen Weg. So erfuhren die Reisenden, dass die Raupe in dieser Jahreszeit unentbehrlich sei, um hier durch die Wälder zu kommen. Sicher- man habe festgelegte Wegrouten. Aber der Winter ist unberechenbar. Die Maschine muss ständig am Laufen gehalten werden- und der fast 10 Jahre alte Motor frisst unter diesen Bedingungen eine Unmenge an gutem Treibstoff. Das sei es aber Wert für die Sowchose, denn Pelze bringen gutes Geld ein.
Erste Station wurde in Lisnuk gemacht, einem weitläufigen Siedlungsbereich von jakutischen Rentierzüchtern. Bis auf einen alten Mann traf man hier jedoch keine Menschenseele an, auch wenn dem Berichten des Schlepperführers gut zweihundert Leute Lisnuk in guten Zeiten bewohnten.
Am Tag darauf kam man an einem breiten Flussbett an und der Raupenschlepper hatte ausreichend Platz und Gelegenheit über die fest eingefrorenen Randbereiche der Uferzonen dahin zu ächzen.
Rostiak hieß das nächste Ziel- ein Dorf von Jägern und Fischern.
Drei Stunden ging es am Flusslauf- einem Nebenzufluss des Stromes Lena entlang. Dann kamen oberhalb eines abgespülten Hangabbruches einige Hütten zwischen den Bäumen in Sicht.
Dashilo, so hieß der Fahrer des Raupenschleppers, steuerte weiterhin an der Uferzone zwischen den Felsen und Eisbrocken sein Fahrzeug nahe des Hangabbruches weiter. Jedoch bemerkte er die fragenden Blicke seiner Passagiere, die eng gedrängt mit ihm im Fahrerhaus hin und her geschaukelt wurden. Daher schien es ihm wohl ratsam, seine Entscheidung - unterhalb der erkennbaren Hütten weiter am Fluss zu fahren- aus freien Stücken zu erklären.
"Dort vorn ist eine Flussbiegung. Den Hang schafft die Raupe nicht. Wir hätten vorhin schon rechts durch den Wald fahren können, aber hier am Fluss zu bleiben, ist besser. An der Flussbiegung kommt ein breites Tal auf der rechten Seite, wo es sich besser hoch fahren lässt. Die Leute gehen auch dort in den Sommermonaten zum Fluss herunter. Ihr werdet schon sehen- es ist dort nicht so schwierig für die Raupe, wie vorn durch den Wald. Da weiß man auch nicht, ob nicht Baumbruch herum liegt."
Mit lautem Röhren der Motoren passierte man den Bereich der oberhalb erkennbaren Hütten.
Dashilo behielt wieder einmal Recht- kurz vor der Biegung lief der Abbruchhang in ein flacheres Tal aus. Man konnte sogar einige Spuren im Schnee erkennen, welche zum Fluss hinunter führten. Kurz danach erschien eine breite Schneise zur rechten Seite zwischen den Bäumen.
Dies war wohl der Weg, den Dashilo für den Raupenschlepper gesucht hatte, denn mit mehreren ruckartigen Bewegungen wurde der Schlepper dahin gesteuert. Die Schneise bot genug Platz zum Hinauffahren. Einige kleinere Fichtenbäume gerieten - trotz der geschickten Manöver, welche der Raupenführer vollführte- dennoch unter die Ketten. Die Bäumchen wurden in den Schnee eingepresst und grob überrollt. Ein kleiner Baum, den es aus dem Erdreich gerissen hatte, wurde gar durch die Kette hinten am Fahrzeug angehoben. Mit lautem Knacken gebrochenen Holzes zerriss es den kleinen Baum am hinteren Kettenlauf, so dass er mit Resten von Schnee und Erdreich geborsten in zwei Teile zu Boden fiel. Was im Schnee blieb waren die Spuren der breiten Kettenglieder der Raupe.
Man kam nun von Norden zu den Hütten zurück. Die lautstarken Motoren des Schleppers lockten jedoch niemanden heraus- sehr zur Überraschung von Dashilo.
"Seltsam. Sonst sind die Leute neugieriger. Zumindest Einer oder Zwei kommen heraus, wenn ich ins Dorf komme. Zumeist wollen sie erfahren, was es Neues zu berichten gibt aus der Welt oder was ich an Post oder Waren mitgebracht habe."
"Gibt es ein Magazin im Dorf?", erfragte Lonok.
"Wenn man es so nennen möchte, dann ja. Eine Hütte weiter hinten. Die Hütte wurde bis vor zwei Jahren von zwei Forschern bewohnt, die die Eigenheiten der Turkvölker dokumentieren sollten. Auch Geologen waren schon einmal dort untergebracht. Die Hütte stand dann leer. Weil sie aber gut gebaut war, hat ein Einheimischer sie im vorletzten Sommer übernommen, dessen Hütte bei einem Sturm Schaden trug. Er kann sie nun nutzen, muss aber auch offizielle Aufgaben wahrnehmen."
"Kommen oft Fremde hierher?", wollte Bors wissen- wohl auch aus eigener Sorge um Marica.
Dashilo schüttelte seinen Kopf. "Ihr seit seither die Einzigen. Die Geologen hatte wohl gehofft, im Umland brauchbares zu finden. Sie haben Gestein gesammelt- auch aus dem Fluss. Doch lohnt es wohl der Mühe hier nicht."
Der Raupenschlepper hielt vor einer größeren Hütte, aus deren Schornstein sich weißer Rauch in den Wintertag kräuselte. Hier war wohl jemand.
"Da sind wir schon. Gehandelt wird hier auch- auch getauscht, wenn ihr etwas benötigt. Und nötigenfalls ist ein kleiner Raum mit Faltliegen für Euch auch mitgeheizt, wenn wir darum bitten."
Dashilo rieb Daumen und Zeigefinger erkennbar mit den dicken Handschuhen. Mit "freundlich Bitten" meinte er also ein Paar Rubel dafür geben, wie jeder hier verstand.
Selbst Marica hatte derlei Geste schon mehrfach gesehen und konnte sich darauf einen Reim machen. Geld war Marica nicht wichtig. Sie kam gut ohne aus, da sie nichts weltliches zwingend benötigte. Und was vielleicht nötig war, wie Stoffe für Kleidung oder Schuhwerk, dies war ihr von den Mansen bislang besorgt und gebracht worden.
Der Motor der Raupe tuckerte kraftvoll weiter, wenngleich alle Insassen das enge Führerhaus verließen und durch die Kälte schnell in die Hütte huschten.
Die Besucher klopften sich im Vorraum die Kleidung aus und stapften den Schnee von den Stiefeln.
Aus dem Raum zur Linken waren Stimmen zu hören. Man schien keinen guten Zeitpunkt für den Besuch gewählt zu haben, denn die Stimmlagen ließen erkennen, dass dort zwei oder drei Leute- ein Mann und zwei Frauen- ein kleines Streitgespräch führten. Dennoch klopfte man grob an den hölzernen Türzargen und trat ein.
Aus dem großen Raum, der eine Art Theke und leere Ausstellfläche erkennen ließ, kam wohltuende Wärme- allerdings auch harte Worte des Streites.
"Daran hättest Du denken müssen, bevor Du Dich mit ihr einlässt! Verstehst Du, Jurek? Wer das Eine will, der muss auch das Andere in Kauf nehmen.", wetterte eine von den zwei älteren Frauen forsch auf den Mann ein. Die andere Frau hielt sich zurück- war jedoch in einem Tränenbad versunken. Auch die hinzukommenden Fremden wurden in all der Aufregung kaum einer Beachtung geschenkt.
Der Mann hinter dem Thekentresen- Jurek mit Namen und wohl um die Vierzig Jahre alt- versuchte sich zu rechtfertigen. "Wir mögen einander, ja. Jeder im Dorf weiß das. Aber was soll ich denn machen, wenn Sie mit den Ihren mitziehen muss. Du kennst Sie doch besser als Jede andere, Gabuna. Da kann die Galina schluchzen, wie sie will: Wenn die Ivanka bei ihrer Familie bleiben muss, dann kann ich sie nicht davon abhalten. Oder?"
"Doch. Musst Du!", forderte die alte Frau. "Kannst doch die Ivanka nicht mitgehen lassen- jetzt, wo sie schon das Kind von Dir trägt. Was bist Du nur für ein Idiot! Wenn selbst die Galina als ihr Tantchen sagt, das es für Ivanka zu schwer wird, jetzt mit den Tieren zu ziehen. Da musst Du Dich einfach auch einmal für dein Liebchen stark machen."
Die Besucher haben genug erfahren, um ihre Meinung sagen zu können. Doch alle behielten aus Vorsicht die Ruhe- wollten sich nicht einmischen. Die resolute Alte hatte vermutlich Recht, aber die nordischen Turkvölker zogen nun einmal auch zum Großteil mit den Herden der Karibu's auf den Wegen der Rentiere mit über das Jahr. Dies war schon immer so. Offenbar wollte der 'werdende Vater' wenig Einfluss nehmen, die Familie seiner Auserwählten umzustimmen- wohl sehr zum Leidwesen der Tante der werdenden Mutter.
Die Alte, welche eben noch den Mann an der Theke mit Worten zu überzeugen versuchte, schien am Ende ihrer Überzeugungsarbeit angelangt. Jetzt verschlug der Mann auch noch trotzig die Arme vor der Brust, als würden die Worte der Alten nur noch ins Leere gehen müssen. Dies schien sie noch mehr aufzustacheln.
"Ich sagst Dir, Jurek: Passiert der Ivanka dann etwas- dann werde ich Dich verfluchen, dass man es überall hören kann. Nicht schlafen wirst Du des Nachts können, weil der Wind um dein Haus weht und Dir diese Schande immer zutragen wird. Die Seelen von Ivanka's Anverwandten werden Dich heimsuchen. Keine Ruhe werden Dir die Seelen lassen. Und wenn Du zum Fischen und auf die Jagd gehst, dann werden diese Seelen jeden Fisch und jedes Wild verscheuchen."
Die Worte der Alten klangen für den Mann mit Namen Jurek wie ein beängstigendes Trauma der Zukunft- so, wie es die Alte aussprach, klang es schon ein eindringlicher Fluch!
Die alte Gabuna hob dabei auch schon beschwörend beide Hände nach oben- fast hätte man Blitze erwartet, die das Ausgesprochene sofort wahr werden lassen!
Bors bekam kein Wort heraus. Als Erwählter hatte er schon manche Frauen, oder Schamanen gesehen- aber Diese hier machte sogar dem jungen mansischen Erwählten Angst. man mochte ihnen nicht ins Wort fallen- so sehr, wie sie in Rage schienen.
Doch Marica, die Herrin, schien anderer Auffassung zu sein. Auch sie hatte- geschützt hinter den Männern- den Streit anhören müssen. Und sie wollte dazu allem Anschein nicht schweigend zusehen.
Mit einer eleganten Bewegung zwängte sich die schlanke Frau zwischen ihren Begleitern hindurch. Sie beließ es jedoch nicht dabei, nun aus der ersten Reihe dem Streit zuhören zu können. Sie ging die wenigen Schritte im Raum fast lautlos, um nahe bei der Schamanin Gabuna und dem Mann Jurek hinter dem Tresen zu stehen.
Skeptisch - ja fast böse wegen dieser unerwarteten Störung und Einmischung- blickte die Schamanin in das Gesicht der jungen Fremden.
Marica blieb von dem Blick unbeeindruckt, wenngleich der Blick der Schamanin jedem anderen Menschen in dieser Situation schon von der Entschlossenheit ernüchtert hätte.
Selbst die ruppigen und hartgesottenen Waldarbeiter hätten sich der Schamanin in diesem Moment nicht so Nahe heran gewagt- und diese Waldarbeiter waren oft durch Wodka enthemmt und schon von Erscheinungsbild furchteinflößend.
Marica zog ihre dicken Handschuhe aus und steckte sie in ihre Manteltaschen.
"Was willst Du? Und wer bist Du, dass Du Dich hier einmischen darfst? Mädchen?", gängelte die Schamanin Gabuna und schien kurz vor einer explosiven Entladung zu stehen.
Auch die hinter der Schamanin stehende andere ältere Frau mit Namen Galina blickte fragend und abweisend zu Marica hin.
Jetzt da Marica's Hände von den Handschuhen befreit waren, ergriff Marica mit einer langsamen fließenden Bewegung ihrer rechten Hand die knochige, lederne Hand der skeptischen Schamanin. Mit der linken Hand erfasste Marica nun eine Hand des Mannes am Tresen. Jurek hatte sie auf dem Tresen abgelegt.
Obwohl sich die Schamanin und auch der Mann für einen Moment wunderten über dieses Gebaren- so entspannten sich die Gesichter der beiden Streithähne mit einem Male, nachdem Marica beide erfasst hatte. Es schien für Bors als Beobachter fast so, als würde Marica wie ein Stromableiter oder Vermittler ohne Worte agieren- einfach durch dieses schlichte Berühren dieser zwei Hände die unterschiedlichen Positionen der zwei Streithähne wortlos zu klären und die Situation in eine für beide Parteien akzeptable Lösung zu verwandeln. Einfach nur durch diese einfache Berührung der Herrin.
Auch das Tantchen Galina, welche auch auf die Überzeugungskraft der Schamanin hoffte, nahm dieses seltsame Spiel wahr. Galina konnte erkennen, wie die Schamanin Gabuna sich aus einer Verkrampftheit löste und sich dieses engagierte Aufbäumen der Schamanin in eine vollkommene Entspannung auflöste.
Lonok legte Bors die Hand auf die Schulter. Er kam mit dem Kopf nahe an Bors heran und flüsterte dem jungen Erwählten leise nur ein Paar Wort ins Ohr: "Beeindruckend! Nicht wahr?"
Bors- von der Beobachtung und auch von Lonok's Worten berührt- konnte angesichts dessen nur leicht zur Bestätigung nicken.
Jurek, der eben noch eine andere Position vertrat, schien wie gewandelt. "Ihr hattet Recht, mich wegen Ivanka anzusprechen. Ich weiß, das euer Wunsch nur das Beste für Ivanka und das Baby bewirken soll. Ich werde mit ihren Eltern sprechen. Und wenn ihr Beide- Du Gabuna als Schamanin und Galina als ihre Tante mich unterstützt, wird Ivanka sicherlich auch bei mir bleiben dürfen. Sprecht bitte für mich. Ich hatte wohl nur zu großen Respekt vor ihren Eltern und ihrer Familie. Entschuldigt dies bitte."
Wie gewandelt war er.
Doch auch die eben noch Flüche aussprechende Schamanin schien nun sanft wie ein Lamm geworden. Sie antwortete ebenso sachlich und ruhig: "Ich danke Dir Jurek. Bist ein guter Mann- und wirst auch ein guter Vater sein- da bin ich mir sicher. Ich verstehe deine Bedenken. Wegen Ivanka, wegen ihrer Eltern und ihrer Familie- und wegen der alten Bräuche. Doch so ist es das Richtige. Und wegen deiner Sorgen, du könntest das alles mit Ivanka und dem Kind dann nicht schaffen- wir stehen zu Dir. Du bist nicht allein gelassen damit. Das Dorf- wir alle helfen Dir."
Tantchen Galina hörte diese ruhigen Sätze der Beiden zwar, verstand jedoch nicht, wie sich die zwei Streitparteien so schnell und voller Verständnis für den Anderen geeinigt hatten. Mit großen Augen und ratlos blickte sie in den kleinen Raum hinein und brachte kein Wort des Dankes hervor.
Marica lies die Hände der zwei Personen nun wieder los- ohne Worte nahm sie ihre Handschuhe wieder aus den Manteltaschen hervor und zog sie an.
Die Schamanin Gabuna blickte Marica dabei wie gebannt an- brachte aber erst dann ein Wort an die Neuankömmlinge hervor. "Ihr seit Uns willkommen, Fremde. Ich möchte Euch bitten, mir in meine Hütte zu folgen. Alle Drei- bitte folgt mir."
Dashilo, der Fahrer des Raupenschleppers, betrat in diesem Moment den Innenraum des kleinen Magazins. Kleine Schneekräusel brachte er aus dem Windfang des Vorraumes mit herein. Wie verwundert war er, dass die Schamanin wortlos und mit groß aufgerissenen Augen an ihm vorbei drängte. Bors und Marica folgten der Schamanin Gabuna.
"Alles gut? Hab ich was verpasst?", fragte Dashilo und sah alle im Raum verbleibenden Leute an.
Auch Lonok folgte der Schamanin als Letzter nun nach.
"Nein. Du hast nichts verpasst. Alles gut. Wir sprechen nur kurz mit der Schamanin. Kannst Du hier warten?", fragte Lonok.
"Ja?", antwortete Dashilo- mehr fragend als bestätigend.
Doch Tantchen Galina- guter Dinge war sie nun- machte eine Geste der Einladung zum Raupenschlepper- Fahrer.
Jurek legte einen Karton auf den Tisch. "Komm herein Dashilo- und wärm Dich bei Uns. Was gibt es an Neuigkeiten?"
Dann fiel die Tür in ihr hölzernes Riegelschloss zu.
Die Schamanin Gabuna hastete fast durch die Kälte hinüber zu einer kleineren Hütte. Auch hier kräuselte sich sanfter Qualm eines Feuerchens aus einem metallenen Kaminzug über dem Dach hervor.
Nachdem alle in der mollig warmen- aber einfachen Stube der Schamanin versammelt waren und sich bei der Hitze des Raumes sogar getrauten, die Mäntel zu öffnen und die Kapuzen herab zu schlagen, fand Sie zu ihrer Sprache zurück.
"Nun sagt mir: Wer seit ihr? Und was bei den Göttern ist dort gerade geschehen?", sprach sie fordernd.
Lonok führte zuerst das Wort- auch wenn Gabuna ihren Blick fest auf Marica gerichtet hielt.
"Wir sind drei Mansi- Leute! Mein Name ist Lonok, dies sind Bors und Marica- meine Enkel. Wir erbitten Obdach bei Euch, oder besser: ich erbitte Obdach bei Euch für meine Enkel- vielleicht für längere Zeit."
"Mansen?", hinterfragte die Schamanin fast ungläubig.
"Ja!", sprach Bors. "Wir stammen aus dem westlichen Sibirien, lebten in einem kleinen Dorf- östlich des Ural- Gebirges. Wir wollen ..."
Bors durfte nicht weiter sprechen, denn Gabuna unterbrach ihn mit einer schnellen und eindeutigen Handbewegung. Noch immer fixierte die Schamanin die junge Marica mit fast starrem festen Blick. Gabuna hörte zwar, was die Männer sagten, jedoch schien es sie unbeeindruckt zu lassen.
So schnell, wie sie Bors das Wort verboten hatte, so schnell zeigte sie nun mit dem Finger auf Marica. "Warte! Lasst Sie für Euch sprechen! Das Mädchen!"
Bors- immer noch eingeschüchtert von der Schamanin und ihren Gesten, sah besorgt zu Lonok. Sein Blick sagte nur eines: 'Sie traut unserer Geschichte nicht!'. Lonok zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schräge. Dabei biss er sich auf die Lippen- als wolle er Marica erklären lassen.
Marica hatte dies jedoch nicht gesehen. Sie verhielt sich still- antwortete nicht auf den Wunsch der skeptischen Schamanin.
Doch brachte dies die alte Gabuna nicht etwa gegen sich auf, wie man vielleicht denken würde. Gabuna ging nahe an Marica heran und ergriff Marica's Hände. Vielleicht erhoffte sich Gabuna dadurch Antworten, vielleicht wollte sie nur erfahren, was Marica vorhin geschehen ließ- mit ihr und mit Jurek in der anderen Hütte.
"Sprich Du- mein Kind. Ich weiß, was ich dort drüben mit meinen Augen gesehen und in meiner Seele gespürt habe. Und ich weiß, dass Du etwas Besonderes bist." Dann blickte die alte Gabuna zu Lonok und danach zu Bors herüber. "Und? SIE ist gewiss keine Mansi, auch wenn ihr Euch da eine Geschichte ausgedacht habt, die Andere täuschen kann." Nun sah die Schmanin tief in Marica's Augen. "Egal, was es ist. Sag mir einfach die Wahrheit!"
Marica hielt dem Blick stand. Noch immer hielt die Schamanin Gabuna die Hände Marica's. Doch Marica sprach kein Wort. Ob es über den tiefen Blick in die Seele oder die Berührungen der Hände war- weder Bors noch Lonok wussten es- aber ihre Herrin Marica schien eine Verbindung zu der alten Schamanin zu schaffen. Und die alte Gabuna beantwortete ihre Fragen laut heraus nun selbst.
"Du bist hier, weil du eine Zuflucht suchst- eine neue Heimat für Dich. Eine Heimat, wo Du allein sein kannst- ungestört von Menschen. Du suchst einen Ort, der Dir neuen Schutz gewährt. Du wurdest an deiner alten Heimat aufgespürt, ja? Von etwas Grausamen! Etwas Alten- Bösen! Du hast diesem Bösen für dieses Mal widerstanden. Doch Du hast Angst! Angst, dass es Dich erneut aufzufinden vermag. Nur deshalb suchst Du die neue Heimat bei Uns. Aus Angst vor dem Bösen- Angst um Diejenigen, die für Dich stehen. Die Erwählten, die Mansen, freundliche und gütige Menschen."
Marica lies kurz ihren Blick auf Bors und Lonok herüber schweifen- dann sah sie die Schamanin erneut an.
"Sie helfen Dir! Sie sind Erwählte? Freunde! Du vertraust ihnen- und dies schon seit sehr, sehr langer Zeit! Und Du? Bist die Beschützerin der Natur? Eine Sirene? Nymphenwesen? Die Letzte deiner Art auf Erden? Oh ihr Götter, steht ihr bei- und verirrst Dich hierher in den kalten Osten? Natürlich darfst Du bleiben!"
So abweisend, wie die Schamanin bislang auch war- jetzt, und ohne einen weiteren bewussten Einfluss der Göttin Marica auf die alte Frau- bereitwillig sah sie nun auch Bors und Lonok an. "Bleiben könnt ihr! Solange ihr es für nötig erachtet."
Dann wandte sie sich Marica zu und mit eng zusammengekniffenen gütigem Blick sprach die Schamanin weiter. "Und Du mein Kind brauchst Dir keine Sorgen mehr machen. Was in meiner Macht steht, werde ich tun, um Dir zu helfen und hier ein neues Zuhause zu schaffen. Was dir widerfahren ist, schmerzt mich sehr. Du bist mir hier mehr als willkommen."
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