Kapitel 40
Erschrocken fahre ich hoch. „Schhh", flüstert mir Colette zu. Ich habe keine Ahnung, wann ich eingeschlafen bin. Die Dunkelheit im Salon wird nur durch den flackernden Schein einzelner Kerzen durchbrochen. Colette deutet auf Lady Chastain. Ruhig hebt und senkt sich ihre Brust. Lautlos schäle ich mich aus der Decke und hieve mich hoch von meinem Nachtlager. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ziehe ich die Luft zischend ein, als ich mit dem Knie gegen die Tischplatte stoße. Während das Klirren des Geschirrs verstummt, wage ich es nicht mich weiter zu bewegen. Halte gespannt den Atem an, während sich die hagere Gestalt von Lady Chastain murmelnd unter einem Berg aus Decken auf der Couch bewegt. Aber wir haben Glück. Sie schläft weiter.
Erleichtert folge ich Colette in den Flur. Lautlos schließt sich die Tür hinter uns. Automatisch werfe ich einen Blick auf mein Handy. Viel zu viele verpasste Anrufe und Mitteilungen. Mein Magen verkrampft sich. Für eine Sekunde hatte ich den Weltuntergang vergessen. Doch nun trifft er mich wieder mit seiner ganzen Wucht. Ich will gar nicht wissen, wie es mittlerweile in Stockholm aussieht, ob unser Haus das letzte ist, was steht – geschützt von der Macht des Großmagiers, der verschollen ist. Askyell.
Ohne dass wir ein Wort wechseln führt mich die Gräfin in das Esszimmer. Und da sitzen sie: die geschlagenen Krieger. Und sie schauen nicht einmal auf von ihrer Suppe, die sie sich mit letzter Kraft zuführen. Wie der Löffel in Ms. Gãos Hand zittert. Mir wird schwindelig. Ich schlucke. Von ihrem Mana ist fast nichts mehr übrig. Selbst die Flamme des Altgroßmagiers droht zu erlöschen. Schweigend nehme ich neben Mr. Warden Platz. „Möchten sie auch eine Kleinigkeit essen, Ms. Lindgren?" Ms. Doll sieht mich erwartungsvoll an, aber ich lehne dankend ab. Der Hunger ist mir gleich beim Betreten des Raumes vergangen. Der Geruch von Blut liegt in der Luft.
„Wie schlimm ist es?" Colettes Frage durchbricht die Stille. Zaghaft mustere ich die verkrustete Haut von Ms. Gão. Yang. Das rote Haar fällt ihr strähnig über die Stirn. Aber niemand erbarmt sich, uns eine Antwort zu geben. Also warten wir. Die Uhr tickt bedrohlich, während ich meine Hände knete. Colette verliert die Geduld. Mit einem Ruck steht sie, schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Redet gefälligst!" Trotz dieses Ausbruchs erkenne ich keinerlei Regung in den Gesichtern der anderen. Mr. Warden tupft sich mit der geblümten Serviette den Mund sorgfältig ab. Mit einem Zug leert er sein Glas. Dann fixieren seine stählernen Augen Colette. Beim Klang seiner Stimme zucke ich zusammen.
„Ein Alptraum", mehr erwidert er nicht.
Aber durch seine Worte scheint auch Ms. Gão aus ihrer Trance erwacht zu sein. Erklärend fügt sie hinzu: „Die halbe Stadt liegt in Schutt und Asche. Dämonen kommen aus allen möglichen Ecken gekrochen. Die Nichtmagischen haben sich in ihre Bunker zurückgezogen. Als würde sie das schützen!"
Mein Herz rast und ich kann nicht mehr ruhig sitzen. Die Bilder aus dem Fernseher schießen durch meinen Kopf. Verzweifelt schlage ich vor: „Wir müssen sie ins Ministerium bringen."
Aber Mr. Warden schüttelt nur mit dem Kopf. „Das Ministerium wird als nächstes fallen. Die Gesichtslosen sind unaufhaltsam. Werden immer mächtiger. Wir haben keine Chance."
„Aber Askyell", setze ich an. Es muss einen Weg geben. Wir sind doch nicht aus diesem Decksloch von Bibliothek entkommen, nur um uns danach geschlagen zu geben!
„Wir hätten ihn töten sollen, als wir es noch konnten." Ich zucke bei der Stimme von Lady Chastain zusammen. Ich habe keine Ahnung, seit wann sie dort neben der Tür steht. Mustere sie ängstlich. Bleibe an ihren Augen hängen. Der ausdruckslose Blick ist einer ungewohnten Klarheit gewichen.
Colette starrt sie fassungslos an, während Mr. Warden weiter ungerührt in seinem Essen herumstochert. Und erst dann scheint mein Kopf ihre Worte verarbeitet zu haben. Meine Gedanken rauschen, während Lord Gão antwortet. „Aber wir haben es nicht."
„Bitte was?", zischt Colette.
„Wovon sprecht ihr?", fragt Ms. Gão mit rauer Stimme. Ich will die Antwort gar nicht hören. Dieses ständige hin und her und all die Geheimnisse werden mir einfach zu viel. Ich stehe ruckartig auf, will nur noch verschwinden, doch Lady Chastain hält mich am Arm zurück.
„Geh nicht.", flüstert sie. Ihre Stimme ist leise, aber in ihren Augen lodert die Entschlossenheit. „Keine Geheimnisse mehr. Entscheide selbst. Mach dir ein eigenes Bild." Sie mustert mich eindringlich. Ich schlucke, zittere, kann meinen Blick nicht von ihr abwenden.
Und dann höre ich mich sagen: „Einverstanden." Und mit einer einfachen Handbewegung, dem kurzen aufflammen von Mana reise ich zurück in ihre Erinnerungen. Hin an den Tag an dem Askyell geboren wurde.
Mir fehlt die Luft zum Atmen.
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Es ist mitten in der Nacht. Und so verdammt kalt. Die Schreie meiner Tochter hallen schon lange nicht mehr durch die Flure. Sie ist mittlerweile viel zu schwach. Ich drücke die Zigarette auf der gusseisernen Brüstung des kleinen französischen Balkons aus. Streiche mir das klamme Haare aus dem Gesicht und schreite an den aufgeschreckten Angestellten vorbei. Berggren tobt. Sein Arbeitszimmer liegt in Trümmern. Ich habe seine perfekte Fassade noch nie fallen sehen. Wie erbärmlich.
Mit hocherhobenem Haupt öffne ich die Tür und lächle meine geliebte Tochter an. Ihr blondes Haar klebt auf der von Schweiß getränkten Stirn. Liebvolle schließe ich ihre bleiche Hand in meine, fahre mit den Daumen über den Handrücken und rede ihr gut zu. Werfe einen scharfen Blick zu der Hebamme. „Wie lange dauert das noch?" Sie zuckt unter meinem messerscharfen Ton zusammen. Ist kaum älter als Anfang Zwanzig. Ihr weißes, unbeflecktes Kleid ist wie eine Ohrfeige.
„Der Arzt sagt", beginnt sie, doch ich falle ihr ins Wort.
„Mich interessiert nicht, was der Arzt sagt! Ich will wissen, was sie denken." Ich bin kurz davor den Jungen eigenhändig aus meiner Tochter zu holen.
„Ich weiß es nicht", flüstert das junge Ding, „Lady Berggren hat einen Kaiserschnitt beharrlich abgelehnt."
„Das weiß ich selbst!", unterbreche ich sie. Meine Augen fixieren wieder das blasse Gesicht meiner Tochter. Die Wangen sind stark eingefallen. Das Fieber wird langsam, aber stetig durch eine drückende Kälte abgelöst. Und dennoch verfliegt die Sturheit in ihren Augen nicht.
Plötzlich knallt die Tür gegen die Wand. Reißt das Holz aus den Angeln. Berggrens Gesicht ist nur noch ein Schatten seiner einst so eleganten Erscheinung. Jeder seiner Schritte ist wankend und die ersten Tränen laufen über seine Wangen. Er fällt schluchzend vor dem Bett auf die Knie. Und da erkenne ich es. „Nein." Dieses einfache Wort entwischt mir, während ich die Hand meiner Tochter drücke. Versuche sie festzuhalten, während ihre Schultern immer stärker beben. Er ist tot. Dieses kleine Wunder. All die Hoffnung, die Liebe.
Und dann kommt er. Stumm gebärt meine Tochter. Nicht ein Stöhnen entfährt ihren zitternden Lippen. Endlich färbt sich die Schürze der Hebamme. Berggren spricht einen Zauber und verschwunden ist das Blut. Da ist nur noch dieser bildschöne kleine Säugling mit den rosa Wangen. Dieser Kranz aus unendlich langen Wimpern. Die kleine Nase, der leicht geöffnete Mund. Aber kein Schrei. „Gib ihn mir!", fordert meine Tochter. „Ich will ihn halten." Woher nimmt sie die Kraft?
Ohne Widerworte bettet Berggren das kleine Bündel in ihren Armen. Er lässt einen Teil seiner Magie in ihren Körper fließen. Lässt sie zu Kräften kommen. Endlich nimmt sie sein Mana wieder an. Leise summt sie für das Kind, während sich die Hebamme kommentarlos zurückzieht. Schlaues Ding. Auch der Arzt verlässt fluchtartig das Haus. Jeder spürt diese allesverschlingende Wut in dem Großmagier.
Während meine Tochter den Säugling mit Küssen überhäuft, erfüllt die Augen des Großmagiers nur noch eine eisige Kälte. Wir wissen beide, dass nicht nur das Kind gestorben ist. Meine Tochter gleicht einer leeren Hülle. Mit einer einzigen, geschickten Bewegung entführt Lord Berggren den Körper aus ihren Armen. Sie lässt es kommentarlos geschehen. Nur ihre Augen wandern suchend umher, während der Rest in sich zusammensackt. Der Großmagier verlässt mit großen Schritten das Zimmer. Ich wage es nicht ihn zu fragen, was er vorhat. Viel zu sehr fürchte ich mich vor der Antwort.
Wie in einem Zeitraffer vergehen drei Tage. Drei Tage in denen kein Wort im Haus des Großmagiers gesprochen wird. Drei Tage in denen meine Tochter nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Drei Tage der absoluten Stille, die nicht einmal vom Zwitschern der Vögel unterbrochen wird. Die Welt ist stumm in Anbetracht des Schreckens, der in den Katakomben des Hauses wütet. Dieses Magiespiel, welches an meinen Kräften zerrt, als würde es das Leben aus einem saugen.
Und dann erklingt ein Schrei. Markerschütternd. Mein Herz zerfetzt. Und in die Augen meiner Tochter tritt das Leben. Niemand stellt Fragen, während der Großmagier mit ausdrucksloser Miene durch die Flure schreitet. In seinen Armen hält er ein kleines, sich windendes Bündel. Der Säugling lebt. Das gesamte Anwesen ist von seinem Herzschlag erfüllt. Es ist ein Wunder. Ein grausamer Traum, der einen viel zu hohen Preis verlangt. Ich rieche den Gestand der dunklen Magie, der an ihm haftet. Sehe die Veränderung in Lord Berggren. Er gab seine eigene Seele für das Leben seines Kindes. Für ein beflecktes Leben. Ich sollte es hier und jetzt beenden. Doch beim Anblick des Lächelns meiner Tochter, das Glimmen ihrer Augen – da ist mir alles egal. Und ich beschließe nie wieder einen Gedanken daran zu verschwenden, welcher Umstand den Säugling zurückgeholt hat. Ihn zu lieben. Möge er auch die Welt zugrunde richten.
Ich werde dich beschützen.
So, Kapitel 40 ist geschafft :) Und das Ende rückt immer näher. Ich denke mal, dass es ca. 45-50 Kapitel insgesamt werden. Aber eine andere Geschichte steht auch schon in den Startlöchern und wartet nur darauf, dass M&T zum Ende kommt.
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