✨Alec und die glitzernden Lebkuchenmänner ✨
In der Adventszeit schmücken sich deutsche Städte mit einer alten Tradition. Holzbuden werden aufgebaut, Lichter säumen die Wege und erhellen den Marktplatz mit ihrem leuchtenden Schein. Ein Baum, erhaben und funkelnd überragt die Köpfe der Menschen, welche sich der nostalgischen Stimmung der Weihnachtsmärkte nicht entziehen können. Auch mich treibt es auf den Marktplatz, inmitten von köstlich-aromatischen Glühwein und den Klängen der Heiligen Nacht. Die Winter in Deutschland sind oft kalt und grau, vereinzelt fällt eine Schneeflocke aus den Wolken und taucht die Welt in eine märchenhafte Szenerie. Dieses Jahr schneite es bereits Ende November und die Kinder erfreuten sich an der Pracht des Winterwunderlandes.
Festlich geschmückt begrüßen die Budenbesitzer ihre Gäste und eine von ihnen hat es mir besonders angetan. Ein Meer aus duftendem Tannengrün und kunstvoll arrangierten Schneeflocken zog mich bei meinem ersten Besuch magisch an. Ebenso der herrliche Duft nach frisch gebackenen Lebkuchen und eine Erinnerung aus frühen Kindheitstagen flutete mein Herz mit aller Liebe, die meine Mutter mir schenkte. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit war das Haus meiner Kindheit erfüllt mit den Stimmen verschiedenster Interpreten und den größten Weihnachtsklassikern der vergangenen Zeit. Mehlstaub wirbelte durch die Luft, Plätzchenteig landete in unseren Mägen, ehe er in den feurigen Tiefen des Ofens verschwand. Ich liebte diese Zeit des Jahres. Maryse Trueblood ist meine persönliche Heldin. Von der Familie verstoßen, dem Kindsvater sitzen gelassen und einer immer größer werdenden Bauchkugel, zog sie in eine fremde Stadt, eröffnete einen kleinen Laden, indem sie selbst genähte Kinderkleidung verkaufte und half mir mit ihren Idealen und Wertvorstellungen der Mann zu werden, der ich heute bin.
Mit ihrer offenen und fröhlichen Art schaffte sie es immer wieder die wilden stürmischen Zeiten in unserem Leben zu umschiffen, schaffte Oasen der Ruhe und Inseln des Glücks. Das Gerede der anderen Eltern war ihr egal. Geflissentlich ignorierte sie die abschätzigen Blicke und mitleidigen Kommentare. Ich war immer ein stilles und zurückgezogenes Kind, machte keinen Lärm und unnötige Unruhe. Mein bester Freund war die Literatur und so manches Kind fand mich seltsam. Nicht so meine Mutter. Ihre Liebe war grenzenlos und sie unterstützte mich in allem was ich tat. Egal ob es Ballettstunden in rosa Spitzenschuhen, Malkurse oder Reitstunden auf störrischen Ackergäulen waren. ‚Das Wichtigste ist der Spaß' war ihr Motto und so wuchs der Gedanke an ein farbenfrohes Coming-out. Lebkuchenmänner- und Frauen standen ganz oben auf unserer alljährlichen Adventsbackliste. Dieses besondere Ereignis bildete den Abschluss eines fröhlichen Nachmittages. Ich wusste bereits früh, dass Mädchen mich nicht interessierten. Die Jungs in meiner Klasse dagegen schon eher. Besonders ein Kerl hatte mir so dermaßen den Kopf verdreht, dass ich regelmäßig meine Sprache verlor, sobald er in meine Richtung sah. Jason und der Traum meiner schlaflosen Nächte. Heute weiß ich gar nicht mehr, warum ich ihn im zarten Alter von vierzehn Jahren so anziehend fand. Er war nicht besonders intelligent, brachte einen rassistisch-homophoben Spruch nach dem anderen und sammelte Abmahnungen wie andere Leute Pokemonsammelkarten.
In eben diesem Jahr beschloss ich, meine Mutter in das große Geheimnis um meine sexuelle Zukunft einzuweihen und die Lebkuchenmänner waren meine kleinen braungebackenen Helfer. Heimlich verteilte ich den bereits vorbereiteten Zuckerguss in unterschiedliche Schalen und brachte die eigentlich weiße Farbe zum Leuchten. Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Lila. Die Farben des Regenbogens und meine Mutter arbeitete summend vor sich her, formte Teigklumpen in ansehnliche Figuren und schob diese in die feurigen Flammen. Das Verzieren war meine Aufgabe und mit leicht zittrigen Händen befüllte ich die Spritzbeutel, schraubte Tüllen auf die Spitzen und kleidete einen köstlich duftenden Lebkuchenmann in sein neues Gewand. Die weißen Haare bekamen einen Hauch goldfarbenen Glitzer, die Kleidung bestand aus verschiedenfarbigen Streifen und Zuckerherzen als Knöpfe. Nervös drapierte ich den mit einem eindeutigen Statement versehenen Mann auf einem Teller und stellte diesen mit einer Tasse heißen Kinderpunsch zu meiner Mutter an den Esstisch.
Ich erinnere mich an Meterweise Stoff und Wolle. Die Kostüme für das alljährliche Krippenspiel machten sich nicht von allein und obwohl der Stress mit einem pubertären Teenager, eigenem Ladengeschäft und finanziellen Sorgen überwogen, ließ sich meine Mutter diese Freude nicht nehmen. Der Anblick des farbenfrohen Lebkuchenmannes zauberte ein Lächeln auf das Gesicht meiner Mutter und mit tränenfeuchten Augen sah sie mich an und nickte stumm. „Ach Alec", sagte sie und der Kloß in meinem Hals schnürte mir fast die Luft ab. „Bist du böse?", fragte ich und selten habe ich meine Mutter so erschrocken gesehen. Blitzschnell erhob sie sich, fegte tannengrünen Stoff von ihrem Schoß und zog mich in eine feste Umarmung. „Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?", fragte sie und ob es an meinen Teenagerhormonen oder der Vorweihnachtlichen Stimmung lag, vermag ich nicht zu sagen. Jedoch brachen die Tränen sturzbachartig aus mir hervor und eine tonnenschwere Last verließ meinen Körper. „Ich weiß nicht", war meine einzige Reaktion. „Ich habe es geahnt", antwortete sie und hauchte einen Kuss auf meine Haare.
Unkompliziert, leicht und warmherzig war unser Gespräch so wie alles was wir miteinander teilten. Es gab nie ein Ich, nur ein Wir und miteinander. Meine Mutter war immer für mich da und noch heute ist sie ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich verdanke ihr so viel, die Chancen, welche sie mir ermöglichte und Wege aufzeigte, von denen ich nicht einmal wagte, zu träumten. Der unverwechselbare würzige Duft frischgebackener Lebkuchen lässt mich lächeln und ehe ich mich versehe, stehe ich vor der liebevoll dekorierten Bude der Lebkuchenbäckerei und dem Mann mit den berauschenden Augen. Auf seiner Bordeaux-farbenen Schürze steht in gold-bestickten Buchstaben ein Name, dessen Bedeutung nicht passender sein könnte. Magnus, der Große, der Bedeutende. Für mich ist der heutige Besuch des Weihnachtsmarktes bedeutend. Heute werde ich den Mut aufbringen und den Lebkuchenmann ansprechen. „Heute wieder einen Regenbogenmann?", fragt er kaum das ich vor der Auslage Halt gemacht habe und sofort huscht ein nervöses Lächeln über mein Gesicht. Ich bin nervös und die Kälte des dunklen Dezemberabends wird von der Hitze in meinem Magen vertrieben.
„Ja. Nein. Also eigentlich wollte ich etwas anderes", stammele ich und verpasse mir innerlich einen Schlag auf den Hinterkopf, um meine Gedanken an Ort und Stelle zu rücken. „Oh. Da wird ihr Mann aber enttäuscht sein, wenn er heute auf seinen allabendlichen Lebkuchen verzichten muss."
„Ich bin nicht verheiratet", antworte ich und halte zur Bestätigung meine rechte Hand direkt vor sein Gesicht. Zielstrebig umfasst er meine Hand und die Wärme seiner Haut brennt sich durch jede Faser meines Körpers. So war das nicht geplant und sein stechender Blick verstärkt die Intensität des Feuers in meinen Adern um ein Vielfaches. „Auch nicht verlobt?", fragt er und betrachtet meinen Ringfinger nun genauer. „Nein. Ich bin Single", sage ich und das wohlige Brummen aus der Kehle meines Gegenübers lässt mich hart schlucken. „Also schon lange", schiebe ich unnötigerweise hinterher. „Keine Zeit oder keine Lust?", fragt er. Das er noch immer meine Hand in seiner hält entgeht mir nicht. Aber wer wäre ich mich dem zu verweigern? „Vielleicht etwas von beidem. Ich bin nicht so der Partygänger und mein neuestes Projekt nimmt ziemlich viel von meiner Zeit in Anspruch. Manchmal hasse ich mein Leben." Seufzend reibe ich mir mit der freien Hand über das Gesicht. Was rede ich hier? „So schlimm?", fragt er und ich kann mich kaum auf eine angemessene Antwort konzentrieren. Gebannt starre ich auf die Finger meiner Hand, welche nicht mehr von seiner warmen Haut gewärmt werden.
„Eigentlich nicht. Nur ein kleines dramaturgisches Problem und irgendwie lässt mich ein Gedanke nicht mehr los. Ich würde es furchtbar gerne schreiben, aber mein Verleger hasst es und ich bin leicht verzweifelt", gestehe ich. Mein Kopf ist feuerrot und brennt vor Nervosität. Was er wohl von mir denkt? Ein Fremder, der jeden zweiten Tag hier steht, Lebkuchenmänner in regenbogenfarbenen Latzhosen kauft und ihm nun sein Leid klagt. „Worum geht es?", fragt er und reicht mir eine dampfende Tasse. Dankend nehme ich das heiße Getränk entgegen und rieche den vertrauten Duft des Punsches. „Krimi", entgegne ich. „Mit oder ohne Blut?" ‚Realistisch' denke ich und sage genau dieses. „Das mag ich auch am liebsten. Ich lese gerne und viel. Das habe ich mit meiner Mutter gemeinsam." „Sehr schön. Lesen ist wie Kino, nur schöner." In stiller Übereinkunft nehmen wir beide einen Schluck von meinem absoluten Weihnachtslieblingsgetränk und prompt verbrenne ich mir die Zunge. „Achtung heiß", kichert Magnus und sein über den Rand der Tasse gerichtete Blick hat etwas Schelmisches, flirtend. Keine Ahnung, mir fehlt die Erfahrung um dieses ausreichend bewerten zu können. „Etwas spät", antworte ich und zaubere Wellen auf die Oberfläche des Heißgetränkes. Schweigend trinken wir Schluck um Schluck, sanftes Licht umwebt Magnus dunkle Haare und verstärkt das Funkeln in seinen Augen. Er ist schön und faszinierend.
„Also, was ist dein dramaturgisches Problem?", unterbricht er die Stille zwischen uns. „Mein Kommissar ist schwul und niemand darf es wissen?" Zweifelnd verziehe ich das Gesicht und Magnus tut es mir gleich. „Ist das nicht zu abgedroschen? Das hatten wir doch schon... keine Ahnung", überlegt er und zählt eine imaginäre Anzahl an seinen Fingern ab. „Ich weiß es nicht. Zu oft. Gibt es noch einen anderen Plan?", fragt er und ich blinzele überrascht. „Ne, eigentlich nicht. Das ist es ja. Oder auch nicht. Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist gerade so voll von Ideen und sie führen nirgendwo hin", antworte ich ehrlich und höre die Stimme meines Verlegers viel zu laut in meinem Kopf. ‚Keine Schwulen. Das verkauft sich nicht. Romantische Liebe zwischen einem Polizisten und der Staatsanwältin. Drama. Drama, das wollen die Leser.' Aber es ist nicht das was mein Herz berührt.
Warum muss alles immer so verflucht kompliziert sein? Als wäre das reale Leben nicht schon schwer genug. „Wenn es dich blockiert, dann solltest du es aufschreiben. Dann ist es raus aus deinem Kopf und du hast Platz für neue Ideen. Und wer weiß, vielleicht ist das der Durchbruch, den du brauchst", sagt Magnus und ich denke eine Zeit lang über seine Worte nach. Vielleicht. Aufschreiben, einfach raus mit dem Mist und den Kopf frei bekommen. Irgendwie. Es ist zumindest ein Anfang und die Deadline für meinen neuen Roman rückt unaufhörlich näher. Die Tage ziehen so schnell an mir vorbei, dass ich kaum Zeit habe die Schönheit der Adventszeit zu genießen. Das vergangene Jahr war schwierig, meine Mutter nach Jahrzehnten frisch verliebt und ich so verdammt eifersüchtig auf den neuen Kerl in ihrem Leben. An einem frustrierten Abend mit leeren Seiten und Wörtern in meinem Kopf, welche keine Bilder formten, konnte ich den Druck in meiner Brust nicht länger ignorieren. Ich glaubte immer, dass allein bleiben nicht so schlimm wäre. Meine Mutter war das beste Beispiel, es gab immer nur uns zwei. Doch wie Milliarden andere auch, so sehnt sich mein Herz ebenso nach Liebe und Zuneigung, schmettert mir mit jedem voranschreitenden Jahr lautstark entgegen, endlich die Klammern, um den Brocken in meiner Brust zu lösen.
„Alec?", reißt eine schrille Stimme mich unsanft aus meinen Gedanken. Irritiert blinzele ich und schaue in das lächelnde Gesicht von Magnus. „Du bist Alec Trueblood, oder?" Ich höre die Worte, doch Magnus Lippen bewegen sich nicht. Seine Stimmfarbe passt auch nicht zu dem, was sich schmerzlich durch meinen Gehörgang arbeitet. Magnus Kopf bewegt sich leicht, eine kleine Geste in die entgegengesetzte Richtung und wie besessen, folge ich ihr. Ella. Natürlich, wenn ich jemanden aus meiner Vergangenheit hier treffe, dann ist es Ella. Ausgerechnet heute, wo ich meinem Ziel ein Stück nähergekommen bin. „Hallo Ella. Ist lange her", sage ich höflich. Ich will kein Arschloch sein, auch wenn alles in mir Ella anschreit, doch einfach wieder zu gehen. „Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich arbeite jetzt bei Paps in der Praxis und stelle dir vor, ich bin Mutter. Zwillinge und sie bringen mich an den Rand des Wahnsinns. Aber, nicht heute. Heute habe ich einen freien Abend und ich will ihn genießen. Was treibst du so?" Nichts. Schreiben. Leben. „Ich habe deine Mutter neulich gesehen. Ist sie wieder mit deinem Vater zusammen?", plappert sie fröhlich drauf los. „Nein, das ist Paul. Der Partner meiner Mutter. Sie sind jetzt ein knappes Jahr zusammen. Er ist cool, irgendwie", entgegne ich und höre ein kratziges Husten. Der Unterton in meiner Stimme war für Ella kaum zu hören, doch Magnus schaut mir aus wissenden Augen entgegen.
„Das ist doch schön. Ihr wart immer allein. Endlich ein Mann in deinem Leben", sagt Ella und zwinkert mir verschwörerisch entgegen. „Ja, ist großartig", erwidere ich knapp. Warum kann sie nicht einfach gehen? „Darf es etwas Bestimmtes sein junge Dame?", rettet Magnus mich aus dieser für mich sehr unangenehmen Situation. Ella war immer ein nettes Mädchen, verdrehte den Jungs in ihrer Nähe reihenweise die Köpfe und war meine Maria beim alljährlichen Krippenspiel. Ich konnte sie immer gut leiden. „Ein pinkfarbenes Herz bitte und... oh die sind ja süß. Alec, schau mal. Lebkuchenmänner in deinen Farben." Seufzend verdrehe ich die Augen und schenke Ella ein versöhnliches Schmunzeln. „Alec", betont Magnus meinen Namen überdeutlich und wie ein Funkenregen prasselt die Erkenntnis auf mich hernieder. Ich habe ihm nicht mal gesagt, wie ich heiße, dabei hatten wir ein, wie ich fand sehr angenehmes und persönliches Gespräch. „Alec hat bereits ein paar der Regenbogenmänner erworben. Möchten sie auch einen mit nach Hause nehmen?", fragt Magnus in seiner charmanten Art und Ella ist überzeugt. „Fünf bitte. Mein kleiner Bruder hat sich vor einer Woche gegenüber unseren Eltern geoutet und ich habe das Gefühl, etwas moralische Unterstützung von fünf starken Männern, würde ihm ganz guttun." Überrascht schaue ich zu Ella. Jonas? Das seine Schwester ihm eine solche Stütze ist, macht Ella noch sympathischer, als sie in meiner Erinnerung es immer gewesen ist.
„Es war schön dich zu sehen, Alec. Melde dich mal. Deine Mutter hat meine Nummer", sagt Ella und verabschiedet sich winkend von uns. „Ella also", kommt es kichernd von Magnus. „Wir kennen uns schon lange. Als Kinder haben wir beim Krippenspiel die Maria und den Josef gespielt." „Und du warst hoffentlich Maria." Grinsend presse ich die Lippen zusammen und halte die Luft an. Hitze sammelt sich in meinem Kopf und plötzlich ist es alles zu viel. Prustend entweicht die Luft aus meinen Lungen und eigentlich weiß ich gar nicht genau, warum mich seine Worte so amüsieren. „Ich war schon Josef, aber Maria machte es sich zur Aufgabe, die armen Kirchgänger zu schockieren. Sie war nicht immer so unschuldig", sage ich und schwelge in der Erinnerung an diesen Tag. Wir waren beide sehr nervös. Ich, weil meine größte Sorge war, den Text zu vergessen und mich vor der kompletten Stadt zu blamieren und Ellas, dass der angedachte unschuldige Kuss nicht für den Skandal sorgte, den sie sich wünschte. Teenager. Man möge sie verstehen.
„Wir waren vierzehn und Ella hat mich geküsst. Als die heiligen drei Könige mit ihren Gaben in die Scheune kamen und ich weiß noch wie eklig nass sich ihre Zunge in meinem Mund angefühlt hat. Auch ihr Körper an meinem. Ich wusste damals schon, dass Mädchen mich nicht interessieren. Sie waren nett und hübsch, aber meine Fantasie beflügelten eindeutig die heiligen drei Könige." „Was für ein Skandal", lacht Magnus. „Von einem der Könige weiß ich, dass er auch lieber Josef als Maria mit in die Herberge genommen hätte." „Woher?", fragt Magnus grinsend. „Er hielt mir die Haare", antworte ich ausweichend und beschämt. Was rede ich hier? „Was?" Magnus ist sichtlich irritiert und ich kann es ihm nicht verdenken. Ich rede mich um Kopf und Kragen. Über mich selbst lachend schüttele ich den Kopf und greife nach der Tasse, um meine Hände zu besänftigen. Die Keramik ist kalt und der Punsch entlässt keine dampfenden Schwaden mehr. Schade.
„Ich war so nervös", gestehe ich. „Vor dem Krippenspiel habe ich versucht meine Nerven zu beruhigen. Ella hatte die Hausbar ihrer Eltern geplündert. Ob es meine Nervosität, das Blubberwasser, meine Überraschung über Ellas feuchte Zunge an meinem Gaumen war, ich weiß es nicht mehr. Plötzlich schmerzte mein Magen und mir war kotzübel. Ich habe mich übergeben. Mitten auf Ellas Kleid und Balthasar kam zu meiner Rettung geeilt." Der Beginn einer wunderbaren Zeit, mein erster Freund, mein erstes Mal, Elias mit den giftgrünen Augen und haselnussbraunen lockigen Haaren. „Das solltest du schreiben", sagt Magnus ernst. „Nonsens, das ist ein dummer Teenager... was weiß ich was Ella damit bezwecken wollte. Sie wusste, dass ich auf Typen stand", verwerfe ich Magnus Vorschlag und die einsetzende Stille zwischen uns legt fröstelnde Kälte über meinen Leib. Meine Hände zittern und ein kalter Stern legt sich auf meine Haut. Schnee fällt aus den Wolken und lächelnd blicke ich zum Himmel, sehe tanzende weiße Flocken und eine landet sterbend auf meinen Wimpern. Verschwommen betrachte ich die glitzernde Form, blinzele und viel zu schnell ist dieser Moment vorbei. „Es schneit", flüstere ich und spüre warme Finger an meiner kalten Haut.
„Möchtest du dich vielleicht einen Moment aufwärmen? Du stehst schon eine Weile in der Kälte", fragt Magnus und nickend betrachte ich unsere Hände. Sie sind schön, zusammen. Schneeweiß trifft auf Sonnengeküsst. „Dann komm, hier drin ist es mollig warm und du kannst mir helfen." „Wobei?", frage ich. Magnus hält mir einen nackten Lebkuchenmann entgegen und verstehend nicke ich. „Damit kenne ich mich aus", erwidere ich und gehe um die geschmückte Holz Bude herum. Magnus öffnet mir die schmale Tür. Es ist eng und mein Arm streift sanft über seine Brust als ich versuche durch die zu niedrige Tür zu gelangen. Mein verräterisches Herz macht einen Salto. Prima. „Du heißt also Alec. Ich bin Magnus", sagt er und hält mir eine ebenso Bordeaux-farbige Schürze entgegen, wie die seine. „Ich weiß, steht auf deiner Schürze." Dankend nehme ich das Stück Stoff entgegen, doch Magnus denkt nicht einmal daran und legt den Träger fachmännisch über meinen Kopf. Seine Hände streifen meine Haare und ein wohliger Schauder überzieht meine Haut. Ein aufgeregtes Kribbeln stellt sich ein, wieder ein Salto meines Herzens und mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass ich heute Nacht sterben werde. Wie soll ich mit dieser Fülle an Emotionen weiterleben?
„Möchtest du den Mantel vielleicht ausziehen?" fragt Magnus und ich verneine kopfschüttelnd. Lieber nicht. „Also gut Alec..." „Eigentlich heiße ich Alexander", unterbreche ich Magnus. „Passt viel besser zu dir. Warum Alec?" Weil meine Mutter... nicht heute. „Meine Mutter nannte mich immer Alec", erwidere ich knapp und Magnus fragt nicht weiter nach. Stattdessen legt er seine Hände an meine Hüften und ich halte überfordert den Atem an. Fuck, es befinden sich mehrere Schichten Stoff zwischen seiner Haut und meiner und doch kann ich die Flut an Bildern, welche sich in meinem Kopf formen nicht stoppen. Magnus Augen blicken mir funkelnd entgegen, er ist mir so nah. Flimmernde Lichtpunkte tanzen um die Schatten, ich spüre den Sog, eine Macht und den Drang Magnus zu küssen. „Dreh dich mal", flüstert er und der sanfte Druck auf meiner Hüfte lässt mich fast durchdrehen. Behutsam schließt er die Schlaufen, streichelt langsam über die wärmende Wolle meines Mantels. Mein Körper steht in Flammen und die Erregung zieht sich über die gesamte Oberfläche.
„Okay, Alexander. Hier drüben findest du alles was du benötigst. Ich kümmere mich um die Kundschaft und du darum, dass die armen Wichte nicht länger nackt sein müssen." Magnus ist charmant, schenkt jedem Kunden die gleiche Aufmerksamkeit und zusammen sind wir ein klasse Team. „Blubberwasser?", fragt er irgendwann und unterbricht meine akribische Konzentration. „Lieber Punsch", antworte ich leise, ziehe Linie um Linie, Orange folgt auf Rot, dann Gelb und mit jeder weiteren Farbe wächst der strahlende Regenbogen und mein Grinsen. Lange war ich nicht so stolz auf eine Arbeit. Nach vielen Jahren sind die Handgriffe in Fleisch und Blut übergegangen. „Hast du Zuckerherzen? In weiß?", frage ich und Magnus reicht mir kommentarlos eine kleine Schale. Wieder berühren sich unsere Hände und wieder überschlägt sich mein Herz auf eine ungesunde Weise. „Das machst du nicht zum ersten Mal. Ich bin begeistert. Wie sauber und präzise du arbeitest", lobt Magnus meine Werke und stolz lächele ich ihn an. „Danke", murmele ich. „Das ist Tradition im Hause Trueblood. Meine Mutter und ich backen jedes Jahr Plätzchen und Lebkuchenmänner. Der hier", sage ich und zeige auf ein besonders gelungenes Exemplar. „Sieht dem Lebkuchenmann, der mir bei meinem Coming-out geholfen hat, schon sehr ähnlich. Fehlt nur noch der Goldglitzer in den Haaren. Hast du Glitzer?", frage ich euphorisch und meine Augen wandern wie von selbst über sein schönes Gesicht, speichern die Farbe seiner Haut und die unterschiedlichen Töne in den Augen. Und plötzlich weiß ich, dieser Mann, Magnus, wird der Hauptprotagonist in meinem nächsten Roman. Deutlich sehe ich es vor mir, ein starker Partner für einen zweifelnden Schriftsteller.
„Klar, irgendwo... hier... im Chaos", suchend blickt Magnus sich um. Das Haus der Lebkuchenmänner ist nicht sonderlich groß, doch vollgestopft mit Kisten, in denen sich Zutaten für den Zuckerguss, weihnachtlich bedruckte Geschenktüten, Backutensilien und eine beachtliche Menge gebackener Köstlichkeiten verbergen. Nicht nur Lebkuchenmänner zieren die Auslage, Herzen, Schaukelpferde, Sterne und sogar ein Miniaturhaus. „Gefunden", ruft Magnus fröhlich und hält mir eine kleine Sprühflasche entgegen. „Perfekt. Danke", erwidere ich und zaubere ein zufriedenes Lächeln auf Magnus Gesicht. Das macht ihn umso schöner und meine Hände zittern leicht, als unsere Haut ein weiteres Mal aufeinandertrifft. Einen Wimpernschlag später erstrahlt der würzige Lebkuchenmann in bunten glitzernden Farben. Es ist von allem etwas viel, aber wann, wenn nicht zu dieser Jahreszeit, kann man seiner kreativen Ader den nötigen Freiraum verschaffen?
„Jetzt ist er perfekt", haucht Magnus und ich spüre seinen warmen Atem in meinem Nacken. „Woher wusstest du eigentlich, dass ich schwul bin?" Was hat mich verraten? Das frage ich mich bereits den ganzen Abend. „Das hier", wispert Magnus. Seine langen Finger gleiten über die wärmende Wolle meines Mantels, schieben sich neckend unter den Saum und legen mein Handgelenk frei. „Oh", sage ich und höre Magnus tiefes Brummen. Der Bass vibriert an meinem Rücken, schickt elektrische Impulse über meine Haut. Alles prickelt und schwingt, eine feurige Explosion ausgehend von den Nervenenden entlang der Wirbelsäule. Tief einatmend betrachte ich seinen Finger, welche andächtig über das schwarze Lederband gleiten. '100% Mensch' prangt in leuchtenden regenbogenfarbenen Lettern auf dem Armschmuck. Ein Geschenk meiner Mutter, das Symbol für ihre Liebe und Akzeptanz. „Ich habe das gleiche."
„Habt ihr noch mehr Traditionen?", fragt Magnus interessiert und wechselt so abrupt das Thema, dass ich einen Moment brauche, um meine Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken. Weg von der erregenden Explosion in meinem Herzen und hinein in die wunderbare Welt der Weihnachtszeit. „Ähm... ja... das Baumschmücken und... zählen Weihnachtsfilmklassiker anschauen?" „Klar, meine Mutter schaut jedes Jahr die Filme vom Leben der Königin Sissi. Das ist so schrecklich langweilig und kitschig. Ich kann die echt nicht leiden. Aber verrate es ihr nicht. Das bricht ihr das Herz", gesteht Magnus zwinkernd. „Auf keinen Fall. Das bleibt unser kleines Geheimnis", bestätige ich verschwörerisch. „Wie Ella bereits ausplauderte, gab es all die Jahre nur meine Mutter und mich. Wir verbrachten die Feiertage immer zusammen und schufen eigene Traditionen. Meine Mutter hat einen kleinen Laden in der Innenstadt und gefühlt rund um die Uhr gearbeitet. Dennoch hat sie jeden Tag eine warme Mahlzeit für uns zwei auf den Tisch gezaubert, meine schlechte Stimmung und die Stille ertragen. Sie war immer für mich da und ich habe einen Vater nie vermisst. Das Baumschmücken haben wir immer gemeinsam gemacht. Am Heiligabend und dabei liefen Filme wie 'Drei Haselnüsse für Aschenbrödel' oder 'Väterchen Frost'. Am frühen Abend gingen wir in die Kirche, ich spielte Josef und Mama war die stolzeste Mutter auf diesem Planeten. Die Bescherung fand unter dem strahlenden Weihnachtsbaum mit leiser Musik im Hintergrund statt. Ich erinnere mich gerne an diese Momente. Sie hat so viel geopfert. Für mich, für uns. Damit ich eine fröhliche Kindheit haben kann. Ich habe ihr meinen ersten Roman gewidmet", sage ich, atme tief ein, durchflute die Lungen mit lebenswichtigem Sauerstoff und verdränge die aufsteigenden Tränen.
„Alles okay?", fragt Magnus besorgt. Beruhigend streicht er über meinen Rücken und ich nicke. „Ja. Es ist nur so, dass es unser erstes Weihnachtsfest ist, was wir getrennt voneinander feiern. Mal abgesehen von meinem Jahr in Amerika. Aber da kaperte sie spontan ein Flugzeug und stand überraschend vor der Tür meiner Gastfamilie. Du musst mich für beschränkt halten. Hier einfach so vor dir loszuheulen." Das ist mir doch etwas unangenehm. Mindestens so viel wie der kotzende Josef. „Gar nicht. Ihr standet euch immer sehr nahe. Ich kenne das. Mein Vater war mein bester Freund und als er starb, fühlte ich mich verloren. Wer Kummer kennt, weiß am ehesten was Glück ist." Bestätigend nicke ich, Magnus Hand auf meinem Rücken verteilt sanften Druck und Halt. Ich genieße seine Berührungen. Sehr. „Ich bin so dumm", ertönt es plötzlich. Magnus Hand verlässt meinen Rücken, kollidiert mit seiner in Falten liegenden Stirn und kopfschüttelnd sieht er an mir vorbei. „Nein, du bist zauberhaft", entgegne ich schmunzelnd. „Du bist es, oder? Der Autor, Krimi, Trueblood. Du bist Gideon Trueblood und meine Mutter ist dein größter Fan. Sie bringt mich um, wenn ich dich nicht zum Essen einlade." „Dann tu es. Lad mich ein. Vielleicht sage ich ja", erwidere ich und Magnus strahlt über das ganze Gesicht. Die Haut in meinem Nacken ist heiß und kribbelt, tiefschwarze Pupillen reflektieren das sanfte Licht und zeigen mir den Mittelpunkt der Welt. „Wie gerne ich dich jetzt küssen würde", murmelt Magnus gedankenverloren. Mit flatternden Augenlidern steht er vor mir, ein kleiner Schritt und meine Brust berührt sanft die seine.
Zart finden unsere Münder zueinander, ertasten weiche zartrosa Lippen, fühlen, spüren, keine Hast, kein Drängen. Einfach Magnus pur und all die Worte in meinem Kopf sind überflüssig, verstummen. Ich fühlte mich immer wie der verlorene Junge, auf der Suche nach dem tiefen Sinn des Lebens. Manche Krise verarbeitete ich in Texten, schrieb stundenlang den Kummer von meiner Seele. Magnus zu küssen, die Symbiose unserer Lippen zu spüren, gefangen im Rausch der Gefühle, das ist alles wonach ich stets suchte. Ich spüre es, tief in mir, diesen Sturm wild tosend und tranceähnliche Ruhe. Sanftes Wellenrauschen und meine wirbelnden Gedanken erlöschen, betten sich in wolkenweiche Laken, welche wir gemeinsam teilen.
Ein letzter Kuss auf seine anbetungswürdigen Lippen, die sanfte geschwungene Linie und ich öffne seufzend meine Augen. Magnus sieht mir mit verklärten Blick entgegen. „Fuck", haucht er. Dabei fährt seine Zunge über das zarte Fleisch, kostet meinen Geschmack und sämtliche Sicherungen in meinem Kopf brennen lichterloh, stehen in Flammen wie mein Herz und die Lunge. Da ist Druck in meiner Brust, über dem Herzen und Magnus Finger fiebrig an meiner Haut. Da sind Lippen, weich mit dem Geschmack nach Nelken und Früchten, heiß und verlangend. Da ist Hitze in meinem Körper, flammende Leidenschaft und der Wunsch nach Unsterblichkeit.
-ENDE-
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