
- Prolog -
Eisige Luft rann wie Feuer meine Kehle hinab und breitete sich in meiner Brust aus, so als wolle sie mich von innen heraus verzerren wollen. Käuchend griff ich nach meiner Kehle ohne mit meinen klammen Fingern auch nur einen Hauch von Wärme schenken zu können.
Kalter Schweiß ließ mein dreckiges Shirt an meinen ausgemergelten Oberkörper kleben und schien damit meine Bewegungsfreiheit noch weiter einzuschrenken. Auch wenn ich wusste, dass es nur meine Müdigkeit war, schien es mir dennoch tonnenschwer am Leibe zu hängen. Das Gewicht wollte mich immer weiter hinab ziehen. Ich stolperte als ein loser Stein unter meinem Schuh wegrutschte. Kurz bevor meine Hand den Waldboden berühren konnte, fing ich mich auf. Ein kurzer Schmerz durchsuchte mein Knie, doch ich biss mir fest auf die Zunge, um den Schmerz zu übertönen. Blut floss in meinen Mund, die erste Flüssigkeit seit Stunden. Der metallene Geschmack breitete sich auf meinen Geschmacksknospen aus und angewiesert verzog ich das Gesicht. Wenigstens gab es mir ein wenig Ablenkung. Meine Hose, zerissen von den Dornen der Büsche und den Ästen auf meinen Weg, zog blutige Schlieren hinter mir her. Frostige Finger krallten sich mein Fleisch und ich torkelte erneut, als der Schmerz meine Beine hinauf schoss. Ich brauchte einen Moment, um mich wieder zu fangen, dann beschleunigte ich noch weiter und spurtete dem roten Schopf vor mir hinterher. Mein Herz pochte in meiner Brust, so schnell wie die Maschine im Melkwerk. Oder wie mein kleiner Bruder, der lautstark auf seiner Handtrommel herum klopfte, die er letztes Jahr zu seinem fünften Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Im unregelmäsigen Takt, einem kurzen Aussetzer, dann noch schneller. Noch gestern Abend, hatte er mir darauf vorgespielt. Ich hatte ihn angeschnauzt, leiser zu sein. Mutter brauchte Ruhe. Umso lauter klopfte er weiter. Eine Welle des Hasses überflutete meine Seele als ich an den Moment zurückdachte. Ich stoplerte kurz. Wie unwichtig meine Schelte gewesen war. Heute hätte ich ihn für seinen Versuch, die Stimmung aufzuhellen gelobt und in den Arm genommen. Das würde ich nun nie wieder tun können. Mit schmerzverzerrten Gesicht rannte ich weiter den Berg hinauf. Stille Tränen rannen meine Wangen hinunter. Ich machte mir nicht die Mühe sie abzuwischen. Die Äste knackten, wenn meine Füße sie zum brechen brachten. Mein Atem glich dem Rauch der immer aus unserem Kamin stieg, wenn meine Großmutter gekocht hatte. Meine Lungen brannten vor eisiger Luft und mein Magen krampfte sich vor Anstrengung zusammen. Dennoch spürte ich die Kraft in meinen Muskeln. Früher hätte ich niemals so schnell, so lange laufen können, doch seit gestern, war alles anders. Warum nur, warum ich. Ich ballte meine Fäuste und presste die Zähne zusammen. Weiter, weiter, weiter. Nur nicht stehen bleiben. Ich glaubte nicht, dass uns noch jemand folgte. Doch insgeheim musste ich fühlen, das sich etwas anbahnte. Ich wusste nur nicht was, ich wusste nur nicht wer. Und ich wusste nicht einmal, warum. Ich hatte ja noch nicht einmal verarbeiten können, was genau passiert war. Das einzige was ich wusste war, dass ich schneller und weiter laufen konnte als je zuvor. Noch gestern wäre ich nach einigen hundert Metern jampsend stehen geblieben und heute lief ich schon seit mehreren Stunden. Meine Muskeln brannten, ich war kurz vor dem Kollaps. Aber ich rannte! Ich rannte, rannte, rannte und ich würde nicht stehen bleiben. Dachte ich. In diesem Moment zischte etwas Milimeterweit von meinem Ohr vorbei. Mit einem Klong blieb es in einen Baum wenige Meter vor mir stecken, den ich mit einigen wenigen Schritten passierte. Kurz drehte ich meinen Kopf und blickte den Pfeil im Stamm verdattert an. Ich hatte nicht einmal Zeit zu reagieren. Schon schoss ein weiteres Geschoss heran. Ich hörte nur noch das Surren durch die Luft zischen, als er die Luft spaltete und sauber in meine rechte Schulter eindrang. Mit einem Schrei fiel ich zu Boden. Kleine Steine und Äste bohrten sich in meine Hände und Knien als diese meinen Fall abfederten. Der Schmerz schoss meine rechten Arm hinauf bis zur Schulter und dann wieder zurück bis in meine Fingerspitzen. Ich sackte zur Seite und hielt mir meinen schmerzenden Arm. Ich rollte mich auf dem Rücken, die spitzen Steine, die mein Shirt zerissen, ignorierend. Blut rann mir über die Finger, über den Ärmel, auf den Boden und ich wollte nur das dieser elende Schmerz endlich aufhörte. Er raubte mir die Sinne und den Atem. Ich röchelte. "Lyeen", durchriss eine Stimme das Fiepen, das sich in meinen Ohren ausgebreitet hatte. Ich riss meinen Kopf hoch und sah wie sich Nyx den Weg zu mir hinunter bahnte. Sein Gesicht war vor Panik erfasst und spiegelte sicher meine eigenen Emotionen wider. Hau ab, hau ab, wollte ich schreien, doch meinen Lippen wollten sich nicht öffnen. Einzig ein leises Wimmern kam über meine Lippen, als ich mich in Richtung Tal drehte, um zu sehen, wer auf mich geschossen hatte. Der Wind pfiff um meine Ohren. Meine Haare fielen in Gesicht und verdeckten meine Sicht. Ich strich sie mit meiner linken Hand aus meiner Stirn und spürte wie das Blut an meiner Stirn kleben blieb. Ich konnte niemanden sehen, niemanden riechen, niemanden fühlen, doch ich hörte wie jemand in meiner Nähe gedrückt, aber schwer atmete. Die Welt um mich herum begann zu sich zu bewegen, zu tanzen. Dann kippte alles plötzlich zu Seite. Oder war das ich? Meine Wange berührte plötzlich den trocken Waldboden. "Mhh", machte ich und ich wusste nicht ob ich belustigt oder beunruhigt sein sollte. Hatte sich meine Wange nun auch aufgeschlagen? Ich spürte keinen Schmerz mehr. Es fühlte sich wie an wie Schweben. Es fühlte sich an wie Sterben. Ich kicherte. "Scheiße, verdammt", hörte ich eine Stimme über mir. Ich zuckte zusammen und sah hoch zu der Stimme über mir. Erleichterung überflutete mich als ich mein Gegenüber erkannte. Nyx. Selbst nach diesen ganzen Stunden der Anstrengung sah er immernoch wunderschön aus. Sein rotbraunes Haar leuchtete in Schein der Sonne und seine besorgten blauen Augen blickten direkt in die meinen. "Lyeen, raff dich zusammen, wir müssen weiter!", seine Stimme klang gepresst. Ich brachte nur ein leises Murren zusastande. Meine Muskeln krampften sich ohne mein zutun zusammen und ich genoss das Gefühl. "Ich hätte dir schon früher sagen müssen, was ich für dich empfinde", nuschelte ich und spürte das debile Grinsen mein Gesicht erhellen. Dabei war mir zum Heulen zumute. Ich würde sterben, ohne diese unglaublich weichen Lippen je auf den meinen gespürt zu haben.
Ich wollte meine Hand heben und meine Finger über seinen Mund streichen lassen. Mein Arm hob sich nur einige wenige Zentimeter weit, bevor er wieder nutzlos zu Boden viel. Der Lauf musste doch anstrengender gewesen sein als ich gedacht hatte.
"Der Pfeil muss vergiftet sein", fluchte Nyx. Er griff nach dem hölzernen Schaft und versuchte ihn hinauszuziehen. Der Schmerz ließ alle Müdigkeit aus meinem Körper fahren. Schreiend riss ich meine Augen auf und stieß ihn von mir. "Wir müssen ihn rausholen, bevor er noch mehr Schaden anrichtet", zischte Nyx. Seine sonst so humorvolle Stimme klang gepresst. Seine Hände umfassten meine Oberkörper und er presste mich zurück auf den Waldboden. Ich wollte mich wehren, doch ich fühlte mich schwer. Anders als zuvor war es keine Müdigkeit, die mich zjrück hielt, sondern ein nebliges Gefühl, dass sich in meinem Geist und meinem Körper auszubreiten schien. Wäre Nyx' Griff nicht so fest um meine Schultern geschraubt, hätte ich meinen Kopf sicher wieder auf den Waldboden abgesenkt.
Äste knackten. Mein Kopf fuhr herum. Das Geräusch ließ mich kurz aus meiner Wattewelt herausfahren. Schritte näherten sich. Ein, zwei, drei. "Nyx, renn", flüsterte ich. Er schüttelte den Kopf und versucht mich aufzuraffen. Voller Panik sah ich ihn an. Er würde mich nicht tragen können. Nicht nach den ganzen Stunden. Und selbst wenn er es schafften würde, würde es ihn sehr verlangsamen. Es war aussichtslos. "Renn, Nyx, renn", presste ich heraus. Als er sich immer noch nicht anstellte sich zu bewegen, flüsterte ich gepresst: "Für mich". Es versetze mir einen Stich, als seine Finger seinen Griff tatsächlich lösten. Seine Augen spiegelten seinen inneren Konflikt wider. Dennoch hatte er sicher die gleiche Rechnung gemacht wie ich. Und mit mir als Variable war sie einfach nicht zu lösen. Kurz beugte er sich zu mir herunter. Flüchtig, sodass ich beinahe befürchtete, dass das Gift mich nun auch noch halluziunieren ließ. Dann stob er an mir vor bei. Er sprach keine Worte des Abschieds und drehte sich auch nicht erneut zu mir um. Wie ein roter Pfeil schoss er durch den dunkelgrünen Wald. Weiter, weiter und weiter von mir fort. Und ich wusste, er wollte, dass wir uns wiedersahen. Er würde mich wiederfinden. Das Prickeln, welches seine Lippen auf den meinen gelassen hatten, waren sein Versprechen und seine Worte des Abschrieds. Mit dieser Erkenntnis zog mich die Dunkelheit in eine feste Umarmung.
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